Rezeptive und produktive Nutzung des Mediums Fotografie in der Politischen Bildung

Edwin Stiller[1]

Inhalt

1. Die medienpädagogischen Chancen der Fotografie
2. Zum medienspezifischen Charakter der Fotografie
3. Grundzüge einer visuellen Soziologie
4. Fachdidaktische und fachmethodische Aspekte
5. Der Aufbau medienpädagogischer Kompetenz im Politikunterricht der Jahrgangsstufe 5
6. Die Vertiefung medienpädagogischer Kompetenz im Fach
7. Abbildungen
8. Anmerkungen
9. Literatur

Die Fotografie ist wieder zu einem bedeutsamen Medium von Jugendlichen geworden. Über Fotohandys wird der neue Freund begutachtet, der geplante Kauf abgesprochen, die Urlaubspostkarte selbst erstellt. Die "Beweisfunktion" der Fotografie feiert neue Feste. Auf der anderen Seite wissen digital geschulte Jugendliche um die Manipulierbarkeit von Daten und sie morphen und stylen die Wirklichkeit nach ihren Vorstellungen. An dieser Ambivalenz kann die Politische Bildung anknüpfen.

1. Die medienpädagogischen Chancen der Fotografie

Die Fotografie ist das ideale Basismedium für visuelle Alphabetisierung. Es trägt alle strukturellen Probleme des Verhältnisses von Medien und Wirklichkeit in sich, ist aber nicht so komplex wie das Medium Film. Der Film erschwert die analytische Durchdringung durch das Hinzufügen von Elementen im visuellen Bereich: Bewegung und einer großen Anzahl von Bildern sowie im auditiven Bereich:

Geräusch, Wort, und Musik. Dieses Mehr ist für die Entwicklung von visueller Alphabetisierung ein Weniger[2] -das Unbewegte und Stille ist eine Chance für die Analyse.

Durch die neuen Möglichkeiten der Digitaltechnik, kann jeder Empfänger zum Sender werden und somit durch den produktiven Einsatz des Mediums zu einem vertieften analytischen Verständnis und somit zu bewussteren Gestaltungsmöglichkeiten gelangen. Dass dies schon im Politikunterricht der Klasse 5 geschehen kann, soll im weiteren Verlauf dieses Beitrages gezeigt werden. Im Fach Sozialwissenschaften in der gymnasialen Oberstufe kann dann unter eher wissenschaftspropädeutischen Gesichtspunkten das Medium für visuelle Untersuchungsarbeit genutzt werden - auch dies wird an Beispielen aufgezeigt.

2. Zum medienspezifischen Charakter der Fotografie

"Fotografieren heißt für mich, einen Moment für die Ewigkeit einfrieren. Dieser Moment soll der Person gerecht werden. Das heißt nicht, dass ich Realität abbilde, aber meine Bilder sind real." (Norman Jean Roy, Fotograf)

Jedes Medium hat seinen eigenen medienspezifischer Charakter, der die konstitutiven Bedingungen der Arbeit mit dem Medium ausmacht.

Die Fotografie ist ein

  • technisch
  • hergestellter
  • zweidimensionaler
  • räumlicher und
  • zeitlicher Ausschnitt der Wirklichkeit.

Fotografieren bedeutet zunächst ein Bild der Wirklichkeit mit technischen Mitteln zu konstruieren. Zu diesen technischen Mitteln zählen z.B.: Filmtyp(SIW, Farbe, Empfindlichkeit) / Kamera / Objektiv (Brennweite) / Blendenwahl (Tiefenschärfe),[/S.10:] Perspektive / Dunkelkammertechnik bzw. digitale Bildbearbeitung und damit verbundene manipulative Möglichkeiten (Montage, Retouche…).

Diese Möglichkeiten bestimmen den technischen Herstellungsprozess, der sowohl zum Zeitpunkt der Aufnahme, wie auch zum Zeitpunkt der Entwicklung und Vergrößerung bzw. dem digitalen Äquivalent, technischen Konstruktionsbedingungen und vielfältigen technischen Variationsmöglichkeiten unterliegt.

Die manipulativen Möglichkeiten sind seit Erfindung der Fotografie immer wieder politisch genutzt und missbraucht worden (vgl. Fritzsche 1996) und die Möglichkeiten des Missbrauchs haben sich durch die digitalen Bildbearbeitungsverfahren deutlich erhöht.

Diese technischen Möglichkeiten erlauben es aber auch, ein vollständigeres und präziseres Bild der Wirklichkeit zu konstruieren als es die menschliche Wahrnehmung ermöglicht. Die Kamera sieht mehr als das Auge! Das haben sich die vielfältigen Formen des wissenschaftlichen Einsatzes der Fotografie zu nutze gemacht. Die Filme "Blow up" und "Das Fenster zum Hof" oder zuletzt "One Hour Photo" thematisieren dies auf künstlerische Art und Weise. Erst durch die mehrmalige und intensive Betrachtung des Fotos wird die Wahrnehmung um einen wesentlichen und entscheidenden Aspekt ergänzt. Die Filme symbolisieren aber auch die Rolle des Zufalls im fotografischen Prozess. Es gerät etwas ins Bild, dessen Relevanz und Bedeutung erst später erkannt wird.

Das Medium bewegt sich also zwischen "Authentizität, Inszenierung und Zufall"[3]. Weitere Aspekte der Herstellung müssen bedacht werden: Der Fotograf ist Produzent, Konstrukteur von Wirklichkeit. Sein Selbstverständnis kann das eines Künstlers, Handwerkers oder Bildreporters sein; dementsprechend sein Stil: z.B. subjektiv, neu-sachlich oder sozial-dokumentarisch. Er kann im streng definierten Auftrag einer Bildagentur arbeiten oder selbst bestimmt sein Bild der Welt festhalten. In diesem Sinne leistet die Fotografie neben der technischen eine soziale Konstruktion der Wirklichkeit.

Von zentraler Bedeutung ist der Ausschnittcharakter des Mediums: Raumkontext und Zeitkontext werden ausgespart, damit verweist jedes Bild auch auf das, was nicht abgebildet ist. Der Ausschnittcharakter ermöglicht es, Wahrnehmungen zu fokussieren und dadurch Erscheinungen erst ins Bewusstsein zu rücken. Dies gilt sowohl für die Fokussierung des Alltäglichen, wie auch für die Hervorhebung des Besonderen.

Schließlich gilt es den Präsentationskontext zu beachten, die Bedeutungszuschreibung durch den Medienkontext (wie oben im Schulbuch), Wort-Bild-Kombinationen (Kontrast, Verdoppelung, Beweischarakter …) oder Bild-Bild-Kombinationen schränken die Vieldeutigkeit ein. Der Konflikt um die Wehrmachtsausstellung hat gezeigt, dass 9 (von 1400) falsche Bildunterschriften genügen, um den dokumentarischen Wert des gesamten Bildmaterials infrage stellen können[4]. Um es zusammenzufassen: Die Fotografie ist nicht objektiv, gilt aber als objektiv. Der Ausschnittcharakter des Mediums bewirkt die Vieldeutigkeit der fotografischen Botschaft!

Der technische Herstellungsprozess bewirkt den Nimbus des Dokumentarischen. Die "physische Faktizität" (Kracauer) muss genauso wie die subjektive Intention des Fotografen sowie die Bedeutungseinengung durch den Präsentationskontext betrachtet werden. Schließlich ist der Betrachter ein aktiver Rezipient, der sich selbst ein eigenes Bild macht. Seine Medienkompetenz zu stärken ist notwendig.

3. Grundzüge einer visuellen Soziologie

Menschen erleben die Lebenswelt multimodal, multicodal und multimedial. Der wissenschaftliche Zugriff auf diese Lebenswelt geschieht aber überwiegend sprach- und textbezogen. Feldmann[5] weist darauf hin, dass die Soziologie eine weitgehend bilderfeindliche Wissenschaft ist, wenn man von sprachlichen Bildern absieht. Die amerikanische Soziologie ist bildfreundlicher angelegt. So ist es kein Zufall, dass der einzige Beitrag zur Fotografie im Handbuch Qualitative Forschung von einem amerikanischen Autor stammt. [6] Für Douglas Harper sind Fotografien sozialwissenschaftliche Daten, die, technisch und sozial konstruiert, in der qualitativen Sozialforschung systematisch genutzt werden können. Es gibt bis jetzt aber nur wenige bekannte Sozialwissenschaftler, die fotografische Daten nutzen. Pierre Bourdieu hat bereits in den 50er Jahren bei seinen Feldforschungsarbeiten in Algerien das Medium Fotografie zur Do-[/S.11:]kumentation seiner teilnehmenden Beobachtung eingesetzt.[7] Später hat Bourdieu sich auch medientheoretisch mit der Fotografie auseinandergesetzt. [8] Im deutschsprachigen Raum ist z.B. Roland Günter zu erwähnen, der sich medientheoretisch und mediengeschichtlich mit sozialdokumentarischer Fotografie auseinandersetzt, der aber auch selbst das Medium für die sozialwissenschaftliche Analyse z.B. der Kommunikationsstrukturen in Bergarbeitersiedlungen einsetzt hat. [9] In einem der wenigen soziologischen Bildbände, in dem Fotografie konstitutives Element ist und nicht schmückendes Beiwerk, hat Ulrich Beck die Fotografien von Timm Rautert genutzt, um quasi ethnologisch die Vielfalt sozialer Lagen und Milieus bildlich zu repräsentieren. [10] Die Fotografie ermöglicht es, die visuellen Anteile der Kultur, die Spuren des kulturellen Lebens in sozialwissenschaftlich bedeutsamen Kontexten festzuhalten. Wobei es gerade auch die Vieldeutigkeit des Mediums ist, die zur Generierung von Hypothesen genutzt werden kann.

Vor allem die sozialwissenschaftliche Jugendforschung hat sich dieses qualitativen Zugriffs bedient. Jugendstudien ohne Fotografien sind kaum noch vorstellbar. Die visuelle Ebene des Alltags muss einbezogen werden, um dem ganzheitlichen Aspekt des Habitus von Kindern und Jugendlichen gerecht werden zu können. "In dem Maße wie die alltägliche Lebenswelt für das Verständnis pädagogischer Prozesse an Bedeutung gewinnt, lohnt es sich, auch die Fotografie als eine Quelle der qualitativen erziehungswissenschaftllchen Forschung neben anderen Zugängen zu nutzen. An einem Beispiel aus der Kindheitsforschung lässt sich der Gewinn fotografischer Methoden erläutern: In einem Projekt zur Lebenswelt von12jährigen Kindern, wurden Jungen und Mädchen (und ihre Eltern) auch nach der Nutzung ihrer Kinderzimmer befragt, ohne dass die narrativen Interviews große Unterschiede zwischen den Geschlechtern ergeben hätten. Ein Vergleich unterschiedlicher Fotos von Kinderzimmern lässt hingegen eine geschlechtsspezffische Kinderkultur augenfällig werden: Auf Kinderzimmerfotos von 12jährigen Jungen finden sich beispielsweise Poster von Sportautos oder Bilder von Rambo gestalten, während gleichaltrige Mädchen eher Tierposter aufhängen und ihre Plüschtiersammlung für die Kamera inszenieren." [11] Die Fotografie kann in solchen Prozessen qualitativer Forschung unterschiedlich genutzt werden:

  • Als historische Bildquelle
  • Als vom Forscher erstelltes Dokument
  • Als vom Untersuchten eingebrachtes oder für die Untersuchung von ihm/ihr erstelltes Dokument
  • Als unterstützendes Mittel in der Befragung

Die Fotografie kann also immer dann genutzt werden, wenn visuell erfassbares, sichtbar Objektiviertes mit dem Medium Fotografie gespeichert werden kann. Inzwischen liegen auch unterschiedliche sozialwissenschaftliche Analyseverfahren vor, die für die Bildinterpretation genutzt werden können.[12]

Ulrike Mietzner und Ulrike Pilarczyk [13] haben ein Analyseverfahren vorgestellt, welches stärker als bisherige eher kunsthistorisch orientierte Verfahren den medienspezifischen Charakter der Fotografie sowie die Nutzung für erziehungs- und sozialwissenschaftliche Kontexte berücksichtigt. Sie schlagen folgende Untersuchungsschritte vor:

  • Erfassung aller Bilddetails - z.B. Raumordnung, Beleuchtung, Körpersprache.
  • Beschreibung und Interpretation - Nutzung aller Informationen über die Fotografie, z. B. Funktion, Verwendung, Rezeption, Typengeschichte, Vergleich mit anderen, thematisch verwandten Fotografien. Erste Interpretation der intendierten Bildbedeutung und der evtl. nicht-intendierten Bildbedeutung.
  • Nutzung von Kontextwissen, Bildaufbau, Widersprüchen und Eigenarten der Fotografie, Rolle des Fotografen, der Abgebildeten, Form und Inhalt zur Interpretation der ‚eigentlichen' Bedeutung und damit zur hermeneutischen Gesamtinterpretation

4. Fachdidaktische und fachmethodische Aspekte

Dieter Baacke[14] hat die Dimensionen der Medienkompetenz - als Bestandteil allgemeiner Bildung im Medienzeitalter - bestimmt als Kompetenz zur Medienkunde, zur Medienkritik, zur Mediennutzung und zur Mediengestaltung. Unter der speziellen Perspektive der Arbeit mit dem Medium Fotografie in der Politischen Bildung geht es also zunächst um Fotokunde. Der medienspezifische Charakter der Fotografie, die technischen Möglichkeiten des Mediums, die speziellen Inszenierungstechniken[15], der Ausschnittcharakter der Fotografie, das Verhältnis von Bild und Kontext - all dies sollte möglichst in Verbindung mit fotopraktischer Tätigkeit vermittelt werden.

In der medienkritischen Dimension kann dann analytisch-kritisch das Verhältnis von Fotografie und gesellschaftlicher Wirklichkeit beispielhaft untersucht werden und die Zusammenhänge zwischen Bilderwelt und Weltbildern z.B. im Bereich der Werbefotografie oder der Wahlkampfwerbung untersucht werden.

Der rezeptive Umgang mit Fotografie, die Kompetenz zur Mediennutzung, kann in der Politischen Bildung sehr vielfältig erfolgen. Die Nutzung der Fotosprache als Mittler im politischen Willensbildungsprozess kann über die ideo-[/S.12:]logiekritische Dimension hinaus sehr kreativ und interaktiv genutzt werden und auch biografische und interaktive, speziell interkulturelle Lernprozesse fördern. [16]

Die konkrete Kompetenz zur Mediengestaltung führt zur fotopraktischen Arbeit. Ob klassisch-analog oder modern-digital - das Medium Fotografie bietet als Basismedium optimale Bedingungen zur sozialdokumentarischen[17] oder biografischkreativen Fotoproduktion.

Franz-Josef Röll hat gerade auf die identitätsstiftenden Funktionen der praktischen Fotoarbeit aufmerksam gemacht: Fotografieren heißt: Ich beobachte, ich beharre, ich kommuniziere, ich konsumiere, ich ordne, ich begrenze, ich generiere Welten, ich verändere meinen Standpunkt, ich bin.[18]

5. Der Aufbau medienpädagogischer Kompetenz im Politikunterricht der Jahrgangsstufe 5

Erfahrungen mit der Methode der Fotoevaluation haben gezeigt, dass Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 5 und 6 durchaus in der Lage sind, das Medium Fotografie als sozialwissenschaftliches Analyseinstrument zur Erkundung ihres Lern- und Lebensraumes einzusetzen:[19] "Wenn sich die Schülerinnen aber fotografierend, diskutierend und reflektierend ‚im Dschungel der Gefühle' durchs Schulhaus pirschen, ist diese fein säuberliche Trennung zwischen (Über-)Lebensfragen und Lernfragen ansatzweise aufgehoben. Sie versuchen das Unbekannte im Bekannten zu wittern und nachzuspüren, wo Zusammenhänge zwischen ihrer Schul- und Gefühlswelt liegen: auf ihre eigene Bewertung kommt es an, wie sie sich fühlen, zählt."[20] Aber neben dieser "weichen" Ebene der Atmosphäre kann die Fotografie auch die "harte" Wirklichkeit der baulichen Gegebenheiten aufdecken und Ansatzpunkte für eine Veränderung der Lernverhältnisse liefern. "Das Sichtbarmachen des Unsichtbaren hat starken Aufforderungscharakter: Fotos bringen Menschen zum Sprechen, verleiten sie dazu, in das Kontinuum der anderen einzutauchen. (…) In dieser Hinsicht ist die Fotografie ein zukunftsweisendes Medium, vor allem wenn es von den Schülerinnen genutzt wird."[21]X

Hier wurde die Fotografie in einem fächerübergreifenden Projekt eingesetzt und für Schulentwicklungsprozesse nutzbar gemacht. Die Art und Weise, wie mit dem Medium gearbeitet wurde, ist aber genuin sozialwissenschaftlich. Also ist der ideale Ort, in dem sozialwissenschaftliche Medienkompetenz aufgebaut werden kann der sozialwissenschaftliche Unterricht, der je nach Bundesland in der Sekundarstufe 1 Sozialkunde oder Politikunterricht genannt wird.

Für das Schulbuch Team[22] für den Politik-Unterricht in den Klassen 5 und 6 habe ich ein Kapitel "Umgang mit Medien - Wir machen uns fit" gestaltet. Ausgangspunkt ist das Medium Fotografie, es folgen Auseinandersetzungen mit dem Fernsehen und dem Internet.

Die Schülerinnen und Schüler werden zunächst mit zwei Varianten einer Fotogeschichte konfrontiert.

Die Farbversion, die hier aus drucktechnischen Gründen nicht wiedergegeben werden kann, enthält eine andere Bildreihenfolge (Abb. 3,2,1), zudem ist das Foto 3 in doppelter und das Foto 1 in halbierter Größe abgedruckt; der Text ist ebenfalls verändert.[23]Die Schülerinnen und Schüler können so an einem altergemäßen Einstiegsbeispiel selbstständig analysieren, welche Wirkungen von einer Fotofolge und begleitendem Text ausgehen können, welche Rolle Farbe bzw. Schwarz-Weiß-Abbildungen spielen, welche Rolle Bildgröße und Bildreihenfolge spielen können. Hieran schließen sich ein lnformationstext zum medienspezifischen Charakter der Fotografie (Zeitlicher und räumlicher Ausschnitt, Bildgestaltung, Perspektive, Retouche, Montage) an, der ein aufschlussreiches Bildbeispiel enthält.

Vertieft wird diese Sachinformation durch die Beschreibung der neuen Möglichkeiten digitaler Fototechnik (Speicherung, Bearbeitung, Morphing, virtuelle Welten). Den Schülerinnen und Schülern werden dann auf einer Trainingsseite sechs unterschiedliche Fotografien einer Schule präsentiert, aus denen sie entweder für einen Schulprospekt oder einen Beschwerdebrief an den Schulausschuss geeignete Bilder auswählen und mit einem Text versehen sollen.

Im Anschlusskapitel wird angeregt, eine Fotoreportage zum Thema Umweltschutz an der eigenen Schule zu machen.

Auf diese Weise wird eine rezeptive und produktive Weise Methodenkompetenz grundgelegt, auf der in den folgenden Jahrgangsstufen aufgebaut werden kann.[/S.13:]

Oder war es so ???

Fotografie Stiller Tabelle 1 Bild 1
1
Tina war gerade aufgewacht und ging noch etwas benommen ins Esszimmer. Der Frühstückstisch war verlassen. Wo waren Gitte und Tobi? Keiner hatte ihr Bescheid gesagt.
Fotografie Stiller Tabelle 1 Bild 2
2
Im Haus war es gespenstisch ruhig. Was war denn nur los? Sie hastete die Treppe hinauf und nahm dabei mehrere Stufen auf einmal
Fotografie Stiller Tabelle 1 Bild 3
3
Um Himmels Willen! Was war mit ihrer Lieblingspuppe passiert? Die hatte sie doch von ihrer Großmutter zur Kommunion geschenkt bekommen. Und jetzt das!!!
Fotos: E. Stiller

6. Die Vertiefung medienpädagogischer Kompetenz im Fach Sozialwissenschaften der gymnasialen Oberstufe

In dem neuen Arbeitsbuch "Dialog SoWi"24[24] für die gymnasiale Oberstufe wird versucht, das Medium Fotografie auf vielfältige Weise rezertiv und produktiv zu nutzen, um exemplarisch Medienkompetenz zu vermitteln.[25][/S.14:]

Medien und Methoden werden fachlich integriert nach einem systematischen sozialwissenschaftlichen Methodencurriculum eingebunden.[26]

M1 Wir sind gleich groß. Oder?

Vor allem im Kapitel "Eigenes Leben - ldentitätsfindung heute"[27] werden die vielen Seiten der Fotografie genutzt. Auf der Aufmacherseite und im Einstiegsteil werden kreative Produktionsaufgaben und Bildassoziationen genutzt, um einen persönlichen Zugang zum Thema zu schaffen. Auf einer Schulbuchseite werden acht sehr unterschiedliche Jugendfotos aus der Fotobox "Toleranzbilder" [28]abgedruckt und mit folgenden Arbeitsaufgaben versehen: "1. Welches Bild versinnbildlicht für Sie Jugendlichsein heute? 2. Welche Bilder vermissen Sie? 3. Welche Fragen und Thesen ergeben sich für die weitere Arbeit?"[29] Die o.g. Fotobox enthält insgesamt achtzehn Fotos zur Thematik Jugend, alle aus dem Stern-Bildarchiv. Sie können mit sehr aktivierenden methodischen Arrangements verbunden werden und die Bildauswahl der Oberstufenschülerinnen und -schüler verdeutlicht sehr prägnant, welche Bilder von Jugend in der Kursgruppe vertreten sind. Hieran lässt sich sehr gut die Generierung von Thesen für die weitere Arbeit anknüpfen. Vertiefend könnte hier ein Projekt zur Jugendfotografie angeknüpft werden. Als Bildgrundlage kann hier der neue Bildband "Fotofieber"[30] dienen, in dem die 40jährige Geschichte des deutschen Jugendfotopreis dokumentiert wird. Ähnlich wie in dem wissenschaftlichen Projekt von Ulrike Pilarczik kann ein Kurs Sozialwissenschaften das Fotomaterial daraufhin untersuchen, inwieweit sich in den Wettbewerbfotos der soziale Wandel der Jugendphase widerspiegelt. Hilfreich ist unter wissenschaftspropädeutischen Gesichtspunkten der Jubiläumsband zur Shell-Jugendstudie[31], der einerseits die Geschichte der Jugendforschung in Deutschland nachzeichnet und andererseits eine Fülle von Fotografien zur Jugendphase im sozialen Wandel enthält.

Im Grundlagen-Teil werden zunächst die methodischen Möglichkeiten quantitativer und qualitativer Sozialforschung vorgestellt. Zwei biografische Portraits aus der Shell-Studie 2000 werden auszugsweise abgedruckt und durch quantitative Daten ergänzt. Dabei konnte leider nicht auf das Original-Bildmaterial zurückgegriffen werden, da die Portraitierten ihre Zustimmung nur für die Original-Veröffentlichung gegeben hatten.

Im Kapitel Aktion werden dann methodische Varianten skizziert, wie die Fotografie als Befragungsmedium bzw. als kreatives Gestaltungsmedium für den biografischen Selbstausdruck genutzt werden kann. Abschließend wird der medienspezifische Charakter der Fotografie in einem lnformationstext vorgestellt sowie sozialwissenschaftliche Einsatzmöglichkeiten vorgestellt.

Im Band 2[32] werden die Schülerinnen und Schüler in unterschiedlichen thematischen Kontexten angeregt, die Bildberichterstattung der Medien zu Fragen der Globalisierung[33], zum Nahost-Konflikt[34] zu recherchieren, zu dokumentieren und zu analysieren. Auf den Seiten 441 bis 443 werden exemplarisch kontrastiv Fotografien aus der Nahost-Berichterstattung zu Analysezwecken dokumentiert.

Im Kapitel zum Thema "Lebensgestaltung im 21. Jahrhundert - Grenzenlose Freiheit und Gleichheit?!" wird sozialer Wandel über Familien-Portraitfotos[35] anschaulich, die der Fotograf Bernd Lasdin vor und einige Jahre nach dem Mauerfall in Neubrandenburg gemacht hat. Im Anschluss daran werden die Lernenden aufgefordert, für freie Bildrahmen historisch oder aktuell vergleichbare Portraits, in zeitlichem Abstand erstellt worden sind, zu suchen. Im Aktionsteil dieses Kapitels wird ein Fotoprojekt skizziert: Lebensbedingungen, Lebensstile und Lebensformen sollen fotografisch dokumentiert werden: "Gerade das Medium Fotografie bietet Ihnen, wie Sie im Verlaufe dieses Kapitels gesehen haben, viele Möglichkeiten zur Dokumentation und zur Aufdeckung der sozialen Wirklichkeit und damit zur Erfassung der Pluralität der heutigen Lebensformen sowie der Darstellung der unterschiedlichen, teilweise prekären Lebensbedingungen in unserer Gesellschaft. Deshalb bietet es sich für Sie im Kurs oder in Zusammenarbeit mit dem Fach Kunst an, die sozialen Lebensbedingungen, Lebensformen und Lebensstile in Ihrer Region oder auch im Kontext von Studienfahrten mit dem Medium Fotogra-[/S.15:]fie zu erforschen und zu dokumentieren. Mit den Ergebnissen können Sie eine Ausstellung in der Schule gestalten oder einen Bericht für die Homepage der Online-Schülerzeitung gestalten. Dabei ist es wichtig, dass Sie die medienspezifischen Besonderheiten der Fotografie beachten, da bekanntlich "Bilder auch lügen" können. Die notwendigen Hinweise zum Medium Fotografie finden Sie in Dialog SoWi Bd. 1, S. 78, oder unter www.dialog-sowi.de[36]

M2

Foto: www.asg-marl.de/Albert(Bild aus der Fotoreportage über die Berlinfahrt des LK SW)

7. Abbildungen

Abb. 1: Abbildung 1
Abb. 2: Abbildung 2
Abb. 3: Abbildung 3
Mat. 1: Material 1: Wir sind gleich groß, oder?
Mat. 2: Material 2

8. Anmerkungen

1) Leicht gekürzte Fassung des Beitrages zu: Holzbrecher, Alfred (Hrsg.); Bildungsmedium Digital-Fotografie, Opladen: Leske 2004

2) vgl. Metz 2003, S.216 ff.

3) Mietzner/Pilarcyk 2000

4) vgl. Medicus 2000

5) vgl. Feldmann 2003

6) vgl. Harper 2003

7) Bourdieu 2001

8) vgl. Bourdieu 1983

9) Günter 1977

10) vgl. Beck 1995

11) Fuhs, 1997, S. 266f.

12) vgl. Mietzner/Pilarczyk 2003, Fuhs 2003, Beck 2003

13) vgl. Mietzner/Pilarczyk 2001,2003

14) vgl. Baacke 1999

15) vgl. Schicha 2002

16) vgl. Schröer/Nazarkiewicz 1998

17) als exemplarisches Beispiel sei hier auf die Methode Fotoevaluation verwiesen, siehe: BMUK 1999

18) Röll o.J.

19) vgl. Schratz 1996 und BMUK 2000

20) Schratz S. 78

21) ebd., S. 81f.

22) Mattes 2002

23) War es so? Tina war gerade wach geworden. Das Gezwitscher der Vögel hatte sie geweckt. Sie räkelte sich in ihrem Bett. "Schlaf weiter', sagte sie zu ihrer Lieblingspuppe. Die hatte früher schon ihrer Großmutter gehört. Kaffeeduft und der Geruch von frischen Brötchen zogen durch das Haus. Tobi und Gitte warteten bestimmt schon auf sie. Sie hörte Stimmen im Haus. Jetzt aber schnell runter. Die Sonne lachte. Fröhlich nahm sie mehrere Stufen auf einmal. Die anderen hatten das Frühstück schon vorbereitet Der Tisch war wunderschön gedeckt. Nun konnte es losgehen. "Das wird bestimmt ein schöner Tag", dachte Tina.

24) Vgl. Stiller 2002/2003

25) darüber hinaus werden Filmanalyse und produktive und rezeptive Nutzung des Internet thematisiert

26) vgl. Stiller 2001/2002

27) Band 1, S. 21-80

28) vgI. Schroer/Nazarkiewicz 1998

29) Stiller 2002, S. 23

30) vgl. Grebe u.a. 2003

31) vgl. Shell Deutschland 2002

32) Stiller 2003

33) ebd., S. 219

34) ebd. S.442ff.

35) ebd., S. 290

36) ebd., S. 338

9. Literatur

Baacke, Dieter (1999): Medienkompetenz als zentrales Operationsfeld von Projekten, in: Baacke, D. u.a. (Hrsg.); Handbuch Medien: Medienkompetenz. Modelle und Projekte. Bonn: BZpB, S. 31-35.

Beck, Ulrich u.a. (1995): Eigenes Leben. Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben, München: Beck.

BMW AG und Stadtjugendamt München (Hrsg.) (1996): Bilder von Jugend - Katalog. München.

Bourdieu, Pierre; Boltanski, Luc u.a. (1983): Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Bourdieu, Pierre im Gespräch mit Franz Schultheis, in: Camera Austria International Nr. 75/2001, S. 8-14

BMUK Bundesministerium für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten (Hrsg.): Q.I.S. - Offene Methoden, Fotoevaluation, www.qis.at, vom 20.10.2000

Feldmann, Klaus: Du sollst dir kein Bildnis machen! (Nicht)Visualisierung in der Soziologie, in: Trans. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Nr. 14/ 2003, online verfügbar unter: www.inst.at/trans/14Nr/feldmann14.htm

Fuhs, Burkhard (1997): Fotografie und qualitative Forschung. Zur Verwendung Fotografischer Quellen in den Erziehungswissenschaften, in: Friebertshäuser, Barbara; Prengel, Annedore (Hrsg.) Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft, Weinheim, München: Juventa, S. 265ff.

Grebe, Stefanie u.a. (Hrsg.) (2003): Fotofieber. 40 Jahre Deutscher Jugendfotopreis, Remscheid.

Günter, Roland (1977): Fotografie als Waffe. Zur Geschichte und Ästhetik der Sozialfotografle, Hamburg: VSA.

Harper, Douglas (2000): Fotografien als sozialwissenschaftliche Daten, in: Flick, U. u.a. (Hrsg.); Qualitative Forschung, Reinbek: Rowohlt, S. 402-415.

Mattes, Wolfgang u.a. (2002): Team. Arbeitsbuch für den Politikunterricht, Bd. 1. Paderborn: Schöningh.

Medicus, Thomas (2000): Abschied von gestern. Was kann aus der "Wehrmachtsausstellung" werden? In: Frankfurter Rundschau vom 4.11.2000.

Metz, Christian (2003): Foto, Fetisch, in: Wolf 2003, S.215-225.

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Röll, Franz-Josef (1996): Fotografie, in: Institut für Bildung und Kultur. (Hrsg.) Gemeinsam erleben. Handreichungen zur interkulturellen Bildungsarbeit, Remscheid o.J., S. 263-285.

Schicha, Christian: lnszenierte Berichterstattung und politische Bildung, in: Medianmanual, online verfügbar unter: http://www.mediamanual.at/mediamanual/themen/pdf/diverse/39_Schicha.pdf

Schroer, Andreas; Nazarkiewicz, Kirsten (1998): Toleranz Bilder. Fotobox für die politische Bildung, Fotobox und Didaktische Anleitung, Gütersloh: Bertelsmann.

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Stiller, Edwin (1976): Photographie in der Schule. Über Bedingungen und Möglichkeiten geplanter Lernprozesse, unveröffentlichte Examensarbeit, Münster.

Stiller, Edwin (2001): Rezeptive und produktive Arbeit mit dem Medium Fotografie im Pädagogikunterricht, in: Gesper, Gunter u.a. (Hrsg.) Methoden im Pädagogikunterricht, Hohengehren: Schneider, S. 160-172

Stiller, Edwin (2001): Zur systematischen Entwicklung von Methodenkompetenz in der Politischen Bildung, in: Politisches Lernen 4/01-1/02, S. 68-76.

Stiller, Edwin (Hrsg.) mit Franz-Josef Bölting, Christel Schrieverhoff, Werner Völlering: Dialog SoWi, Unterrichtswerk für Sozialwissenschaften, Band 1, Bamberg: Buchner 2002, Band 2 Bamberg: Buchner und Schöningh 2003.

Wolf, Herta (Hrsg.) (2002): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt: Suhrkamp.

Wolf, Herta (Hrsg.) (2003): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt: Suhrkamp.

Wünsche, Konrad (1998): Das Foto: Notar und Geständnis, in: Hellekamps, Stephanie. (Hrsg.) Ästhetik und Bildung, Weinheim: DSV, S. 145ff.

Dieser Text ist unter gleichem Titel erschienen in: Politisches Lernen, Jg. 26. 2004. (1-2), 9-15.
© 2004 Edwin Stiller, © 2007 sowi-online e.V., Bielefeld
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