1. Berufsorientierung im Strukturwandel von Arbeit und Beruf

 

Dombois, Rainer (1999): Der schwierige Abschied vom Normalarbeitsverhältnis.

In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Bd. 37, Bonn 1999, S. 13 - 20.

[/S. 13:] In der Bundesrepublik Deutschland beobachten wir seit den achtziger Jahren die Auflösung von Normalitätsmustern der abhängigen Arbeit, die als Erosion des Normalarbeitsverhältnisses bezeichnet wird. Sie drückt sich in einer wachsenden Heterogenität von Beschäftigungsformen und einer Entstandardisierung und Destabilisierung der Erwerbsbiografien aus. Das institutionelle Normengefüge, das sich nach wie vor am herkömmlichen Normalarbeitsverhältnis orientiert, büßt an Regulierungs- und Schutzfunktionen ein; Normalität im Erwerbssystem und die Schutzwirkung rechtlicher Normen fallen immer mehr auseinander, und es setzen sich neue Formen der sozialen Ungleichheit durch.

Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses wird häufig auf die Veränderungen am Arbeitsmarkt - namentlich auf das von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus wachsende Niveau der Arbeitslosigkeit - sowie Politiken der Deregulierung zurückgeführt. Eine solche Erklärung greift aber zu kurz, wenn sie nicht den ökonomischen Strukturwandel einbezieht und auch die gesellschaftlichen Veränderungen berücksichtigt, welche die früheren Normalitätsmuster sprengen und zu gleich die in diesen verborgenen Ungleichheitsstrukturen offen legen.

Arbeitsmarktpolitik kann sich daher kaum mehr an Leitbildern der Vollbeschäftigung und standardisierter Beschäftigungsformen nach dem Vorbild der frühen siebziger Jahre orientieren; es sind Konzepte und Politiken nötig, die Differenzierungen in der Beschäftigung nicht beseitigen, sondern sozial regulieren und absichern und damit zugleich versperrte Zugänge zum Erwerbssystem öffnen.

Im Folgenden werde ich zunächst Charakteristika des Normalarbeitsverhältnisses sowie die Ausdrucksformen und Ursachen seiner Erosion skizzieren und dann einige Ansätze der Neuordnung der Erwerbsarbeit vorstellen und diskutieren.

 

1. Die Ausbildung des Normalarbeitsverhältnisses in der Nachkriegszeit

Die Entwicklung des Beschäftigungssystems in der Nachkriegszeit der Bundesrepublik Deutschland war durch eine einzigartige Konstellation bestimmt. Der schnell wachsende industriell-marktwirtschaftliche Sektor verdrängte die landwirtschaftliche und handwerkliche Kleinproduktion und absorbierte rasch einen großen Teil der Arbeitskräfte des traditionellen Erwerbssektors. Dieser Prozess wurde flankiert und gefördert durch die Entwicklung des Wohlfahrtsstaats. Keynesianische Wirtschaftspolitik, soziale Umverteilung, der Ausbau der sozialen Versorgungs- und Sicherungssysteme trugen ebenso wie die Entwicklung der industriellen Beziehungen zur Vollbeschäftigung und zur Stabilisierung und relativen Angleichung der Einkommen bei (vgl. Lutz 1984, S. 210 ff.). Es war in dieser Hochzeit des Fordismus (Fließbandfertigung), in der eine bestimmte soziale Beschäftigungsform normativ ausgestaltet und perfektioniert wurde und auch empirisch seine größte Verbreitung fand. Es bildete sich die Figur des "Normalarbeitsverhältnisses" heraus, die nicht nur "Bezugspunkt für juristische Ge- und Verbote sowie Rechtsinterpretationen" (Mückenberger 1985, S. 4), sondern auch Orientierungsrahmen für die Erwartungen und Strategien von Arbeitnehmern und Beschäftigern am Arbeitsmarkt wurde.

Für das Normalarbeitsverhältnis können folgende Elemente als konstitutiv angesehen werden:

  • Abhängige Erwerbsarbeit ist die einzige Einkommens- und Versorgungsquelle. Sie wird in Vollzeit verrichtet und verschafft mindestens ein existenzsicherndes Einkommen. Das Arbeitsverhältnis ist unbefristet, im Prinzip auf Dauer angelegt und in ein engmaschiges Netz von rechtlichen und tariflichen Normen eingewoben, [/S. 14:] die Vertragsbedingungen und soziale Sicherungen regeln. Auch die zeitliche Organisation der Arbeit - Länge und Lage der Arbeitszeit - wird standardisiert.
  • Das Arbeitsverhältnis bildet einen mehr oder weniger langen Abschnitt einer kontinuierlichen Erwerbsbiografie, die allenfalls durch kurze Phasen der Arbeitslosigkeit unterbrochen ist. Alter, Beschäftigungsdauer, vor allem aber Betriebszugehörigkeit drücken sich in zunehmenden Statusrechten und -sicherungen aus. Tatsächlich sind Erwerbsverläufe nicht nur durch den Beruf, sondern auch durch strikte Alters- und Senioritätsnormen strukturiert und nehmen die Form von "Normalbiografien" an, die durch karriereförmige Muster der Stabilisierung oder Verbesserung des beruflichen Status charakterisiert werden (vgl. Osterland 1990, S. 351 ff.).

Es ist dieser Typ von Arbeitsverhältnissen und Erwerbsverläufen, der (nach wie vor) im Zentrum der sozialen Schutzregelungen des Arbeits- und Sozialrechts steht und institutionell gestützt und abgesichert wird. Arbeitsrecht und Kollektivvereinbarungen schränken die Vertragsfreiheit ein, was die zeitliche Befristung und Kündigungen angeht und räumen Alter und Seniorität einen hervorragenden Platz als Kriterien für sozialen Schutz ein. Die Ansprüche an die soziale Sicherung - so Arbeitslosenunterstützung, Rente aus der Sozialversicherung und betriebliche Zusatzrente - sind an die vorherige Erwerbsarbeit gebunden und bemessen sich an Erwerbsdauer, Einkommen und eingezahlten Beiträgen. Nur wer in seinem Erwerbsleben kontinuierlich und in Vollzeit arbeitet, kann demnach eine maximale soziale Absicherung erwarten.

Das Normalarbeitsverhältnis wurde gleichermaßen sozialpolitisches Leitbild, praktischer Orientierungsrahmen am Arbeitsmarkt und auch empirisch vorherrschende Beschäftigungsform in der Nachkriegszeit. Es schloss zwar eine Angleichung von bestimmten Beschäftigungsbedingungen ein, bereits in der normativen Konstruktion wurden aber Formen der Ungleichheit festgeschrieben. Dies drückt sich etwa in Schutzfunktionen aus, die direkt oder indirekt an die Betriebsgröße gekoppelt sind und Beschäftigte in Großbetrieben mit etablierten Mitbestimmungsorganen und kompromissförmigen Personalpolitiken privilegieren. Aber auch faktisch waren große Gruppen von Personen von den sozialen Stabilitäts- und Sicherungsversprechen des Normalarbeitsverhältnisses ausgeschlossen. Das Normalarbeitsverhältnis schien zwar universalistische Maßstäbe zu setzen, unterstellte aber eine Normalität von Lebensverhältnissen, die nur für einen Teil der Bevölkerung galt. Frauen etwa waren von den materiellen und sozialen Sicherungen des Normalarbeitsverhältnisses weitgehend ausgeschlossen, weil sie im Rahmen des herkömmlichen Geschlechterarrangements der "männlichen Versorgerehe bzw. Hausfrauenehe" nicht oder nicht voll kontinuierlich erwerbstätig sein konnten oder wollten. Demnach war der Mann durch kontinuierliche Vollzeit-Erwerbsarbeit für das Familieneinkommen und die soziale Sicherung auch der Frau verantwortlich, während die verheiratete Frau zur Versorgung der Familie und im Normalfall nicht zur Lohnarbeit verpflichtet war; sie bedurfte daher auch nicht der umfassenden Schutzrechte aus dem Normalarbeitsverhältnis (vgl. Hinrichs 1996, S. 104 und Pfau-Effinger 1998, S. 167 ff. und Zukunftskommission der Friedrich-Ebert-Stiftung 1998, S. 269 ff.). Insgesamt setzte das traditionelle Familienmodell eine hochgradige Stabilität der Ehen und der Arbeitsteilung zwischen den Ehepartnern, den Verzicht der Frauen auf eine eigenständige Existenzsicherung und ihre Abhängigkeit von den Partnern voraus.

Das Normalarbeitsverhältnis baute so auf Strukturen der sozialen Ungleichheit auf und verfestigte sie. Auch andere Personengruppen - so etwa ausländische Arbeitskräfte, Berufs- und Betriebswechsler - waren dem Risiko ausgesetzt, aus dem Normalarbeitsverhältnis herauszufallen, weil sie nicht kontinuierlich und vollzeitig erwerbstätig sein und nur mindere Ansprüche auf Existenz- und Statussicherung stellen konnten.

 

2. Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses

Seit den achtziger Jahren zeigt sich ein deutlicher Erosionsprozess. In der ersten Hälfte der vorigen Dekade waren erstmals mehr als zwei Millionen Personen als erwerbslos registriert. In den neunziger Jahren sprang die Zahl auf inzwischen über vier Millionen oder mehr als zehn Prozent. [/S. 15:] Bezieht man die Personen, die an Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit teilnehmen, sowie die potenziellen Arbeitnehmer in der "Stillen Reserve" ein, dann ergibt sich im Jahre 1999 ein Beschäftigungsdefizit von etwa sieben Millionen Arbeitsplätzen (vgl. Streeck/ Heinze 1999, S. 38).

Zugleich hat der Anteil von Erwerbsformen, die vom Normalarbeitsverhältnis abweichen, empirisch enorm zugenommen. Die Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen schätzt, dass der Anteil von Personen in "Normarbeitsverhältnissen", d. h. mit unbefristeten Vollzeitverträgen, in Westdeutschland zwischen 1970 und 1995 von fast 84 Prozent auf 68 Prozent aller abhängig Beschäftigten zurückgegangen ist (vgl. Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen 1997, Bd. I, S. 64).

Stark zugenommen hat demnach vor allem die Teilzeitbeschäftigung - von 6 Prozent auf 23 Prozent; sie wird ganz überwiegend von Frauen ausgeübt. Ein Teil dieser Beschäftigungsverhältnisse ist arbeits- und sozialrechtlich voll geschützt; ein anderer, die so genannten "geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse", sind auf einen monatlichen Höchstverdienst von gegenwärtig 630 DM begrenzt und vermitteln in der Regel allenfalls geringfügige Ansprüche auf soziale Sicherung. Bemerkenswert ist die schnelle Ausweitung des Anteils dieser Beschäftigungsform insbesondere in den neunziger Jahren (1). Neben der Teilzeitarbeit bildet die formell befristete Beschäftigung eine zweite große Gruppe "abweichender" abhängiger Erwerbstätigkeit. Sie macht (ohne Ausbildungsverhältnisse) etwa fünf Prozent abhängiger Beschäftigung aus, hat allerdings seit Mitte der achtziger Jahre nur geringfügig zugenommen (vgl. Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen 1997, Bd. I, S. 64 und Bielinski 1997, S. 171 ff.). Schließlich haben sich auch weitere Beschäftigungsformen ausgeweitet, so die Leiharbeit und die öffentlich subventionierte Beschäftigung (ABM-Maßnahmen).

Bei allen statistischen Ungenauigkeiten und widersprüchlichen Interpretationen kann man insgesamt von einer starken Differenzierung der abhängigen Beschäftigung ausgehen. Das "Normarbeitsverhältnis" hat an Verbreitung verloren; zugleich haben Beschäftigungsformen zugenommen, die kein existenzsicherndes Einkommen, kaum stabile Perspektiven und/ oder nur eingeschränkten arbeits- und sozialrechtlichen Schutz bieten. Zusammen mit der Arbeitslosigkeit tragen sie zur Ausbreitung diskontinuierlicher Erwerbsbiografien bei, die nur noch in unzulänglichem Maße Ansprüche an ein System der sozialen Sicherung begründen, welches noch auf dem Normalarbeitsverhältnis aufbaut. Hohe Arbeitslosigkeit und die Ausweitung von "abweichenden" Beschäftigungsverhältnissen schaffen so wachsende Probleme generations- und geschlechtsspezifischer sozialer Ungleichheit: Einer älteren Generation (überwiegend Männer), die lebenslang im Normalarbeitsverhältnis erwerbstätig war und volle Ansprüche auf die soziale Sicherung erworben hat, stehen große Gruppen von Personen gegenüber, die wegen reduzierter oder diskontinuierlicher Beschäftigung nicht mit einer hinreichenden und stabilen individuellen Sicherung rechnen können, so vor allem Frauen und jüngere Arbeitnehmer.

 

3. Ökonomischer und soziokultureller Wandel und die Differenzierung von Beschäftigung

Viele Kritiker erklären die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses in Deutschland vor allem aus politischen und ökonomischen Veränderungen, die zu einer rigorosen Verschiebung der Machtbeziehungen zwischen Kapital und Arbeit geführt haben. "Jobless Growth" und Massenarbeitslosigkeit, begleitet von einer neoliberalen Deregulierungsoffensive, schaffen demnach Machtasymmetrien in der Gesellschaft und am Arbeitsmarkt, die es den Unternehmen erlauben, neue Flexibilisierungsstrategien durchzusetzen, das herkömmliche System hoher, dichter und egalitär ausgerichteter Schutzstandards auszuhöhlen und neue Differenzierungen zulasten der Arbeitnehmer zu schaffen.

Eine solche Argumentation ist sicherlich nicht unbegründet. Sie erscheint aber verkürzt, weil sie andere Quellen übersieht, die das Normalarbeitsverhältnis unter Veränderungsdruck setzen: den Strukturwandel der Wirtschaft, der die Basis für eine neuartige Differenzierung von Tätigkeiten und Arbeitsverhältnissen legt, sowie Prozesse des gesellschaftlichen Wandels, in dem sich auch die Ansprüche der Arbeitnehmer an die Beschäftigungsverhältnisse verändern und differenzieren. [/S. 16:]

3.1 Deregulierung

Die konservativ-liberale Koalition hat seit den achtziger Jahren und zumal im Zuge der Diskussion um den "Standort Deutschland" Maßnahmen der rechtlichen Deregulierung durchgesetzt. Sie hatten u. a. folgende Schwerpunkte: die Ausweitung der rechtlichen Spielräume für Leiharbeit und für befristete Arbeitsverträge; die Einschränkung des Kündigungsschutzes und der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall; die Verminderung von Transferzahlungen an Arbeitslose und Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen (vgl. Hoffmann/ Walwei 1998, S. 4).

Insgesamt ist aber die rechtliche Deregulierung in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern eher moderat ausgefallen; sie ist widersprüchlich, wenig systematisch und eher "zögerlich oder gar halbherzig" (Keller/ Seifert 1997, S. 530) eingeführt worden, und sie gibt jene eigentümliche Kontinuität wieder, welche den "rheinischen Kapitalismus" (Michel Albert) mit seinem breiten Spektrum politischen Konsenses und letztlich doch relativ stabilen Mustern sozialen Kompromisses charakterisiert. Obwohl das hohe Niveau und die große Dichte der Regulierung in Deutschland kräftige Deregulierungseinschnitte durch die konservative Regierung erwarten ließen, blieben die regulativen Veränderungen im Rahmen der gewachsenen rechtlichen Grundstrukturen. Offensichtlich wirken, wie Berndt Keller und Hartmut Seifert feststellen, die "Regulierungsmechanismen, Institutionen und Handlungsstrategien der korporativen Akteure (...) als Sicherungen, Barrieren und wichtige Stabilitätsbedingungen" (Keller/ Seifert 1997, S. 530). Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses ist daher weniger Ergebnis der Deregulierung von Rechtsnormen. Sie drückt vielmehr vor allem die Veränderung von Normalität im Rahmen gegebenen Rechts aus (vgl. Höland 1996, S. 100).

3.2 Veränderungen am Arbeitsmarkt und wirtschaftlicher Strukturwandel

Wie aber lässt sich der Wandel von Normalität erklären? Es liegt zunächst nahe, den Veränderungen am Arbeitsmarkt eine bestimmende Rolle einzuräumen.

Seit den sechziger und insbesondere seit den siebziger Jahren haben sich die Wachstumsraten drastisch reduziert und sind beträchtlich unter der Steigerung der Produktivität geblieben. Mit der Produktivitätsschere hängt zusammen, dass das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen - also die gesamte für abhängige Arbeit aufgewendete Zeit der Gesellschaft in Westdeutschland - in den letzten 35 Jahren beträchtlich, nämlich um fast 20 Prozent geschrumpft ist. Im selben Zeitraum, vor allem in den achtziger Jahren, hat sich aber die Zahl der Erwerbspersonen stark, um fast 10 Prozent erhöht, bedingt durch die rasche Zunahme der Erwerbsbeteiligung von Frauen, die Zuwanderung und den Eintritt geburtenstarker Jahrgänge in den Arbeitsmarkt. Dass die Zahl der Arbeitslosen nicht noch wesentlich höher ist, ist insbesondere der starken Arbeitszeitverkürzung zuzurechnen: In den letzten 35 Jahren hat sich die reale Arbeitszeit je Arbeitnehmer um gut ein Viertel reduziert, also weit mehr als das Arbeitsvolumen. Das geringere Arbeitsvolumen verteilt sich daher auf eine größere Zahl von Erwerbstätigen (vgl. Berliner Memorandum 1995). Insgesamt haben sich aber die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt angesichts der Disparität von Angebot und Nachfrage gegenüber den sechziger und siebziger Jahren drastisch verändert und die Substitution von Normarbeitsverhältnissen durch abweichende Formen gefördert. So sind heute Beschäftigungsformen zumutbar, die früher kaum akzeptabel waren.

Es wäre aber zu kurz gegriffen, die Differenzierung der Beschäftigungsformen nur auf die Verschiebungen der Machtbeziehungen am Arbeitsmarkt zurückzuführen. Von zentraler Bedeutung ist auch der wirtschaftliche Strukturwandel, in dessen Verlauf sich Formen der Arbeit und Arbeitsorganisation und damit die Erwerbstätigkeiten selbst verändern. Seit den siebziger Jahren hat die rapide "Tertiarisierung" den Arbeitsmarkt auf eine schleichende, aber darum nicht weniger dramatische Weise umstrukturiert: Der Dienstleistungssektor und darin vor allem der Bereich der unternehmensbezogenen und sozialen Dienstleistungen hat ein enormes Wachstum erfahren und die Industrie in ihrem Beitrag zu Wertschöpfung und Beschäftigung weit hinter sich gelassen (vgl. Haisken-De New u. a. 1998). Aber auch in der Industrie selbst zeigen sich Tendenzen der Tertiarisierung: "Direkte" Produktionsarbeit [/S. 17:] verliert an Bedeutung; viele Tätigkeiten sind inzwischen eher den Dienstleistungen als der materiellen Produktion zuzurechnen (vgl. Deutschmann 1997, S. 42).

Dienstleistungsarbeit ist häufig in höchst flexible Organisations- und Zeitstrukturen eingebettet, die nur noch wenig mit der klassischen Industriearbeit und ihren standardisierten Ordnungsregimen zu tun haben. Im expandierenden Dienstleistungsbereich finden wir Tätigkeiten, die große Autonomie der Arbeits- und Kooperationsgestaltung, der Zeitverwendung und räumlichen Mobilität verlangen oder zulassen, ebenso wie Arbeiten, deren Rhythmus vor allem von den Flexibilisierungsinteressen der Unternehmen diktiert und/ oder, wie im Bereich der sozialen und persönlichen Dienstleistungen, von dem Bedarf der Klienten bestimmt wird.

Diese Tendenzen des ökonomischen Strukturwandels tragen zur Veränderung der Profile und ebenso der organisatorisch-institutionellen Kontexte von Erwerbstätigkeit bei. Erwerbstätigkeit wird immer weniger durch den Typ der Produktionsarbeit in der standardisierten Massenfertigung repräsentiert, sondern zeigt eine bislang ungekannte Differenzierung von Arbeitstypen und Qualifikationsanforderungen selbst innerhalb derselben Unternehmen und Institutionen. Und auch der Organisationstyp, der das Normalarbeitsverhältnis stützte - das große Unternehmen -, büßt an Bedeutung ein gegenüber den kleinen und mittleren Unternehmen und/ oder neuen, netzwerkförmigen Zusammenhängen mit oft instabilen Marktbedingungen und flexiblen Organisationsformen und Zeitregimes (vgl. Kühl 1998 und Rogowski/ Schmid 1997, S. 568 ff.).

3.3 Erosion des traditionellen Systems von Kollektivvereinbarungen

Die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, ökonomischer Strukturwandel und neuartige Differenzierungen von Unternehmen und Erwerbstätigkeit setzen auch eine institutionelle Stütze des Normalarbeitsverhältnisses unter Druck: das herkömmliche System der Kollektivvereinbarungen und sein Herzstück, den Flächentarifvertrag. Seit den achtziger Jahren, in Zeiten schrumpfender Wachstumsmargen und wachsender Arbeitslosigkeit, hat dieses System in zweierlei Hinsicht an allgemeiner Regulierungskraft eingebüßt: Erstens werden Pioniervereinbarungen nicht mehr wie früher in den Tarifverträgen anderer Branchen übernommen und verallgemeinert, mit der Folge, dass sich die Kollektivvereinbarungen zwischen Wirtschaftsbereichen immer mehr unterscheiden. Zweitens wer- den zunehmend auch Standards des Flächentarifvertrags selbst "flexibilisiert", d. h. differenziert und spezifischen betrieblichen Bedingungen angepasst.

Nach der Lage und Länge der Arbeitszeiten - früher ein Kernstück tariflicher Standardisierung - sind in den neunziger Jahren auch Löhne und Sozialleistungen in den Flexibilisierungssog geraten (vgl. Bispinck 1997, S. 555 f.). So wurden zunehmend Öffnungsklauseln, die betriebsspezifische Abweichungen oder Ausgestaltungen von tariflichen Normen erlauben, in die Tarifverträge eingeführt; Härteklauseln gestatten die befristete Unterschreitung von Tarifnormen. In Tarifverträgen wurden Entgeltstandards differenziert und mitunter Sozialleistungen eingeschränkt. Neben kollektiv regulierten Formen gewinnen auch Formen der "wilden" Flexibilisierung, die einseitig von Unternehmen durchgesetzt oder ohne Kenntnis der Gewerkschaft mit Betriebsräten vereinbart werden, an Boden.

Mit der "Verbetrieblichung" der Arbeitsbeziehungen verändert sich nicht nur die Rolle der betrieblichen Akteure im Verhältnis zu den Repräsentanten der Verbände, welche die Flächentarifverträge aushandeln. Es verändert sich auch der Bezugsrahmen der Politiken, da nun die spezifische betriebliche Situation an Gewicht gewinnt. Schließlich wird einem Regelungssystem der Boden entzogen, das bislang die Angleichung von Arbeits- und Vertragsbedingungen förderte, und es öffnen sich mit den neuen Differenzierungen auch neue materielle Disparitäten.

3.4 Veränderte gesellschaftliche Ansprüche an die Erwerbsarbeit

Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses wird schließlich auch durch soziokulturelle Veränderungen befördert. Das wird besonders deutlich im Bereich der rasch expandierenden Teilzeitbeschäftigung. Im Jahre 1997 waren in Westdeutschland immerhin fast 40 Prozent aller erwerbstätigen Frauen und 10 Prozent der Männer teilzeitbeschäftigt (vgl. Holst/ Schupp 1998). [/S. 18:] Die rasche Zunahme der Teilzeitarbeit seit den achtziger Jahren hängt eng mit den Veränderungen des Erwerbsverhaltens und der Erwerbsorientierungen zusammen. Von Bedeutung ist vor allem die wachsende Erwerbsbeteiligung der Frauen, die sich zunehmend der der Männer angleicht. Sie erklärt sich gleichermaßen aus dem in den letzten Jahrzehnten stark gestiegenen weiblichen Bildungs- und Ausbildungsniveau, aus der Erosion des traditionellen Familienmodells und der zunehmenden Verbreitung von Haushaltsformen, in denen die Berufstätigkeit der Frau zur wichtigen oder einzigen Einkommensquelle der Familie wird. Teilzeitbeschäftigung ermöglicht vielen Frauen, die aufgrund ihrer sozialen Verpflichtungen in der Familie - etwa Kindererziehung und Altenpflege - und der unzureichenden öffentlichen Betreuung keine Vollzeitbeschäftigungen eingehen können oder möchten, erst den Zugang zur Erwerbstätigkeit, ohne die - kulturellen - Ansprüche an die Familienversorgung und Kinderbetreuung zu verletzen und die traditionelle Arbeitsteilung in der Familie in Frage zu stellen. Teilzeitarbeit schafft so neue Spielräume, setzt aber auch soziale Ungleichheits- und Abhängigkeitsbeziehungen fort.

Auch für andere Gruppen schafft die Teilzeitbeschäftigung erst die Möglichkeit, die Erwerbstätigkeit mit anderen Tätigkeiten - etwa Ausbildung und Weiterbildung, Betreuung, Eigenarbeit oder ehrenamtliche Tätigkeiten - zu verbinden, selbst wenn sie meist kaum ein existenzsicherndes Individualeinkommen und keine angemessene soziale Sicherung für Alter und Ausfallszeiten vermittelt.

Insgesamt entspricht das traditionelle Normalarbeitsverhältnis immer weniger den vielfältigen Notwendigkeiten, Bedürfnis- und Interessenlagen in einer Gesellschaft, in der traditionelle kollektive Lebenszusammenhänge, -stile und -rhythmen aufbrechen und sich differenzieren und mit ihnen Lebensplanung und Erwerbsstrategien der Individuen.

 

4. Konzepte zur Neuordnung der Erwerbsarbeit

Eine Rückkehr zum Normalarbeitsverhältnis ist - dies dürfte deutlich geworden sein - weder realistisch noch den ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen angemessen; zu sehr hat sich das Erwerbssystem selbst im Zuge des wirtschaftlichen Strukturwandels differenziert, zu sehr haben sich auch gesellschaftliche Ansprüche an die Erwerbsarbeit aufgefächert und einer umfassenden Standardisierung den Boden entzogen. Das normativ-institutionelle Gefüge der Regulierung des Erwerbssystems ist aber noch weitgehend auf das Normalarbeitsverhältnis abgestimmt und unterstellt eine Normalität, die inzwischen zur Fiktion geworden ist. Mit der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, der Massenarbeitslosigkeit und der Differenzierung von Beschäftigungsformen sind aber neue Formen der sozialen Ungleichheit entstanden. Sie erfordern neue Politiken und regulative Vorkehrungen, wenn gesellschaftlicher Desintegration und der Vertiefung der Segmentierung im Erwerbssystem sowie der Gräben zwischen den Geschlechtern und Generationen entgegengewirkt werden soll. Dabei kann es nicht darum gehen, die Differenzierungen von Beschäftigungsformen zu beseitigen; es kommt vielmehr darauf an, sie sozial abzusichern und Wahl- und Wechselmöglichkeiten für die Beschäftigten zu schaffen. Es mangelt nicht an Vorschlägen (vgl. Dombois 1999).

 

4.1 Ausweitung des Niedriglohnsektors

In das Zentrum kontroverser Diskussionen sind die Vorschläge zur Ausweitung des Niedriglohnsektors gerückt, die auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze für Personen mit niedrigen Qualifikationen vor allem im Dienstleistungssektor setzen. Ihnen liegt die Annahme zugrunde, dass das hohe Niveau tariflicher und sozialpolitischer Regulierung und die vergleichsweise geringe Lohnspreizung in Deutschland einfache Tätigkeiten, gemessen an ihrer Produktivität, zu teuer mache und den Aufbau von Arbeitsplätzen mit niedriger Produktivität behindere; Potenziale zusätzlicher Beschäftigung, die im Dienstleistungssektor und vor allem im Bereich der personalen und sozialen Dienstleistungen ausgemacht werden, könnten nicht ausgeschöpft werden. Von der Erweiterung des Niedriglohnbereichs wird eine massive Expansion der Beschäftigung für Arbeitskräfte mit niedrigen Qualifikationen in arbeitsintensiven Dienstleistungsbereichen erwartet.

Es lässt sich dabei die neoliberale, marktorientierte Konzeption, wie sie von der bayrisch-sächsischen Kommission für Zukunftsfragen vorgestellt wurde, von eher institutionalistischen Konzeptionen unterscheiden, [/S. 19:] die eine Umorientierung von Arbeitsmarktpolitik und eine Re-Regulierung des Arbeitsmarkts verlangen; zu Letzteren ist der Vorschlag zu zählen, den Rolf Heinze und Wolfgang Streeck jüngst im Rahmen des Bündnisses für Arbeit vorgelegt haben. Die bayrisch-sächsische Kommission schlägt eine Radikalkur vor, die wie Claus Offe und Susanne Fuchs kritisch vermerken, "drei Dinge methodisch miteinander verbindet: das unbedingte Vertrauen auf die wissenschaftliche Lehre (nämlich der Marktökonomie); die Missachtung von bestehenden Institutionen und die heroische Zuversicht in die Mechanismen eines kontrollierten Bewusstseinswandels" (Fuchs/ Offe 1998, S. 297). Sie plädiert für eine radikale Deregulierung, die Aufhebung bisheriger sozialstaatlicher oder tariflicher Mindeststandards und insbesondere eine Öffnung des Lohnsystems nach unten, die eine produktivitätsorientierte Entlohnung einfacher Dienste möglich machen und nach Vorbild des US-amerikanischen "Job-Wunders" die Schaffung einer großen Zahl von zusätzlichen Arbeitsplätzen - bis zu vier Millionen - für Niedrigqualifizierte ermöglichen soll (vgl. Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen 1997, Bd. III, S. 19). Es wird ausdrücklich in Kauf genommen, dass die erhoffte Integration über den Markt mit zunehmender sozialer Ungleichheit verbunden ist (zur Kritik auch Bergmann 1998, S. 319 ff. und Senatsverwaltung für Arbeit, Berufliche Bildung und Frauen 1998).

Heinze und Streeck setzen dagegen stärker auf eine Verbindung von Marktmechanismen mit staatlichen Regulierungs- und Umverteilungspolitiken, so vor allem eine degressive Subventionierung der Sozialversicherungsbeiträge für Niedrigeinkommen, die durch weitere Maßnahmen flankiert werden sollen. Sie erwarten, dass dadurch Angebot wie auch Nachfrage im Bereich einfacher Dienstleistungstätigkeiten belebt, die hohe Arbeitslosigkeit von niedrigqualifizierten Arbeitskräften vermindert und sozial kaum geschützte geringfügige Beschäftigung sowie Schwarzarbeit in den ersten, regulierten Arbeitsmarkt überführt werden könnten.

Die Vorschläge zur Einrichtung eines Niedriglohnsektors sind auf breite Kritik aus unterschiedlichen Quellen gestoßen. Zentrale Annahmen werden in Zweifel gezogen. Von besonderem Gewicht ist der Einwand, dass soziale und personenbezogene Dienstleistungen qualifizierten Personals bedürfen, eine stärkere Lohnspreizung daher kaum zu einer Ausweitung der Dienstleistungen, etwa im Gesundheits- und Ausbildungsbereich, führen würden (vgl. Bosch 1999). Weiterhin werden die hohen Kosten einer allgemeinen Subventionierung von Niedriglohntätigkeiten angeführt und Zweifel an den erwarteten Beschäftigungseffekten, zumal für die besonders von Arbeitslosigkeit betroffene Gruppe der Niedrigqualifizierten, erhoben (vgl. Schupp u. a. 1999 und Bender u. a. 1999). Schließlich gelten die Befürchtungen dem möglichen Missbrauch und Mitnahmeeffekten, die dazu beitragen könnten, Sozialstandards in einen Abwärtssog zu ziehen und das institutionelle System industrieller Beziehungen auszuhöhlen (vgl. Senatsverwaltung für Arbeit, Berufliche Bildung und Frauen 1998, S. 135 ff. und Engelen-Kefer 1999, S. 1 ff.).

 

4.2 Arbeitsumverteilung durch Arbeitszeitverkürzung

Während Konzeptionen zur Ausweitung des Niedriglohnsektors auf die Erschließung zusätzlicher Beschäftigungspotenziale setzen, zielen Strategien der Arbeitszeitverkürzung auf eine gleichmäßigere Verteilung eines gegebenen Erwerbsarbeitsvolumens, indem Beschäftigte ihren Arbeitsplatz zeitweise oder teilweise für Erwerbslose freimachen.

Es gibt inzwischen zahlreiche Ansätze der Arbeitsumverteilung auf betrieblicher, tariflicher und/ oder gesetzlicher Ebene, die im Gegensatz zu früher verfolgten Politiken der Arbeitszeitverkürzung nicht mehr einen (vollständigen) Einkommensausgleich vorsehen (vgl. Seifert 1998, S. 579 ff.). Dazu zählen: Regelungen, die Rechte auf Teilzeitbeschäftigung für bestimmte Beschäftigtengruppen (etwa Lehrer, Ältere) schaffen und dafür Neueinstellungen vorsehen; der Abbau von Überstunden; die Erweiterung von Freistellungen (Elternurlaub, Sabbaticals) mit befristeten Ersatzeinstellungen; schließlich auch betriebliche Bündnisse für Arbeit, welche eine befristete kollektive Arbeitszeitreduzierung ohne Lohnausgleich im Tausch gegen Beschäftigungsgarantien vorsehen (so etwa das VW-Modell). [/S. 20:]

Anders als in Fällen freiwilliger, optionaler Arbeitszeitverkürzung, welche die Interessenabwägung den einzelnen überlassen (wie Elternurlaub oder Sabbaticals, aber auch das Gros der Teilzeitbeschäftigung), dürften der kollektiven Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich enge Grenzen gesetzt sein. Es scheint kaum durchsetzbar, allgemeine, kollektive Verkürzungen dauerhaft akzeptabel zu machen, die weder nach besonderen Gruppen und ihren Zeit- und Einkommenspräferenzen differenzieren noch Spielräume für freiwillige Entscheidungen lassen. Schwierig ist dies insbesondere dort, wo Arbeitsumverteilung nicht so sehr auf die Stabilität der Beschäftigung im eigenen Betrieb, sondern allgemein auf die Verminderung von Arbeitslosigkeit zielt und somit "abstrakte Solidarität" mit den Erwerbslosen einfordert.

Aber auch die optionalen Formen der Arbeitszeitverkürzung sind mit Restriktionen befrachtet, die die Reichweite der Arbeitsumverteilung beschränken. Sie sind nämlich entweder mit Einbußen - vor allem bei den Ansprüchen an Einkommen und soziale Sicherung - verbunden oder belasten öffentliche Sozialkassen zugunsten bestimmter Gruppen (etwa Ältere); auch gibt es kaum Garantien dafür, dass frei gewordene Arbeitsplätze auch tatsächlich wieder neu besetzt und nicht zu Rationalisierungszwecken eingespart werden.

 

4.3 Vermittlung von Erwerbsarbeit mit anderen Tätigkeiten jenseits des Markts

Eine zentrale Rolle kommt der Arbeitszeitpolitik auch in Vorschlägen zu, welche nicht nur Räume für die Umverteilung der Erwerbsarbeit, sondern auch für eine bessere, flexiblere Abstimmung von Erwerbstätigkeit und nicht marktvermittelten Tätigkeiten wie Familien-, Eigen- und Gemeinwesenarbeit öffnen und so eine gleichmäßigere Verteilung der verschiedenen Tätigkeitsarten zwischen den Lebensphasen der Individuen sowie zwischen den Geschlechtern ermöglichen sollen. Strategien umfassen vor allem verschiedene Formen der Arbeitszeitverkürzung, sei es als dauerhafte oder phasenweise Reduzierung der täglichen oder wöchentlichen Arbeitszeit, sei es als blockartige Freistellung wie Sabbaticals oder Elternurlaub.

Bislang ist die Abstimmung der Erwerbsarbeit auf die differenzierten Lebenslagen und -ansprüche problematisch, weil "optionale", spezifischen Interessen entsprechende Erwerbsformen - sofern sie überhaupt zugänglich sind - häufig nicht die individuelle Existenz sichern, meist auch mit erhöhten Risiken behaftet sind. Einen interessanten Vorschlag macht Günther Schmid mit der "Strategie flexibler Arbeitsmarktübergänge". Dabei geht es vor allem darum, bisher blockierte oder riskante Übergänge zwischen verschiedenen Erwerbsformen und Tätigkeitsbereichen durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zu erleichtern und sozial abzusichern: Übergänge zwischen Arbeitslosigkeit und Beschäftigung, zwischen Bildung und Beschäftigung, zwischen Haushalts- und Erwerbstätigkeit, zwischen Erwerbstätigkeit und Rente, zwischen Kurz- und Vollzeitbeschäftigung. Dazu soll das vorhandene Instrumentarium der aktiven staatlichen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik und der Tarifpolitik genutzt und ausgestaltet werden (vgl. Schmid 1994, S. 9-23). Die Strategie der Übergangsarbeitsmärkte zielt auf eine spürbare Verminderung der Arbeitslosigkeit, zugleich aber auch auf eine flexiblere, den differenzierten Lebenslagen und -interessen entsprechende Gestaltung des Erwerbssystems mit einer Vielzahl unterschiedlicher Formen, die aber in höherem Maße als "abweichende Erwerbsformen" im Regime des herkömmlichen Normalarbeitsverhältnisses sozial abgesichert sind.

Die hier nur skizzierten Konzeptionen und Strategien zeigen neue - teils komplementäre, teils alternative - Wege in der Arbeitsmarktpolitik auf. Bislang wenig ausgeschöpft sind die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Umverteilung von Erwerbsarbeit - zwischen Erwerbstätigen und Arbeitslosen, zwischen Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigung. Wenig entwickelt sind auch noch Politiken, die flexiblere Abstimmungen und Übergänge zwischen Erwerbsarbeit und anderen, nicht marktorganisierten Tätigkeitsbereichen fördern. Eine weitere gesellschaftliche Umverteilung von Erwerbsarbeit verlangt nicht nur materielle und soziale Anreize zur Reduzierung von Arbeitszeit oder zum phasenweisen Ausscheiden aus dem Erwerbsarbeitsmarkt zugunsten erwerbsloser Personen, sondern auch langfristige soziale Sicherungen und Garantien; es wird dies nicht ohne die Aufgabe herkömmlicher Prinzipien gehen, die Anrechte auf die soziale Sicherung an die Erwerbstätigkeit zu binden. In jedem Fall verlangen die neuen Wege einen Umbau des etablierten, am Normalarbeitsverhältnis orientierten institutionellen Regulierungssystems - so von Arbeits- und Sozialrecht und industriellen Beziehungen. Sie rühren stets auch an etablierte Ansprüche und Privilegien und erfordern daher neue gesellschaftliche Pakte und Konzessionen der korporativen Akteure.

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Anmerkungen

1) Die Schätzungen der geringfügig Beschäftigten zeigen allerdings eine beträchtliche Spannweite auf, wie auch die Beiträge in Büchel u. a. 1998 zeigen (vgl. Hoffmann/ Walwei 1998, S. 318 und Schupp u. a. 1998, S. 95 ff.).
 

Literatur

Bender, Stefan/ Kaltenborn, Bruno/ Rudolph, Helmut/ Walwei, Ulrich (1999): Die Diagnose stimmt, die Therapie noch nicht, IAB-Kurzbericht, (1999) 6

Bergmann, Joachim (1998): Die negative Utopie des Neoliberalismus oder: Die Rendite muss stimmen, in: Leviathan, (1998) 3, S. 319 ff.

Berliner Memorandum (1995): Berliner Memorandum zur Arbeitszeitpolitik 2000. für einen "New Deal" in der Arbeitszeitpolitik : kürzer und flexibler arbeiten - Arbeit umverteilen, Berlin

Bielinski, Harald (1997): Befristete Beschäftigung, in: Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen 1996 (1997), Band I, S. 171 ff.

Bispinck, Reinhard (1997): Deregulierung, Differenzierung und Dezentralisierung des Flächentarifvertrags, in: WSI- Mitteilungen, 50 (1997) 8, S. 555 f.

Bosch, Gerhard (1999): Zukunft der Erwerbsarbeit. Zur Rolle von Bildung und Löhnen im internationalen Vergleich, Berlin (unv. Man.)

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Deutschmann, Christoph (1997): Die Arbeitsgesellschaft in der Krise? Paradoxien der arbeitspolitischen Debatten der achtziger Jahre, in: Flecker, Jörg/ Zilian, Hans-Georg (Hrsg.) (1997), Pathologien und Paradoxien der Arbeitswelt, Wien, S. 42

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Dostal, Werner/ Stooß, Friedemann/ Troll, Lothar (1998): Beruf - Auflösungstendenzen und erneute Konsolidierung.

In: Mitteilungen zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Nr. 3, Nürnberg 1998, S. 438 - 460.

[/S. 438:] Der Beruf ist noch immer Basis für Orientierung, Beschäftigung und Arbeitsmarkt. Er ist in der Lage, die vielfältigen Strukturen in der Arbeitswelt und der Gesellschaft zu beschreiben. Berufszuordnungen und -bewertungen finden eine hohe Akzeptanz. Allerdings wird Beruf in seinem umfassenden Verständnis heute oft als Auslaufmodell bezeichnet und der Job als Gegenbild kurzfristiger und eher eindimensionaler Tätigkeitsstruktur als Zukunftsmodell propagiert.

Beruf hat viele Facetten: Raster für die Integration Jugendlicher, Tauschmuster, Arbeitsmarktregulator, Emanzipationsbasis, Identifikationskern bei sozialer und personaler Einordnung, Raum für Aufgaben- und Pflichterfüllung, Element sozialer Stabilität. Diese Aspekte sind in den letzten Jahrzehnten weitgehend in stabilen Stammbelegschaften aufgetreten. Die Auflösung dieser stabilen Rahmenbedingungen in der nachindustriellen Gesellschaft wird oft dahingehend interpretiert, dass mit dieser Entwicklung auch der Beruf seine Bedeutung verliere.

Als Indizien für die These, dass die Dauerhaftigkeit von Beruf gefährdet sei, werden angeführt, dass die berufliche Identität sich anderen Identifizierungsbereichen unterordne, dass Berufsausbildung und Berufstätigkeit sich voneinander abkoppeln, dass sich die Berufsausbildung zersplittere und damit für eine klare Identifikation nicht mehr geeignet sei, dass unscharfe Berufsangaben Signal für die schwindende Möglichkeit beruflicher Allokation seien und dass die Flexibilität enge Berufsabgrenzungen verbiete.

Bei der Analyse zukünftiger Arbeitswelten lassen sich Segmente vorstellen, von denen einige weiterhin betriebs- bzw. unternehmenszentriert sind und bei denen der Berufsbezug zwar sinnvoll - insbesondere für den Einstieg -, aber nicht unbedingt notwendig ist, während bei anderen Segmenten wegen des Verlustes dieser Betriebsbindung neue Identifikationsmuster erforderlich sind. Der Beruf in seiner umfassenden und zugleich offenen Struktur sowie seiner Beziehung zur Professionalität dürfte gerade in diesen offenen Arbeitsformen eine neue und wesentlichere Bedeutung erhalten.

Dieser Beitrag kann nur ein erster Schritt sein. Das komplexe Thema "Beruf" soll zunächst lediglich in seinen vielen Facetten beschrieben und eingeordnet werden. Weitere Arbeiten sollen folgen, in denen Einzelbereiche schärfer abgegrenzt und anhand von Forschungsergebnissen belegt werden.

 

1. Einführung: Beruf und Job als Gegenwelten

Das Verständnis von Arbeit, ihre Bewertung und ihre Beschreibung haben sich immer wieder verändert, je nach den Rahmenbedingungen, unter denen Menschen die Arbeit gesehen haben. Unser heutiger "Arbeitsbegriff" ist durchaus nicht losgelöst von den historischen Entwicklungen und den natürlichen und gesetzten Rahmenbedingungen. Er ist zudem vielfältig und zeigt auch aktuell eine hohe Dynamik. Die Zentralität von Arbeit in der Gesellschaft und für die Gesellschaft wird daran deutlich, dass Thesen vom "Ende der Arbeit" große Resonanz finden.

[/S. 439:] Hier soll die Frage nach dem "Beruf" untersucht werden: Wird es in der Zukunft noch Berufe geben oder wird Erwerbsarbeit ohne das, was wir als Beruf bezeichnen, abgeleistet? Wird es also, wie schon sehr früh formuliert wurde, nur noch Tätigkeitsmuster oder "Jobs" geben? Oder besteht weiterhin der Wunsch und/oder die Notwendigkeit, Berufe abzugrenzen, sie auszufüllen und in ihrem Rahmen Erwerbsarbeit zu leisten?

Neben den traditionellen Zuordnungen, die den Beruf als umfassenden Begriff festlegen, der eine Vielzahl von Teilkategorien mit jeweils unterschiedlichem Gewicht harmonisch integriert, sehen aktuelle Beziehungsmuster die Erwerbstätigkeit eher im Job, der ad hoc spezifische Tätigkeiten umfasst, ohne die weiteren Teilkategorien von Beruf mitzutransportieren.

Schließlich gibt es immer wieder Einschätzungen, die davon ausgehen, dass die Erwerbstätigkeit aus dem Lebenszentrum auswandert und andere Bezüge zentral werden und dass damit insbesondere der Beruf an den Rand gedrängt würde bis hin zur Aussage, dass Beruf ersatzlos gestrichen werden könnte, da er in der modernen Gesellschaft keine Bedeutung mehr habe.

Daraus ergibt sich ein breites Spektrum: Auf der einen Seite der Beruf in seiner umfassenden Gewichtung, in der die soziale und gesellschaftliche Existenz auf die berufliche Verortung bezogen wird, auf der anderen Seite eine Gesellschaft von Menschen, die weder Sinn noch Verständnis für eine berufliche Verortung aufbringen und ihre - auch berufsähnlichen - Aktivitäten über andere Lebenssphären definieren.

Die Dominanz beruflicher Kategorien zeigt sich in folgenden Zusammenhängen:

In Bilderbüchern, in Liedern sowie in Spielen sind berufsbezogene Aspekte immer sehr dominant gewesen (siehe dazu beispielsweise Wallendy 1949, im Überblick Schneider 1990). Waren es früher eher handwerkliche Berufe im Wohnumfeld - beispielsweise der Bäcker und der Kaufmann - die in den Büchern und Spielen vorkamen, so kamen dann Räuber und Gendarm, auch Soldaten, bis diese vom Fußballprofi abgelöst wurden - allesamt spezifische beruflich definierte Rollen. Konkret werden Berufsfragen bei der Berufswahl, die einerseits Selbstfindung, andererseits Wahrnehmung der Erwerbswelt beinhaltet, und in der als Ergebnis eine zukunftsgerichtete Einordnung in eine durchaus als beruflich empfundene und geprägte Zukunft steht. Allein hier zeigt sich die große Bedeutung und Nützlichkeit eines knapp zusammenzufassenden Begriffs für ein komplexes Phänomen, denn eine Orientierung nur auf der Basis von wechselnden Jobs oder vielfältiger Tätigkeiten dürfte weitaus schwieriger sein, als wenn auf klar beschreibbare Berufsfelder zurückgegriffen werden kann, wenn also die übergroße Vielfalt der Merkmale in charakteristischen Clustern überschaubarer Zahl zusammengefasst und konkretisiert ist.

Die heutigen Berufsbildungsstrukturen der Aus- und Weiterbildung sind zwar überwiegend berufsbezogen, nicht aber mit der Berufelandschaft kongruent. Für manche Berufe gibt es keine geschlossene Ausbildungen, andere sind erst über Weiterbildungszertifikate erreichbar, für manche gibt es lediglich Einarbeitungen. "Berufsausbildung" als ausschließlicher Weg in den jeweiligen Beruf hat - speziell im Dualen System - eine gewisse Tradition, doch daneben zeigen sich zunehmend offene Muster, in denen Bildungselemente individuell gewählt und zusammengestellt werden und somit keine spezifische Beruflichkeit über die Qualifizierung vermittelt wird oder sich noch nicht prägend ausgewirkt hat, da die Entstehung bzw. Schaffung eines Berufsbildes einen langwierigen Prozess darstellt.

In der Arbeitswelt wird der Beruf genutzt, um die Rolle des Einzelnen im Betrieb und in der Gesellschaft zu beschreiben und zu bewerten. Betriebe sind nicht nur gezwungen, für die Statistik der sozialversicherten Mitarbeiter Berufskennziffern anzugeben, sondern sie nutzen den Berufsbegriff sowohl in der Berufsausbildung als auch für die Personalwirtschaft und die Personalplanung. Allerdings zeigen sich deutliche Auflösungstendenzen (siehe dazu auch Baethge/Baethge-Kinsky 1998), da im Wandel betrieblicher Arbeitsteiligkeit die traditionellen Berufszuweisungen oft nicht mehr geeignet sind, die aktuellen Erwerbsstrukturen zu beschreiben. Von den Erwerbstätigen selbst ist aber eine Berufszuweisung weiterhin gewünscht und wohl auch erforderlich, insbesondere wenn sich die betriebliche Zuordnung lockert.

Nach dem Ausscheiden bzw. Rückzug aus der Erwerbstätigkeit ist für viele Menschen in der Rückschau der Lebensweg durch den Beruf und die berufliche Tätigkeit geprägt. Viele Menschen haben durchaus den Wunsch, weiterhin ihre Berufszugehörigkeit aufrecht zu halten, möglicherweise sogar die Zuordnung zum Betrieb, in dem sie längere Phasen ihrer Erwerbstätigkeit verbracht haben. Selbst im Ruhestandsalter spielen der frühere Beruf und die Art der abgeschlossenen Erwerbstätigkeit eine weiterhin dominante Rolle.

Ein Gegenbild dazu könnte der Mensch sein, der in einer Lebenswelt agiert, in der Berufe nicht wahrgenommen werden, weil in den sozialen Bezügen Menschen nicht in ihrer Berufsrolle, sondern in anderen Aktivitäten erlebt werden, in der die unmittelbaren Dienstleistungen von Menschen ad hoc in Form von Jobs ohne Einbindung in traditionelle Berufsrollen geleistet werden. Eine Berufswahl erfolgt nicht, es werden lediglich Gelegenheitsarbeiten ausgeübt, bei denen möglicherweise Berufstätigkeiten abgedeckt werden, die aber wechselhaft und ohne Stabilität sind.

 

2. Beruf als Begriff und gesellschaftliches Phänomen

 

2.1 Beruf im historischen Kontext

"Das Wichtigste im Leben ist die Wahl des Berufes. Der Zufall entscheidet darüber." (Pascal) "Der Beruf ist das Rückgrat des Lebens und seine Wahl die wichtigste Entscheidung, die der Mensch treffen muss" (Nietzsche) "Von der Berufswahl hängt zu einem wesentlichen Teil die weitere Ausgestaltung unseres Lebens ab, und jede Veränderung kommt einem Schicksalsumschwung gleich." (Sacherl 1954). Diese drei Zitate, ausgewählt aus einer reichen Palette derartiger Stellungnahmen, zeigen einerseits die Bedeutung, die dem Phänomen Beruf zugemessen werden, andererseits aber auch die damit verbundenen Probleme. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Begriff "Beruf" oft unscharf verwendet und nicht eindeutig von Bezeichnungen, wie "Arbeit", "Tätigkeit", "Qualifikation" oder "Job" unterschieden. "Das sprachlich von "rufen"/"Ruf" abgeleitete Wort "Beruf" ist zwar schon Jahrhunderte bekannt, die Geschichte seiner Verwendung ist aber noch nicht ausreichend geklärt und bedarf noch tiefer schürfender Nachforschungen" (Molle 1968).

[/S. 440:]

 

 

Beruf:

Der aus der Alltagssprache in die Sprache der Wissenschaft übernommene Begriff ist bis heute vielschichtig, mehrdeutig und umstritten. Der Beruf stellt die für eine vorgegebene Arbeitsaufgabe charakteristische Merkmalskombination dar. Beruf entsteht und besteht im Spannungsfeld zwischen Arbeitsplatz- und Arbeitskraftseite. Verfassungsrechtlich ist ein Beruf "jede auf Dauer berechnete und nicht nur vorübergehende, der Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage dienende Betätigung." Die freie Wahl des Berufes wird vom Grundgesetz garantiert, kann aber durch Gesetz eingeschränkt werden. In der Berufsforschung wird Beruf durch folgende Merkmale umschrieben:

  • Bündel von Qualifikationen im Sinne charakteristischer Ausprägungen und Anordnungen von Wissen (Sachverhalte kennen und anwenden sowie Arbeitstechniken/Fertigkeiten beherrschen) und Sozialkompetenz (als einer Bündelung typischer Verhaltensweisen, Orientierungen und Werthaltungen).
  • Aufgabenfelder, die den Qualifikationsbündeln zugeordnet sind und die durch eine Kombination aus Arbeitsmitteln, Objekt (Gegenstand) und Arbeitsumfeld geprägt sind.
  • Hierarchisch abgestufte Handlungsspielräume, die sich aus der Verknüpfung der Qualifikationsseite (Arbeitskraftseite) mit der funktionalen Ausprägung der Arbeitsaufgaben (Arbeitsplatzseite) ergeben. Sie sind bestimmt durch den Status (die betriebliche Position des einzelnen), die Organisationseinheit (Aufgabengebiet/ Abteilung) und das spezifische Arbeitsmilieu. In diesem Rahmen können persönliche Interessen im Sinne gestalterischer Ziele entfaltet werden.
  • Beruf wirkt über die Erwerbstätigkeit hinaus als Strukturmerkmal gesellschaftlicher Einordnung und Bewertung.

Zusätzlich wird Beruf durch die folgenden Merkmale abgerundet:

  • Gegenstand (Objekt/Subjekt), z. B. Werkstoff oder Produkt
  • Arbeitsmittel, z. B. Maschinen, Werkzeuge, Geräte
  • Arbeitsort und Arbeitsmilieu, geprägt durch Wirtschaftszweig, Branche, spezifische Belastungen, besondere Arbeitsbedingungen
  • Aufgabenbereich, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, z. B. Organisationseinheit, Abteilung

Über den Beruf in seiner hierarchischen, statusmäßigen Abstufung sind die Chancen des Einzelnen festgelegt, sein Einkommen zu sichern, sich selbst zu verwirklichen, autonom zu handeln, an Kulturgütern teilzuhaben, über die Arbeit seine Identität zu finden und an der Weiterentwicklung und Ausgestaltung der Berufemuster aktiv mitzuwirken.

Job:

Als Gegenbild zum umfassenden Berufsbegriff umschreibt der aus dem amerikanischen Sprachraum kommende Begriff "Job" eine "Tätigkeit zum Geldverdienen", die in einer Arbeitsgesellschaft höchster Arbeitsteiligkeit als voraussetzungslose, schnell zu lernende Teilaufgabe definiert ist und die eher kurzfristig wechselnd abgeleistet wird, ohne dass auf dieser Basis eine stabile Identifikation mit der Aufgabe entsteht. In dynamischen Wirtschaften ist diese Form der Erwerbstätigkeit in der Lage, schnell auf neue Herausforderungen einzugehen, sie zeigt aber dort Probleme, wo befriedigende Leistungen nur mit längerfristiger Identifikation möglich sind.

Beruf und Job sind somit die weit auseinander liegenden Pole eines Spektrums, in dem Erwerbstätigkeit verortet werden kann.

 

[/S. 441:] Das deutsche Berufsprinzip basiert u. a. auf ethisch-religiösen Bindungen. Seine Deutung lässt sich auf eine "göttliche Berufung" des Menschen für bestimmte Tätigkeiten oder Aufgaben bis in die Reformationszeit und sogar bis in die frühchristliche Theologie zurückverfolgen. Bereits im Mittelalter wurde der Ausdruck "berufen" jedoch auch im weltlichen Sinne gebraucht. Handwerker wurden an Höfe berufen; an Universitäten werden heute noch Professoren berufen, Soldaten werden zum Wehrdienst einberufen.

Im 16. Jahrhundert konnte sich das Wort Beruf gegenüber dem Ausdruck "Stand" offenbar nicht allgemein durchsetzen. In dem von Hans Sachs verfassten und von Jost Amman mit Kupferstichen bebilderten Werk "Eygentliche Beschreibung Aller Stände auf Erden" aus dem Jahre 1568 oder in dem 1698 in Regensburg erschienen Bilderwerk von Christoff Weigel "Abbildungen der Gemein-Nützlichen Haupt Stände" werden 122 bzw. 204 "Stände" vorgestellt und beschrieben. Molle (1968) weist nach, dass noch 1900 in Urkunden durchgehend "Stand" anstelle von "Beruf" gebräuchlich war. Für Preußen lässt sich dies noch für 1929 (für Formulare an bayerischen Gymnasien sogar bis 1970) belegen.

Im 18. Jahrhundert wurden Beruf und die berufliche Arbeitsteiligkeit Thema der sich entwickelnden Nationalökonomie und auch der deutschen idealistischen Philosophie (Fichte, Schleiermacher).

In seiner Gesellschaftskritik im 19. Jahrhundert beschreibt Karl Marx die Entfremdungsformen einer durch Berufsdifferenzierung sich vertiefenden Arbeitsteilung. Sein Gegenkonzept: "Morgens jagen, nachmittags fischen, nach dem Essen kritisieren ... wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer... zu werden" (Marx) soll die Arbeitsbedingungen und die Arbeitsteiligkeit des damaligen Proletariats überwinden. Im allgemeinen Sprachgebrauch des 19. Jahrhunderts verfestigte sich der Begriff "Beruf" und trat vor allem in Verbindung mit anderen Begriffen auf, z. B. Berufsgenossenschaft, Berufskrankheit, Berufsvereine. Nach der Reichsgründung 1871 nahm die Verwendung des Ausdruckes Beruf stark zu. Die ab 1882 durchgeführten Berufszählungen verwenden schon kombinierte Fachausdrücke wie Berufsabteilung, Berufsart in Sinne von Gewerbe bzw. Wirtschaftszweig. Es werden aber, abgeleitet aus der historisch geprägten Hauswirtschaft, jeweils auch die Familienangehörigen und Dienstboten dem Beruf des "Familienoberhauptes" zugeordnet. Erst 1925 werden nur noch die Erwerbstätigen in Berufen erfasst. In den 20er Jahren wurde "Beruf" vor den Hintergrund der industriellen Arbeitsteilung zum Thema "konservativ kulturkritischer" Diskussion (Voß 1994). Dunkmann (1922) beklagte das System der tayloristischen Arbeitsteilung und der "reinen Vernunft" im Arbeitsleben. "Wo die Ökonomie allein das Wort hat, hat der Beruf nichts mehr zu sagen." Dem müsse begegnet werden, in dem "wir auch unter modernen Arbeitsbedingungen dennoch danach streben müssen, der arbeitenden Menschheit ihren Beruf wiederzugeben" (Dunkmann 1922: 204-206).

In der Zeit des Nationalsozialismus bekam der Beruf eine besondere Bedeutung. Im Rahmen gesellschaftlicher Umstrukturierung wurde der Beruf ein wichtiges Klassifizierungselement. In einem Arbeitsbuch wurden die Arbeitsverhältnisse im Detail dokumentiert. Ziel war es, über diese Instrumente einen Überblick zu dem vorhandenen Arbeitskräftereservoir zu bekommen, um damit den Arbeitskräfteeinsatz in der Rüstungswirtschaft planen zu können. Facharbeiter waren zunächst für den Kriegsdienst unabkömmlich, erst 1943 wurde dies zurückgenommen. Gleichzeitig wurde die Kriegswirtschaft so weit wie möglich auf Anlernberufe umgestellt, sodass die Dominanz der Facharbeiter abnahm. In der Nachkriegszeit wurden gesellschaftlicher und emanzipativer Aufstieg eng mit der Zugehörigkeit zu einem höher bewerteten Beruf verbunden. Berufswahl und Berufsqualifikationen wurden Schlüssel zu einer besseren Position in der Gesellschaft, während die Rolle von Herkunft und Besitz eher abnahm. Auch bei der Subsistenzsicherung wurde das Arbeitseinkommen dominant, während Kapitaleinkommen, Versorgung aus der eigenen Landwirtschaft und Transfereinkommen peripher wurden. "Der Beruf ist, neben der Familie, eine der großen sozialen Sicherheiten, die der Mensch in der modernen Gesellschaft, insbesondere in der westlichen Zivilisation noch besitzt, verglichen etwa mit seinem Verhältnis zur Politik, zur Freizeit, zur Kultur und, jedenfalls in den meisten Fällen, auch zur Religion." (Schelsky 1965: 238, auch zitiert bei Paul-Kohlhoff 1998: 15). Beruf als Begriff und als gesellschaftliches Phänomen hat sich demnach parallel mit der Industriegesellschaft etabliert, seine Bedeutung hat im Laufe der Zeit deutlich zugenommen. Eine Existenz ohne Berufsbezug ist heute - mit Ausnahme der Kinder und der Ruheständler - kaum denkbar.

 

2.2 Der Berufsbegriff in seiner Mehrdimensionalität

Bei einer Analyse der Berufsdefinitionen und -vorstellungen wird die Vielschichtigkeit sehr deutlich (siehe Übersicht 1). So scheint die Berufszugehörigkeit viele gesellschaftliche Strukturen abzubilden und die Allokation des Individuums in der Gesellschaft weitgehend zu bestimmen. Folgende Aspekte erscheinen besonders relevant: (vgl. Übersicht 1)

  • Freiheit der Berufswahl als Basis der freien Entfaltung der Persönlichkeit (GG Art. 2 und 12),
  • Beruf im Zentrum der Lebensplanung (siehe Crusius/Wilke 1979),
  • Beruf als Gliederungsprinzip der Gesellschaft (Beck/Brater/Daheim 1980),
  • Berufskonstruktion als Stabilisierung und Tradierung sozialer Rollen (Hesse 1972),
  • Beruf als Indikator der sozialen Allokation (Crusius/Wilke 1979),
  • Berufsschutz als Statuserhalt (Berufsunfähigkeitsrente (AFG § 103 II und Zumutbarkeits-Anordnung der BA vom 16.3.1982) bzw. Schadensausgleichkategorie,
  • Beruf als Bündelung von Werten in einer Erwerbsgesellschaft (Beck 1996),
  • Berufstätigkeit als Nutzung von spezifischen Qualifikationsressourcen (Maier 1996).

Zur weiteren Abgrenzung wird in Übersicht 2 auf der Basis aktueller Gegebenheiten

  • Beruf in seinen Attributen beschrieben,
  • skizziert, welche Komponenten die Berufswahl kennzeichnen,
  • und es werden die Probleme aufgezeigt, die bei verhindertem Übergang in den Erwerbsberuf entstehen.

Schließlich zeigen die Definitionen der Übersicht 1 eine Reduktion auf die ausgeübte Tätigkeit oder auf spezifische Qualifikationen. Die unterschiedlichen Elemente von Beruf sind eng miteinander verknüpft, ja gewissermaßen wohl der Kitt, der diese Vielfalt zu einem Ganzen zusammenfasst, also jene Elemente, die den Beruf ausmachen:

  • Aufgaben und Tätigkeiten
  • Erforderliche Qualifikationen und Erfahrungen
  • Genutzte Arbeitsverfahren und -techniken
  • Relevante Arbeitsmittel

[/S. 442:]

Übersicht 1: Elemente und Aspekte ausgewählter Berufsdefinitionen und -vorstellungen (des deutschsprachigen Raumes)

Autor/ Quelle wesentliche Elemente/ Aspekte der Definition
M. Weber (1925)
  • Die durch Spezifizierung und (eine typische) Kombination abgehobene Leistung einer Person,
  • die Basis einer kontinuierlichen Versorgungs- und Erwerbschance ist

Berufspädagogische Deutungen

  1. nach H.A. Hesse
  • Beruf als Chance zur Persönlichkeitsbildung und -entfaltung
  • die aus freien Stücken, der Eignung und Neigung folgend, übernommene Aufgabe
  • durch deren Erfüllung das Individuum der Gemeinschaft dient
  1. nach W. Voigt (1975) (in Anlehnung an M. Weber, 1925)
  • die durch Spezifizierung und eine typische Kombination abgehobene Leistung einer Person
  • die Chancen zur Eingliederung in gesellschaftliche Positionen, Normen und Strukturen bietet
  • aber die Fähigkeit zu kritischer Distanz und Veränderung der Strukturen einschließt
  • und die Basis für eine kontinuierliche Versorgung darstellt.
  1. nach H. Blankertz
  • Medium der Bildung· Erwerbschance
  • Kombination von Tätigkeiten
  1. nach W. Arnold
  • wertorientierte und gesinnungsmäßige Erfüllung einer Leistungsaufgabe
  1. nach A. Fischer
  • Arbeit als Zwang, Spiel, Pflicht, Gemeinschaftsdienst, Gottesdienst
  1. nach A. Huth
  • Berufsidee ist an zwei leitende Begriffe gebunden: Eignung und Leistung
Th. Scharmann (1956)
  • Entgeltliche Dienstleistung zur Befriedung materieller und geistiger Bedürfnisse
  • sie wird kontinuierlich erbracht
  • aus freien Stücken übernommen (nach Eignung/Neigung)
  • ist spezialisiert und wird erlernt
E. Ulrich, M. Lahner (1970) Drei Aspekte werden genannt:
  • der wirtschaftliche Aspekt: Die Tätigkeit, die dem Beruf zugrunde liegt, dient dem Lebensunterhalt und dem Erwerb von Gütern
  • der fachliche und stoffliche Aspekt: Das Arbeitsgebiet, die Aufgabe und das Ergebnis der Arbeit sind festlegbar und gegenüber anderen Aufgaben, Arbeitsgebieten und Arbeitsergebnissen abgrenzbar
  • der "Blumenstrauß"-Aspekt: Die Aufgaben, die Funktionen, die Tätigkeiten und Verrichtungen sind mehr oder weniger vollkommen gruppiert. Wesentlich ist, dass die Kombination ein bestimmtes charakteristisches oder institutionell festgelegtes Bild ergibt
H.A. Hesse (1972) Beruf als "Vorgabe" (der Gesellschaft) - als Aktivitätsrahmen, den das Individuum vorfindet und mitgestaltet
  • Beruf als planvoll konstruiertes Muster
  • das der Qualifizierung und dem Tausch von Arbeitskraft dient

H. Hartmann

(bei Luckmann u. Sprondel, Hrsg., 1972)

in Erweiterung des Ansatzes von H. Daheim

  • Beruf als Prozess und als Interaktionsfeld
  • als kontinuierliche Veränderung der Dimensionen "Wissen" (Qualifikation) und "soziale Orientierung"
  • wobei bezogen auf die Fixpunkte "Arbeit", "Beruf" und "Profession" typische Ausprägungen (Kombinationen) entstehen
M. Brater (1975)
  • Kombination von Arbeitsfähigkeiten, über die Berufsinhaber verfügen
  • sie werden in speziell strukturiertes Arbeitsangebot eingebracht
  • Ausdruck der gesellschaftlichen Realität und damit Organisationsform gesellschaftlicher Arbeitsteilung
G. Büschges (1975) Drei Dimensionen sind zu unterscheiden:
  • das in der beruflichen Sozialisation erworbene Arbeitsvermögen (die Berufsqualifikation)
  • die aufgrund vorherrschender Formen gesellschaftlicher Arbeitsteilung entstehenden Berufspositionen
  • die am Arbeitsmarkt nachgefragten, an person- und organisationsspezifischen Merkmalen orientierten Berufsmuster (Kombinationen)
J. Kühl, L. Pusse, B. Teriet, E. Ulrich (1975)
  • Beruf als Bündelung von Arbeitskräfteprofilelementen zu einer Einheit
DDR-Arbeitskräftesystematiken (1978) Beruf = Komplex von Voraussetzungen - Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten -,
  • der zur Ausführung gesellschaftlich notwendiger Tätigkeiten auf einem bestimmten Arbeitsgebiet erforderlich
  • und durch Berufsart und Berufsniveau gekennzeichnet ist.Tätigkeit = Teil der gesellschaftlichen Gesamtheit, die ein Werktätiger im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung überwiegend verrichtet
R. Crusius, R.M. Wilke (1979)
  • Beruf als interessenbezogenes Kriterium für das individuelle und kollektive Handeln der abhängigen Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften, das dem Rentabilitätsprinzip des Kapitals entgegengesetzt werden kann
U. Beck, B. Brater, H. Daheim (1979)
  • Beruf ist Kristallisationspunkt der beruflichen Identität
  • Struktur und Gliederungsprinzip der Gesellschaft
  • Kompetenzdomäne
Amtliche Berufsklassifizierung

(Statistisches Bundesamt Wiesbaden

1961, 1970, 1975, 1992)

  • (von der Arbeitsaufgabe her) bestimmte Verrichtungskombination
  • die zu charakteristischer Bündelung personaler Fertigkeiten und Erfahrungen führt
  • auf Erwerb ausgerichtet ist
  • wodurch der Einzelne zur Leistung der Volkswirtschaft beiträgt
H. Maier (1996)
  • ursprünglichste Form dessen, was heute "lebenslanges Lernen" bedeutet

Quelle: von Henninges, H., Stooß, F., Troll, L., Berufsforschung im IAB: In MittAB 1/1976, Seite 5 (veränderte und erweiterte Wiedergabe 1998)

[/S. 443:]

  • Werkstoffe, Materialien und Produkte, die die Berufsausübung beeinflussen
  • Betrieblicher Einsatzbereich
  • Arbeitsmilieu und -ort
  • Wirtschaftszweig bzw. Branche
  • Hierarchische Stellung im Betrieb
  • Stellung im Beruf
  • Mobilitätsstrukturen bei Einstieg und Ausstieg

Übersicht 2: Beruf als Strukturprinzip und Tauschmuster - Attribute/Befriedigungsangebote, Berufswahlkomponenten und Elemente sozialer Diskriminierung Arbeitsloser

Attribute/ Befriedigungsangebote

Berufswahl-Komponenten

Arbeitslose diskriminierende Elemente

Einen Beruf auszuüben heißt: Am Ende der Berufsausbildung entscheidet sich... Diskriminiert sind Arbeitslose durch...
eine Arbeitsaufgabe dauerhaft übernehmen, etwas Sinnhaftes tun wer in der Berufsarbeit den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen findet das Fehlen einer Aufgabe, keine sinnvolle, anerkannte Arbeit haben
spezifischen Anforderungen gerecht werden, nach denen sich Berufe voneinander unterscheiden wer durch Weiterlernen Zugang zu neuen Tätigkeitsfeldern (Zukunftsberufen) erhält nicht ausgelastet sein, seine Kräfte, Wissen und Können nicht anwenden und nutzen können (fehlende Selbstbestätigung)
eingebunden sein ins soziale Netz durch Rechtsansprüche welcher soziale Status erreichbar ist und wie er verbessert werden kann angewiesen sein auf "Sozialleistungen" (Gefahr sozialen Abstiegs!)
über eigenes Einkommen frei verfügen können welche Perspektiven sich eröffnen, ein adäquates Einkommen zu erzielen kein selbst erarbeitetes Einkommen zur freien Verfügung haben
seine berufliche Position verbessern, ggf. weit über den Berufsstart hinaus wer mit/ohne Weiterbildung in höhere Positionen aufsteigen kann fehlende Berufsperspepktiven, "Entfremdung vom Beruf", Ungewißheit, ob Rückkehr in den Beruf gelingen wird
anerkannt und sozial integriert sein, darauf soziale Kontakte aufbauen und pflegen wer "Beruf" in seiner Ganzheit, mit all seinen Attributen erfährt Verlust sozialen Ansehens, Gefährdung der sozialen Integration (Isolation!)
eine gefragte Qualifikation haben und sie bei der Berufsarbeit laufend aktualisieren wer seine Qualifikation anwenden/aufstocken und so mit der Entwicklung Schritt halten kann Risiko, den Status einer qualifizierten Fachkraft bzw. den Anschluß zu verlieren (Dequalifizierung!)
Berufliche und persönliche Identität aufbauen, sich selber verwirklichen, teilhaben an der Fortentwicklung des Berufsbildes wer im Beruf personale Identität und soziale Anerkennung (Ansehen) gewinnt bzw. seinen Lebensmittelpunkt woanders suchen muß Gefährdung personaler Identität, nicht mehr teilhaben an der Fortentwicklung der Berufemuster
 

2.3 Rolle der Berufsbenennungen

Systematische und alphabetische Verzeichnisse der Berufsbenennungen entstehen aus Befragungen, in denen die Berufsangabe im Klartext erhoben wird, und aus lexikalischen Arbeiten, durch die alle jemals aufgetauchten Berufsbenennungen dokumentiert werden. Insgesamt hat die Berufskunde der Bundesanstalt für Arbeit - bei der Einführung der Informationstechnik - in einer groß angelegten Aktion etwa 100.000 unterschiedliche Berufsbenennungen in einer Datenbank gespeichert, die im deutschsprachigen Raum vorkommen.

Die Aussagekraft der Benennungen ist recht verschiedenartig, manche bezeichnen das Arbeitsgebiet klar, präzise und allgemein verständlich, andere sind unscharf und verschwommen. Viele, zumal neuere Bezeichnungen sind wenig bekannt, was u. a. damit zusammenhängt, dass laufend neue Berufsbezeichnungen entstehen, die zunächst nur einem kleinen Kreis von Experten bekannt sind.

Die Berufsbezeichnungen transportieren vor allem die folgenden Dimensionen:

  • Die Arbeitsaufgaben und Tätigkeiten in ihrer Kombination, auf die Fertigkeiten, Kenntnisse und Erfahrungen zugeschnitten sind;
  • die Position des Individuums im Geflecht arbeitsteiliger Organisationen;
  • die Einordnung ins gesellschaftliche Wertesystem, durch die personale und soziale Identität ausgeformt wird.

Für Berufsorientierung, -beratung, Stellensuche, -angebote und -vermittlung ist es unabdingbar, dass klare Vorstellungen zu den verschiedenen Dimensionen der Berufe für alle Beteiligten verfügbar sind. Dies ist die Aufgabe der Berufskunde, die die Art und Weise der Berufsausübung laufend beobachtet und ihre Informationen zu "Berufsbildern" verdichtet. Beruf in seiner Mehrdimensionalität ist auch in der gesellschaftlichen Kommunikation präsent: "Die Antwort auf die Frage (nach dem Beruf) erleichtert die Einstufung eines Menschen innerhalb des beruflichen Wertesystems: Mag diesem System auch der Charakter von Vorurteilen oder Stereotypen anhaften." (Frieling 1980: 3)

Allerdings hat die Allgemeinverständlichkeit und die Aussagekraft der Berufsbenennung in den vergangenen Jahrzehnten abgenommen. Dies beruht vor allem auf

  • der weiteren Spezialisierung, in der sich Teilaufgaben und -tätigkeiten aus traditionellen Berufen herausgelöst haben und in neu zugeschnittenen Berufen auftreten,
  • neuen "synthetischen" Berufsbezeichnungen, die nicht mehr zur Alltagssprache werden und nur unter Eingeweihten verständlich sind,
  • der Zusammenfassung von Berufsinhalten früher getrennter Berufe in neuen sog. Hybridberufen,
  • der zunehmenden Benennung von Berufen nach dominanten extrafunktionalen Berufselementen, die sich in traditionellen Berufsbenennungen nicht ausdrücken lassen (beispielsweise Manager, Berater),
  • der "Berufskosmetik", die dazu genutzt wurde, Berufe schlechten Images durch neue Benennungen aufzuwerten, was vor allem durch Berufsverbände und Stellenanbieter erfolgte,
  • der Zersplitterung der beruflichen Bildungsangebote, in denen sich die in Konkurrenz zueinander stehenden Anbieter zunehmend neuer Berufsbenennungen bedienen, um die Besonderheit ihrer Angebote auf dem Markt zu demonstrieren,
  • der Übernahme von Benennungen aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum, sowohl bei Fachberufen (beispielsweise "Layouter" oder "Help-Desk-Operator") als auch bei Aufstiegsberufen (beispielsweise "District-Manager" oder "Art-Director"),
  • der Trennung von Berufs- und Lebenswelt, in der Berufstätigkeiten oft unter Ausschluss der Öffentlichkeit erbracht werden,

[/S. 444:] Übersicht 3: Der Wandel der Berufsstruktur von 1939 bis 1995 nach zwei Berufssektoren und 12 Berufsbereichen (Angaben in Prozent)

 

  • der Informatisierung, die bei einheitlicher Arbeitsumgebung (Bildschirm und Tastatur) kaum Rückschlüsse auf die Berufsinhalte zulässt und eine arbeitsplatzbezogene Berufsbeschreibung erschwert.

Gleichwohl bleiben die Berufsbenennungen Grundinformationen der Berufsforschung, basieren doch darauf Analysen und Aussagen zu den Haupttrends des beruflichen Wandels (Übersicht 3), ebenso aber zur Betroffenheit einzelner Gruppen und Berufe von Arbeitslosigkeit bzw. zu partiellen Arbeitskräftedefiziten und -überhängen (vgl. dazu Dostal/Parmentier/Schade 1999). Allerdings werden zunehmend auch tätigkeitsbezogene Charakterisierungen verwendet, um die Veränderung der Berufsinhalte bei stabiler Berufsbezeichnung deutlich zu machen. Dies ist ein Schritt, die hinter der Berufsbezeichnung stehende Mehrdimensionalität erkennbar zu machen.

In der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahrzehnte wurde immer wieder vermutet, dass wegen der Zentralität von Arbeit in der DDR sich die dortigen Berufsstrukturen von denen der Bundesrepublik entfernt hätten. Durch gesellschaftliche, wirtschaftliche oder technische Umbrüche, so die Annahme, seien die langfristigen Entwicklungslinien der Berufsstrukturen verändert oder sogar unterbrochen worden.

Im Zuge der deutschen Einigung wurde im IAB dieser Frage bereits früh nachgegangen: In einer im November 1990 durchgeführten Arbeitsmarktumfrage im Rahmen des Arbeitsmarkt-Monitors wurden die Berufsstrukturen in West und Ost verglichen (siehe dazu Parmentier u. a. 1992), nachdem bereits zuvor Ergebnisse aus dem Datenspeicher "Gesellschaftliches Arbeitsvermögen (GAV)" vorlagen. Die Übersicht 3 enthält u. a. eine Gegenüberstellung der Berufsbereiche in den alten und neuen Bundesländern, und es wird deutlich, dass bei der Verteilung der Erwerbstätigen nach Berufsbereichen die Unterschiede erstaunlich gering waren. Unterschiede ergaben sich überwiegend daraus, dass im Westen mehr Personen in Verwaltung- und Büroberufen, im Osten mehr Planungs- und Laborberufe zu finden waren. Daneben war die Besetzung der Berufe mit Männern und Frauen in Ost und West unterschiedlich. Insgesamt gesehen konnte also die jeweilige Gesellschaftspolitik die globalen Berufsstrukturen nur unwesentlich verändern, was deutlich macht, dass in Deutschland der Beruf und seine Interpretation offenbar eine autonome und tragfähige Kategorie ohne allzu große Beeinflussung durch gesellschaftspolitische Impulse ist.

 

[/S. 444:]

 

2.4 Zunehmende Unschärfen bei Berufsangaben

Berufsangaben müssen klar, kurz und handhabbar sein. Berufskategorien müssen den Durchschnittsbürgern wie den Personalfachleuten geläufig sein. Um welche Vorstellungen es hier geht, wird deutlich, wenn Piktogramme mit den Stereotypen der Berufsbilder Abschlussklassen an Haupt- und Realschulen vorgelegt werden. In aller Regel werden Schüler und Schülerinnen die Bilder korrekt den Berufen zuordnen.

Erfahrungen bei Großzählungen, in denen präzise Berufsangaben abgefragt wurden, zeigen in den letzten Jahren zunehmende Unschärfen. Schon bei der Berufszählung 1987 war erkennbar, dass Vorgehensweisen, die in Jahrzehnten angewendet und verfeinert worden waren, an ihre Grenzen stoßen. Die präzise Berufsangabe, die in einem Kurzprogramm prismengleich ein plastisches Bild der ausgeübten Tätigkeit erschließt, gibt es über weite Strecken nicht mehr. Allein die Frageformulierung im Mikrozensus "Welche Tätigkeit (Beruf) üben Sie aus?" weckt Zweifel: Ist "Beruf" im Sinne der personalen Identität und sozialen Verankerung gemeint oder schlicht die Bezeichnung für die tagtägliche Arbeit? Die gegebenen Antworten ergeben zumindest streckenweise Anhaltspunkte für eine Erosion des Berufsverständnisses.

Diese Unschärfen basieren einerseits auf der Verschiebung der Berufsinhalte aus den traditionellen Berufemustern hinaus, die es kaum noch möglich machen, mit traditionellen, historisch geprägten Berufszuordnungen umzugehen, sie sind aber auch Hinweis auf die zunehmende Integration von Elementen früher einzeln eingebrachter Berufe in neuen Hybridberufen. In der Klassifizierung der Berufe (1992) sind aus diesem Grunde Auffangpositionen gebildet worden, um auch die eher unspezifischen Berufsangaben zuordnen zu können. Die intensive Nutzung dieser Kategorien zeigt, dass es einen hohen Bedarf dieser eher allgemeineren Berufszuordnungen gibt.

Auf dem Arbeitsmarkt ist erkennbar, dass Stellenangebote - je nach dem Grad der Professionalisierung - sich entweder auf die Berufsangabe beschränken, oder - bei unscharfen Berufsangaben - eine größere Zahl von Berufs- und Ausbildungsabschlussbenennungen aufgeführt werden. Zusätzlich werden die Tätigkeiten und Arbeitsmittel im Detail beschrieben, indem "Spezialisten für" gesucht werden, bei denen dann die Aufgaben und Erwartungen weiter erläutert werden. Die Frage, warum diese eher offenen Angaben vermehrt auftreten, lässt sich über die folgenden Entwicklungen beantworten:

  • Die Änderungsgeschwindigkeit beim Entstehen neuer Berufe und bei der Professionalisierung hat zugenommen. Zugleich besteht im Feld sich erst entwickelnder Berufe ein besonderer Personalbedarf.
  • Die Aufgaben lassen sich nicht mehr nach alten Mustern abgrenzen, da bei der Aufgabenmischung auch Elemente aus weiter entfernt liegenden Berufsfeldern integriert werden. Der Bedeutungsgewinn extrafunktionaler Qualifikationen wird meist im Sinne einer reduzierten Arbeitsteiligkeit interpretiert. Gleichzeitig werden bei den Fachqualifikationen weitere Spezialisierungen deutlich.
 

2.5 Die Berufsklassifikation

Immer schon waren Statistik und Forschung darauf angewiesen, die Vielzahl der Berufsbenennungen systematisch zu ordnen und nach Aggregationsebenen zu einer handlichen Zahl von Einheiten zu verdichten. Dabei muss jede Benennung eindeutig einer statistischen Einheit zugeordnet werden. Die Berufsklassifikation des Statistischen Bundesamtes (StBA) wurde über Jahrzehnte als das Instrument der Erhebung, Vercodung und Verdichtung der erhobenen Berufsangaben (Berufsbenennungen) ausgebaut; sie wird in einer Fassung des Jahres 1988 nach identischen Regeln auch von den Dienststellen der Bundesanstalt für Arbeit verwendet (zu den Grenzen und den Möglichkeiten, die die Berufsklassifikation der Forschung setzt, vgl. Dostal/Parmentier/Schade 1999).

Ab der Berufsklassifikation 1970 gibt es in Deutschland keine offiziellen Berufsbeschreibungen mehr, die bei der Klassifizierung von Berufsangaben helfen können, sondern lediglich Auflistungen der in einer Einheit aggregierten Berufsbenennungen. In diesem Zusammenhang erscheint es problematisch, dass bei den Richtlinien des StBA für Interviewer zwar auf eine klare und detaillierte Berufsangabe gedrungen wird, aber keine weiteren Hilfen angeboten werden.

Im hier behandelten Kontext sei festgehalten, dass eine hierarchische, eindeutige Zuordnung von Berufsbenennungen zu Klassen etc. der komplexen Realität von "Beruf" nicht gerecht werden kann. Es zeigen sich die Probleme in großer Vielfalt, beispielsweise:

  • Beliebigkeit der Angabe: die meisten Erwerbstätigen können aus einer größeren Menge von Berufsbenennungen wählen, die alle mehr oder weniger zutreffen.
  • Dominanz der in der Berufsausbildung erworbenen Zertifikate, die nicht immer den ausgeübten Beruf charakterisieren.
  • Antizipation der Berufsbewertung bei der Berufsangabe in sensiblen Situationen, wie dies in der Berufsprestigeforschung deutlich wird.

Dennoch ist insbesondere für quantitative Angaben eine eindeutige Zuordnung von Belang, sodass bei aller Problematik auf derartige Zuordnungen nicht verzichtet werden kann. Allerdings zeigen sich dann bei dem Vergleich unterschiedlicher empirischer Ergebnisse erhebliche Abweichungen (siehe dazu Troll 1981), wie auch bei eher minimalen Veränderungen der Systematik große Zuordnungsprobleme auftauchen (beispielsweise beim Wechsel von der 70er Berufssystematik zur 82er).

Diese Probleme treten nicht allein bei Berufsangaben auf, sondern überall dort, wo Systematiken eine klare Zuordnung verlangen, beispielsweise bei der Angabe des Sektors, der überwiegend ausgeübten Tätigkeit oder anderer tätigkeitsnaher Kategorien, wie auch bei Produktklassifikationen und in anderen Statistikbereichen.

 

2.6 Berufsbeschreibungen durch die Berufskunde der Bundesanstalt für Arbeit

Mit dem Ziel, Grundlagen für Fragen der Berufsberatung, der Arbeitsvermittlung, der Berufsaufklärung und der beruflichen Rehabilitation zu erarbeiten, werden in der Arbeitsverwaltung seit über sieben Jahrzehnten detaillierte Analysen und Materialsammlungen durchgeführt.

Die Ergebnisse solcher berufskundlicher Ermittlungen haben zu Einzelbeiträgen und zusammenfassenden Beschreibungen geführt und berufskundliche Archive gefüllt. Als Pionierleistung auf berufskundlichem Gebiet kann das vom [/S. 446:] Landesarbeitsamt Sachsen-Anhalt und später von der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung in den Jahren 1927-1936 herausgegebene mehrbändige Werk "Handbuch der Berufe" gesehen werden. In einem "interdisziplinären" Vorgehen (berufshistorische, arbeitswissenschaftliche, psychologische, soziologische, medizinische, arbeitsmarktorientierte Aspekte sind berücksichtigt worden) wurden unter Mitarbeit anderer Landesarbeitsämter, einzelner Arbeitsämter sowie einschlägiger Berufsorganisationen umfassende "Berufsmonografien" erstellt.

In diesem umfangreichen Werk, das in der damaligen - auch fremdsprachlichen - Literatur nicht seinesgleichen hatte, deutete sich bereits eine Strukturierung an. Bestandteile waren eine "allgemeine Berufskunde" mit den Teilgebieten Berufsgeschichte, Berufsnomenklatur, Berufsgliederung, Berufsstatistik sowie eine "spezielle Berufskunde", deren Schwergewicht beim Erkennen der speziellen Einzelheiten der Berufe (z. B. Aufgabe, Tätigkeiten, Qualifikationen etc.) lag. Dementsprechend differenziert war auch das Gliederungsschema des "Handbuch der Berufe", das in Übersicht 4 wiedergegeben wird.

In den fünfziger Jahren formulierte Arimond (1959) seine "Theorie der Berufskunde": Ausgehend vom damaligen gesetzlichen Auftrag: "Die Bundesanstalt hat die Berufsberatung durch allgemeine Maßnahmen und Berufsaufklärung zu ergänzen und zu unterstützen", sah die Berufskunde ihre Aufgabe vor allem darin, möglichst alle Eigenschaften, die dem Betrachtungsgegenstand "Beruf" eigen sind, genau zu beschreiben, um die Ratsuchenden umfassend zu informieren. Aus den sich hieraus ergebenden Aspekten und Betrachtungsweisen unterschied Arimond eine

  1. Historische Berufskunde
  2. Systematische Berufskunde
  3. Psychologische Berufskunde
  4. Soziologische Berufskunde
  5. Pragmatische Berufskunde

Die "Pragmatische Berufskunde" setzt sich einerseits mit der Frage nach dem geistigen und materiellen Aufwand, der zum Eintritt in einen Beruf notwendig ist und andererseits mit der Problematik der Berufsaussichten und Einkünfte, die sich aufgrund dieses Aufwands ergeben, auseinander.

In Nachfolge der im "Handbuch der Berufe" begonnenen Grundlagenarbeit und mit dem speziellen Ziel, den vor der Berufswahl stehenden Jugendlichen Orientierungs- und Entscheidungshilfen zu geben, entwickelte die Berufskunde der Arbeitsverwaltung die "Blätter zur Berufskunde" (Gliederungsschema siehe Übersicht 4). Als Gesamtdokumentation sind diese Berufsbeschreibungen eine wesentliche Grundlage für die Beratungs- und Vermittlungsdienste und dürften mit derzeit mehr als 800 Heften die wohl umfassendste Sammlung berufskundlicher Beschreibungen in der Bundesrepublik Deutschland darstellen. Die Bestimmung der Inhalte dieser berufskundlichen "Monografien" wird teils in Zusammenarbeit mit berufserfahrenen Fachleuten, teils aber mithilfe berufskundlicher Arbeitsplatzanalysen gewonnen. Vor allem letztere Methode sah Molle (1965) als erstrebenswert an. Seiner Ansicht nach kann die Zufälligkeit einer selektiven Arbeitsplatzbeschreibung nur dann ausgeschaltet werden, indem alle Arbeitsplatzvariationen soweit wie möglich erfasst werden, und zwar durch die Analysen entsprechender Aufgaben und Tätigkeiten an einer größeren Zahl von in ihren Kernaufgaben her gleichartigen Arbeitsplätzen.

Übersicht 4: Gliederungsstruktur für Berufsbeschreibungen der Berufskunde

 

[/S. 444:] Ausgehend von diesem Verständnis sahen Stooß/Stothfang (1985) die Aufgabe der Berufskunde als systematisches Sammeln, Aufbereiten und Dokumentieren berufsbezogener Fakten und deren fortlaufender Aktualisierung. Diese Gedanken fanden ihren Niederschlag in dem seit Ende der siebziger Jahre entstehenden berufskundlichen Nachschlagewerk "Grundwerk Ausbildungs- und berufskundlicher Informationen - gabi -". Dieses Werk enthält umfassende und detaillierte Berufsinformationen und wird vor allem in der Beratungs-, Informations- und Vermittlungsarbeit eingesetzt (Gliederungsschema siehe Übersicht 4). Seit 1995/96 wird die gabi-Printfassung von einer DV-Version mit reduzierten Inhalten abgelöst.

Aktuelle Überlegungen der Berufskunde zielen vor allem in Zusammenhang mit neuen multimedialen Techniken auf einen so genannten "integrierten Datenpool Beruf", in dem sämtliche Informationen der Berufskunde zusammengefasst werden.

 

3. Beruf in seinem Stellenwert für Individuum, Wirtschaft und Gesellschaft

Im vorangehenden Teil wurde dargelegt, welche Aspekte bei der Definition des Berufs über Jahrzehnte hinweg im Vordergrund standen. Aus diesen Deutungen (siehe Übersicht 1 und 2) seien nun jene Elemente herausgearbeitet, die für Individuum, Wirtschaft und Gesellschaft besondere Relevanz haben.

 

3.1 Beruf als Tauschmuster und Arbeitsmarktregulator

Die individuellen Arbeitsvermögen werden auf Strukturen bezogen, in denen Erwerbsarbeit angeboten und entlohnt wird. Darauf fußen viele Definitionen des Berufs. Beispielsweise formuliert Hesse (1972: 130 f.):

"Berufskonstruktion soll heißen ein planmäßiger Vorgang zur Konstruktion von Mustern zur Qualifizierung und zum Tausch von Arbeitskraft,

  • an dem berufsfremde Interessen maßgeblich beteiligt sind
  • und das Interesse der Arbeitskraftbeschaffung vor allem auf die Sicherung von Qualifikationserwartungen zielt."

"Professionalisierung soll heißen ein planmäßiger Vorgang zur Konstruktion von Mustern zur Qualifizierung und zum Tausch von Arbeitskraft,

  • an dem die Berufsangehörigen maßgeblich beteiligt sind
  • und das Interesse von Arbeitskraftverwertung vor allem auf die Sicherung und Steigerung von Entschädigungschancen zielt."

Dieselbe Argumentation liefern Beck/Brater/Daheim (1980: 37), wenn sie die "subjektbezogene Arbeitsorganisation" als die für Verhältnisse des Warentausches charakteristische Form interpretieren, die zu dauerhaft institutionalisierten Kombinationen und Abgrenzungen vor Arbeitsfähigkeiten bzw. Tätigkeiten führe, "die als "Arbeitskräftemuster" von Individuen übernommen werden." Ein Modus, der die "Berufsform" der Arbeitsverteilung derartig bestimme, "dass wir sagen können: Der Beruf ist die Form, in der inhaltlich besondere Fähigkeiten als Ware angeboten werden. (...) Dominantes Gestaltungsprinzip der Berufsform ist ... die Vermarktbarkeit der Arbeitskraftangebote. Dieses Prinzip bestimmt zunächst auch die Herausbildung der Einzelberufe." (a.a.O.: 39)

Arbeitsfähigkeiten, gebündelt im Zuschnitt der institutionalisierten Kombinationen, die der Einzelne durch Berufsausbildung, berufliche Weiterbildung und/oder Einarbeitung erworben hat, werden am Arbeitsmarkt in Form von Berufen mit speziellen Berufsbenennungen angeboten. Andererseits werden Qualifikationserwartungen der Betriebe, die Arbeitskräfte suchen, in ebensolcher Form als Stellenangebote formuliert. Alle derartigen Benennungen, die spezifischen Arbeitsplatzprofile im Betrieb bzw. das spezifische Arbeitsvermögen der Individuen kennzeichnen, werden im deutschen Sprachraum dann unter "Beruf" subsumiert, wenn sie mit einer Benennung bezeichnet werden können und keine umfangreichere Beschreibungen erfordern.

Die Berufsausbildung und das dort erworbene Qualifikationsprofil wirken demnach als erste Zuschreibung des Fachberufs. Unterhalb der Hochschulebene sind Freisprechungsfeiern am Ende der Lehrzeit heute noch ein blasses Abbild ursprünglicher Initiationsriten, wie sie früher den Übergang der Jugend in die Erwachsenenwelt markierten. Diplome und Abschlusszertifikate bilden aber immer noch den Nachweis fachlicher Kompetenz; Handwerker dokumentieren sie öffentlich mit dem im Verkaufsraum ausgehängten Meisterbrief.

Berufskonstruktion, Verankerung der Ausbildungsprofile in Rechtsverordnungen, Erlasse der Kultusministerien zur schulischen Berufsausbildung, Studien- und Prüfungsordnungen der Hochschulen, Landes- und Bundesgesetze, die den Zugang zu Berufen an staatliche Examina binden, all dies sind beredte Zeugnisse dafür, wie sehr Berufsausbildung konstitutives Merkmal der Beruflichkeit ist. Möglicherweise haben sie die Flexibilität von betrieblicher Berufsallokation reduziert.

Betriebe würden möglicherweise offenere Zuweisungen wie Modularisierung und Bausteinsysteme bevorzugen, um sich nicht mit den starren und überkommenen beruflichen Strukturen auseinander setzen zu müssen. Allerdings erfordert dies besondere Bemühungen, bei der dann aufscheinenden Vielfalt die jeweiligen Kombinationen prägnant, für jedermann verständlich zu benennen. Welche Bezeichnung wäre dann in der Lage, die Fachqualifikation der Personen zu beschreiben?

Neuerdings tritt der aus dem anglo-amerikanischen Raum eindringende "Job" samt dem ihm zugeschriebenen "Jobdenken" neben den Beruf. Aus der Sicht tradierter Beruflichkeit wird dem Job immer noch eine eher negative Bedeutung zugemessen, wonach Job und Jobben als auf reinen Gelderwerb zielend angesehen werden, ohne dass ein Eintauchen in die Beruflichkeit in allen ihren Dimensionen erfolgt. Die Dauerbindung, die Identifikation mit der Arbeitsaufgabe und dem Unternehmen, die Sinnfindung in der Arbeit kann der Job nicht leisten, er orientiert sich am kurzfristigen Nutzen. Allerdings ist zu beobachten, dass die Vorliebe für Anglizismen oft dazu verleitet, von Job zu reden, wo es im Grunde genommen um Beruf geht.

Berufe und ihre Benennungen bündeln die vielfältigen Fähigkeiten von Menschen, wie auch die Aufgaben, die an Arbeitsplätzen auftreten, in programmatischer Form. Berufe mit ihren Benennungen werden zur Kommunikationsbasis über den Arbeitsmarkt und die Beschäftigung, sind Tauschmuster, nach denen Bedarf signalisiert, Angebot ermittelt und Marktausgleich erfolgen kann.

 

3.2 Die emanzipative und rechtliche Bedeutung von Beruf

Die Diskussionen Ende der 70er Jahre über den Bedeutungsverlust des Berufs und seine Verdrängung durch den [/S. 448:] Qualifikationsbegriff, auch die Hervorhebung des kurzfristig definierten Jobs haben eine Neubesinnung über die Bedeutung von Beruf ausgelöst. In ihrem "Plädoyer für den Beruf" haben Crusius und Wilke (1979: 3) Leerfelder der aktuellen Berufsbildungsdiskussion, "die für die weitere Entwicklung in dieser Gesellschaft gefährlich werden können", bezeichnet und dargelegt, "dass eine neue, vom Berufsbegriff ausgehende Akzentuierung der Berufsbildungs- und Arbeitsmarktdiskussion notwendig ist." Beruf könne nicht Privileg einer elitären Minderheit sein, die eine erfolgreiche Berufs- und Standespolitik zu betreiben in der Lage sei. Plädiert wird für "die Wiederentdeckung des Berufs als dem interessenbezogenen Kriterium für das individuelle und kollektive Handeln der abhängig Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften, das ... dem Rentabilitätsprinzip des Kapitals entgegengesetzt werden kann." (a.a.O.: 7). Arbeiter, Angestellte und Beamte identifizierten sich mit dem Beruf, auf den sie ihre materiellen Ansprüche, ihr Selbstbewusstsein und ihre betrieblichen Rechte gründen, denn "Begriffe sind auch soziale Wirklichkeit, in ihnen wird sie gedacht und erlebt" (a.a.O.: 8).

Die emanzipative Bedeutung von Beruf erschöpft sich nicht im Interessenabgleich zwischen Arbeitnehmervertretern und Arbeitgebern. Beruf ist - zumindest bisher - ein Wesensmerkmal spezifischer Erwerbsarbeit in abhängiger Position und bietet Subsistenzsicherung und gesellschaftliche Integration. Zentrale Rechtsnormen basieren auf derartigen Attributen des Berufs. Schon frühe Deutungen haben den Beruf als erwerbszentrierte Kombination von Verrichtungen, als Erwerbs- und Versorgungschance beschrieben. Ohne dass die deutsche Verfassung es expressis verbis formuliert, postulieren das Sozialrecht und das Sozialhilferecht die Eigenverantwortung des Individuums für die Subsistenzsicherung bzw. die Subsidiarität bei sozialen Unterstützungsleistungen. Das Grundgesetz verbürgt die Wahrnehmung der Erwerbschancen und der Versorgung unmittelbar und direkt durch folgende Elemente:

  • mit der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG), die Vereinigungen (Verbände) für alle Berufe zur Wahrung der Arbeitsbedingungen ausdrücklich erwähnt,
  • mit der Freiheit des Berufs (Art. 12 Abs. 1 GG), nach der Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei gewählt werden können,
  • mit der Gewährleistung des Privateigentums und des Erbrechts (Art. 14 Abs. 1 GG), mit der die Früchte einer erfolgreichen Berufstätigkeit genossen und weitergegeben werden können.

Der letzte Aspekt ist in wissenschaftlichen Analysen im Kontext der Beruflichkeit kaum thematisiert worden, allerdings von der Bildungsökonomie, die in ihrer Ausrichtung um die individuellen Humankapitalzurechnungen (siehe dazu Becker 1964) durchaus derartige Vermögensgewinne berücksichtigt. Ausbildung und ihre berufliche Verwertbarkeit werden unter dem Aspekt der Humanressourcen und ihrer nachhaltigen Entwicklung zu Investitionen der Individuen und der Wirtschaft als Ganzes, die - werden sie gepflegt und optimal genutzt - Standortvorteile im Wettbewerb bieten, im negativen Fall zu Fehlinvestitionen für Unternehmen und Individuen führen.

Die Grenzen, die die Verfassung einem Abbau an Beruflichkeit der Erwerbsarbeit setzt, sind bislang nur zum Teil ausgelotet. Mit dem ab Januar 1998 novellierten Arbeitsförderungsgesetz sind sie im Kontext mit der Frage neu bestimmt worden, welche Abstriche an Beruflichkeit Einzelne dann hinnehmen müssen, wenn sie Leistungen der Sozialversicherung in Anspruch nehmen. Die Anwendung der Neuregelung und einschlägige Urteile werden zeigen, in welchem Umfang das im Beruf konstituierte Bündel der Arbeitsfähigkeiten, der Subsistenzsicherung, der personalen und sozialen Identifikation zur Disposition steht, bzw. wann und in welchem Umfang Hilfen der Versichertengemeinschaft gewährt werden, die eingetretene Minderungen der Erwerbsbefähigung und des sozialen Status auffangen oder abfedern.

 

3.3 Beruf als Mittel zur sozialen und personalen Identifikation

In welchem Umfang über Beruf soziale Wirklichkeit gedacht und erlebt wird, ist bereits skizziert worden. In Übersicht 2 wurde versucht, aus den Deutungen und Zuschreibungen des Berufs folgendes abzuleiten,

  • welche Attribute im Beruf präsent sind, was einzelne aus ihrer Berufsarbeit gewinnen, welche Perspektiven sie erschließt und welcher Art die Verantwortung ist, die ihnen als "Berufsmenschen" zukommt,
  • welche Komponenten eine erfolgreiche Berufswahl kennzeichnen, woran zu messen ist, ob die ihr zugeschriebene Funktion der Integration ins Arbeitsleben gelungen ist bzw. welche Defizite an Berufsförmigkeit am Ende der Ausbildungsphase auszugleichen wären,
  • schließlich welcher Art die Ausgrenzung/Diskriminierung von Arbeitslosen ist, wie weit der - zunächst nur temporäre - Berufsverlust geht, und welche Risiken zu gewärtigen sind, dauerte die Erwerbslosigkeit an oder misslänge die Reintegration im Umfeld des erworbenen und ausgeübten Berufs.

In diesem Kontext stehen Analysen, die Berufe nach dem Grad der Autonomie und möglichen Selbstverwirklichung eingruppieren. Hier geht es vor allem um die Gestaltbarkeit der Arbeitsvollzüge, die starre Berufsdefinitionen nicht zulassen, sondern eine Individualisierung beruflicher Ausrichtung erfordern. Persönlichkeitsförderliche Arbeitstätigkeiten (siehe dazu Ulich 1991) lassen sich - bezogen auf das Individuum - nur dynamisch definieren und abgrenzen, was zugleich zu einer offenen Berufszuweisung bzw. -modifikation und zu dynamischen Berufsbildern führen muss (siehe dazu Heidegger/Rauner 1997: 20 ff.).

Auch das Ausmaß der sozialen Anerkennung von Berufen lässt sich hierarchisch stufen und in einer Prestigeskala abbilden. Treiman (1979: 124 ff.) hat Messergebnisse zum Berufsprestige international verglichen und stellt eine hohe Übereinstimmung fest: "Mit den Daten von 55 Ländern betrug die durchschnittliche Korrelation zwischen Paaren von Ländern 0,81, was als sehr hoch angesehen werden muss." Beruf scheint also immer auch Prestige und soziale Anerkennung zu signalisieren.

Berufliche Mobilität könnte Beruflichkeit relativieren. Sofern die soziale Integration des Einzelnen über eine stabile Berufszugehörigkeit erfolgt, müssen Mobilitätsphänomene sehr differenziert bewertet werden. Das IAB hat immer wieder Erwerbstätige befragt, ob sie - und wie oft - ihren Beruf gewechselt hätten und ob sie im neuen Beruf die in der Ausbildung erworbenen Qualifikationen verwerten könnten. Bei der letzten Erhebung (Jansen/Stooß 1992: 35 ff.) ergab sich bei Fachkräften mit betrieblicher Berufsausbildung ein durchschnittlicher Anteil

[/S. 448:]

  • von 31% unter den ein- bzw. mehrmaligen Berufswechslern in Westdeutschland,
  • von 43% unter den ein- bzw. mehrmaligen Berufswechslern in Ostdeutschland.

Schließlich ist Beruf in Deutschland zum Vehikel für die Gleichberechtigung der Frau im Erwerbsleben geworden. Die gleiche Teilhabe an Erwerbsarbeit erfordert auch die Einordnung in Berufemuster. Berufe waren ja zuvor von Männern erdacht und gemacht, um außerhalb der Familie zu agieren und sich Geltung zu verschaffen.

Dauerhafte und gleichberechtigte Integration der Frau ins Erwerbsleben wirft damit berufsbezogene Fragen auf, stellt vorherrschende Deutungen in Frage, denn ohne eine Neuverteilung der Rollen in der Familie und beim Aufziehen von Kindern und in der Partnerschaft droht Frauen Überforderung bzw. ein phasenweiser Rückzug aus dem aktiven Berufsleben mit all den negativen Auswirkungen, die in der Frauenforschung thematisiert worden sind. Allein neue Erwerbsformen und Rollenbilder, die gleichermaßen für Männer und Frauen gelten, werden auf Dauer soziale Ungleichheit zwischen Männern und Frauen mindern und der derzeit erkennbaren hierarchischen Abstufung nach Einfluss, Ansehen, Einkommen und Karrieremustern ihre Schlagseite nehmen, die zur Pyramidenspitze hin immer mehr männerdominiert ist.

 

3.4 Beruf als Raum für Aufgaben- und Pflichterfüllung

In der Berufswahl sind es oft die berufspädagogischen Deutungen des Berufs, die in individuellen Interessen und Fähigkeiten jene Variablen sehen, nach denen entschieden wird (bzw. werden sollte), welcher Beruf und welche Ausbildung ergriffen werden sollte. Darauf beruhen die Berufswahltheorien (Bußhoff 1992: 77 f.), die Berufswahl als Abgleich verstehen, bei dem zu klären sei, wo Einzelne ihre Interessen und Fähigkeiten optimal entfalten (Matching-Prozess), bzw. in welcher Weise sie ihr Selbstkonzept mit dem "Umweltkonzept" abstimmen (Berufswahl als Lern-, Entwicklungs- und Entscheidungsprozess) könnten.

Die Verschränkung sozialer Erwartungen und individueller Bemühungen ist bei Ableitungen des Berufs und der Berufsidee immer wieder im Nebeneinander von Aufgaben und Pflichten, die Einzelne der Gesellschaft gegenüber zu übernehmen haben, erörtert worden. In den Jahren um 1920 ist dies mit Vokabeln vom "Dienen" und "Dienst an der Gesellschaft" beschrieben worden, die ob des damit verbundenen Missbrauchs heute eher als Zumutung denn als Umschreibung einer sinnvollen Kongruenz individuellen und sozialen Bestrebens gelten mögen. Allerdings sind jüngste Änderungen des Sozialrechts u. a. auch als Rückgriff auf die damit thematisierten Pflichten gegenüber dem Gemeinwesen interpretierbar, wie dies aus der Begründung des Regierungsentwurfs zum AFRG aufscheint, wenn Pflichten der Arbeitnehmer präzisiert und im § 2, III des SGB III festgeschrieben werden.

3.5 Berufsschutz als Element sozialer Stabilität

Lebensversicherungen können seit Jahrzehnten mit der Absicherung des Risikos der Berufsunfähigkeit kombiniert werden. Ein Berufsschadensausgleich (Berufsunfähigkeitsrente) wird gewährt, wenn nach einem Unfall oder einer Krankheit die Rückkehr in den zuvor ausgeübten Beruf nicht mehr möglich ist und neben Einkommenseinbußen der Verlust des sozialen Status droht. Eine Berufsunfähigkeitsrente wird allerdings nicht fällig, soweit den Versicherten "Verweisungsberufe" offen stehen, deren Ausübung die Einkommensminderung und den Statusverlust auf das "zumutbare" Maß begrenzen können (siehe dazu Blaschke/Plath 1994: 301 f.).

Einen Berufsschadensausgleich durch eine Berufsunfähigkeitsrente hat bislang auch das Rentenrecht für ausgebildete Fachkräfte bei gesundheitlich bedingtem Berufsverlust vorgesehen.

Daneben sind Rechtsnormen entwickelt worden, nach denen Arbeitslose, die im bisherigen Beruf nicht mehr unterkommen, bei Arbeitssuche und Vermittlung mindere Bedingungen akzeptieren müssen, wollen sie nicht ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld verlieren.

In allen drei Bereichen wurde der Beruf als schutzwürdiger und existenzsichernder Tatbestand definiert, der vergleichbar ist mit dem Eigentum an materiellen Gütern. Vorstellungen darüber, welche Minderung beim sozialen Status, beim Einkommen und bei der Verwertbarkeit der Fachqualifikation in darauf abgestimmter beruflicher Tätigkeit hinzunehmen seien, bestimmen sowohl Grenzen des für den einzelnen Zumutbaren als auch den Schadensausgleich bei gegebenem oder drohenden Berufsverlust. Grundlage für den Schadensausgleich ist jeweils der "Fachberuf", der über die Ausbildungsberufe nach dem Berufsbildungsgesetz (BBiG), über vom Kultusministerium anerkannte Fachberufe, oder über Bundes- und Landesgesetze geregelte Ausbildungen und Berufsausübungen in Gesundheits- und Sozialberufen definiert ist. Beruf als elementare Einheit von Ausbildung, Ausübung, Aufbau und Aufstieg wird auf diese Weise zum Nukleus von Vorstellungen, nach denen

  • die gesundheitlich bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit - und Berufsverlust durch Arbeitslosigkeit - als ein Schadensfall gilt,
  • der auszugleichen oder vom Betroffenen hinzunehmen ist, soweit sich der Verlust an Einkommen, Ansehen usw. in zumutbaren Grenzen hält.

Das basiert auf den folgenden beiden Prämissen:

  • Fachberufe werden durch staatlich anerkannte Abschlusszertifikate, teils ergänzt um die Berufszulassung, individuell zugeschrieben. Danach bemessen sich Status, Ansehen sowie Einkommenshöhe und Möglichkeiten der Anpassungs- und Aufstiegsfortbildung.
  • Fachberufe legen fest, in welcher Enge oder Bandbreite Zugang zum jeweiligen Betätigungsfeld besteht.

Daraus wurden Vorstellungen darüber abgeleitet, in welchen Tätigkeitsfeldern Bedingungen herrschen, die an Verweisungsberufe bzw. an zumutbare Berufe zu stellen sind. Grundsätzlich basiert der Berufsschutz auf dem Kongruenzprinzip, wonach Normen zur Berufsausbildung das Profil der zugehörigen Arbeitsplätze und dort Einkommenshöhe, Status und damit die Allokation des Einzelnen bestimmen. Wird Beruf nicht mehr als Realität gesehen und interpretiert und durch andere Realitäten im Erwerbssystem verdrängt, müsste der Berufsschutz zu einem nachrangigen Rechtsgut absinken, was wegen der bislang nicht gefestigten Rechtsprechung ohnehin erkennbar gewesen sei (Hesse/Filthuth 1993: 529 ff.). Als Folge dieser Entwicklung ergibt sich die Aufweichung des Berufs an sich und der mit ihm verbundenen Elemente, also Berufswahl, Berufsausbildung, Berufsausübung sowie Anpassungs- und Aufstiegsfortbildung.

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4. Auflösungstendenzen von Beruf

Beruf als Element der Arbeitsgesellschaft kann nur so stabil sein wie die Arbeitsgesellschaft selbst. Marx wurde schon erwähnt als Kritiker berufsbezogener "überzogener" Arbeitsteiligkeit, die zur Entfremdung führe. Auch heute, nach einigen Jahrzehnten Arbeitspsychologie und Arbeitswissenschaft mit dem Idealbild der umfassenden, breit angelegten, persönlichkeitsförderlichen Arbeitstätigkeit, werden enge Arbeitsvorgaben mit eingegrenzter beruflicher Struktur eher als überholt angesehen. Insbesondere anspruchsvolle Aufgaben ließen sich nicht mehr in traditioneller Weise in eher eng abgegrenzte Berufe gießen.

Daneben geht Beck (1996: 140) noch weiter, wenn er in allen nachindustriellen Gesellschaften einen Kapitalismus ohne eine Dominanz von Erwerbsarbeit heraufziehen sieht. Er hält den bevorstehenden Aufschwung der Dienstleistungsgesellschaft für einen der Mythen, die die Debatte von diesem Phänomen abschirme. Der Verlust der Arbeitsplätze führe in eine Situation, die durch Unsicherheit - ein Signum der Zeit - gekennzeichnet sei. Der "Beruf fürs Leben" drohe auszusterben. "Dass damit eine Wertewelt - die Welt der auf Erwerbsarbeit zentrierten Gesellschaft - untergeht, will niemand wahrhaben."

Stirbt aber mit dem stabilen Lebensberuf der Beruf - im deutschen Sinne und im deutschen Sprachraum mit dem ihm eigenen Verständnis - schlechthin? Sind Arbeitsmarkt, Arbeitsplätze, Qualifikationsprofile, Statusmuster, Ausbildungen, Weiterbildungen in Kategorien jenseits der Termini zu beschreiben, die gemeinhin "Beruf" genannt werden? Steht und fällt der Beruf mit seiner Ganzheitlichkeit sowie seiner Dauerhaftigkeit oder lässt er sich reduzieren auf jene konstitutiven, jedweder Erwerbsarbeit eigentümlichen Elemente, wie sie anderwärts unter "Job" oder "Occupation" subsumiert werden? Wird also das bewährte Normalarbeitsverhältnis obsolet? Stirbt der Beruf als allgemeine Kategorie aus, während in Nischen die Profession - im klassischen Sinne als monopolisierte Dienstleistung mit streng geregeltem Zugang über akademische/staatliche Examina - überlebt?

Wenn der Beruf am Ende wäre (Geissler/Orthey 1998), dann könnte sich dies in den folgenden Aspekten zeigen.

 

4.1 Verlust der Dauerhaftigkeit

Ganz offensichtlich wird das Signet "Dauerhaftigkeit" für das Phänomen Beruf derzeit in Frage gestellt. Einvernehmen besteht darüber, dass die Zeiten dahin sind, in denen der Beruf einmal erlernt wird, den man dann - so eine Bezeichnung aus der Schweiz aus den 70er Jahren - in "Berufstreue" bis zum Ruhestand ausübt. "Der Begriff des Berufs vor allem spiegelt in dynamischen Gesellschaften nicht mehr den Inhalt oder die Anforderungen einer Position im Erwerbsleben wider. Besser brauchbare Kategorien stehen in der Erwerbsstatistik jedoch nicht zur Verfügung." (Mertens 1974: 38). Und schon im Jahresgutachten 1965 hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung formuliert a.a.O.: 161 f.):

"Eine Ausbildung, die sich auf einen Lebensabschnitt beschränkt, kann der Entwicklung des Wissens und dem Wandel der beruflichen Anforderungen nur unvollkommen gerecht werden ... Maßnahmen, die Fortbildung und Umschulung anregen, erleichtern und begünstigen, werden deshalb in Zukunft für ein angemessenes Wirtschaftswachstum kaum entbehrlich sein. ... angemessenes Wachstum erfordert den Wandel der Strukturen, der Wandel der Strukturen jedoch Menschen..., die ihn treiben und ihn tragen. Die "zünftlerische" Vorstellung von einem Beruf, dem man gleichsam von der Wiege bis zur Bahre verpflichtet ist, wird der Zukunft noch weniger gerecht als der Gegenwart."

Der hier konstatierte Verzicht auf den Lebensberuf entspricht der Erfahrung, dass das Attribut "lebenslange Stabilität der Beschäftigung" als eine dem Beruf zugeschriebene Funktion, schon seit Jahrzehnten nicht eingelöst worden ist oder werden konnte. Die Mobilitätsforschung des IAB (siehe dazu Hofbauer 1972 und 1981, Kaiser 1972 und 1975) hat immer wieder darauf hingewiesen, in welch großem Ausmaß - vor allem unterhalb der akademischen Berufe - Berufswechsel zum Alltag geworden ist. Zu Beginn der 90er Jahre waren von den betrieblich ausgebildeten Fachkräften nur 55% im erlernten oder in einem diesem verwandten Beruf beschäftigt, von den Übrigen, die in andere Tätigkeiten eingemündet sind, konnte nur jede(r) Dritte Wissen, Können und Erfahrung aus dem erlernten Beruf nutzen. Dies bedeutet, dass 30% aller Absolventen einer Berufsausbildung auf BBiG-Niveau einen Erwerbsweg hinter sich haben, in dem ihre in der Ausbildung erworbenen Qualifikationen weitgehend oder völlig entwertet worden sind.

Aus diesen Entwicklungen wird die Forderung abgeleitet, Berufsqualifikation und Berufsabgrenzung offen zu halten, laufende Aktualisierungen vorzunehmen und Beruflichkeit auf eine breite Basis langfristig stabiler und damit eher allgemeinerer Inhalte zu beziehen, statt auf ad hoc eingebrachte spezielle Verrichtungen. Unklar ist, wie in diesem Zusammenhang die Wirkung des Strukturwandels und der berufsspezifischen Arbeitsmärkte einzuschätzen ist. In der Mobilitätsforschung wird deutlich, dass es auf die Werthaltungen im Umfeld der Erwerbstätigkeit ankommt, und dass möglicherweise die Betriebstreue und der Verbleib im regionalen Bezug höher bewertet werden als die Treue zum Beruf.

 

4.2 Gefährdungen beruflicher Identität

Würde auf Berufe im Erwerbsleben verzichtet oder gingen sie, aus welchen Gründen auch immer verloren, dann stünde auch die berufliche und personale Identität, die über den Beruf und die dort erlebte Selbstverwirklichung und Sinnerfüllung gestiftet wird, zur Disposition. Bislang war der Beruf ein Signet dafür, wo jemand Experte sei, wovon er/sie etwas verstehe, wo Kompetenz, Routine und Erfahrung, ja Könnerschaft vorhanden sei, die ständig auch durch hohe Arbeitsleistung bewiesen werde. Damit sind - meist dem Facharbeiter zugeschriebene, in allen anderen Statusbereichen ebenfalls relevante - Eigenschaften verbunden, beispielsweise die Verantwortung für die Produktqualität, die Identifikation mit dem Produkt oder dem Betrieb. Deutlich wird dies in der tiefen Verachtung jeglicher Art von "Pfusch", mit der auch der Berufsstolz ausgedrückt wird.

Möglicherweise werden hier glorifizierende Strukturen und Werte aus dem Handwerksbereich in die Gegenwart übertragen, die in der betrieblichen Wirklichkeit mit rigiden Vorgaben und hoher Arbeitsteiligkeit nur am Rande bedeutsam waren und jetzt - wo die Einsatzflexibilität auch innerhalb der Unternehmen über traditionelle Berufsgrenzen hinweg eine wichtige Rolle spielt - kurzerhand abgestoßen werden.

Die Modelle persönlichkeitsförderlicher Arbeitsgestaltung versuchen zwar durchaus, die berufsfachlich strukturierte Identität zu erhalten oder neu aufzubauen, doch sie stützen sich nicht auf traditionelle Berufsabgrenzungen, sondern [/S. 451:] empfehlen Aufgaben- und Tätigkeitsstrukturen, die oftmals quer zu überkommenen Berufen liegen. Daraus ergibt sich in der ersten Runde eine Tendenz zum Verzicht auf - konventionell - abgegrenzte Berufe. In einer zweiten Runde werden neue Berufsschneidungen vorgeschlagen, die der jeweiligen Aufgabenmischung und Arbeitsteiligkeit eher entsprechen. Diese Modelle haben aber die Tendenz zur Anreicherung und zunehmenden Komplexität der Aufgaben, sodass nur das obere Segment der Erwerbstätigen in der Lage ist, diese anspruchsvollen Strukturen abzudecken. Für das untere Segment ergeben sich aber Probleme: Gerade jene Personen, die den Beruf nötig als identitätsstiftendes Element brauchten, da sie in anderen Gesellschaftsbereichen nicht in der Lage waren, auf feste Einbindungen zurückzugreifen oder sie aufzubauen, verlieren offenbar mit der anspruchsvollen Neudefinition der Arbeitsstrukturen den einzigen noch zugänglichen Identifikationsanker und werden auf wenig identitätsstiftende Jobs mit kurzfristigen und flachen Aufgabenfeldern verwiesen.

 

4.3 Abkopplung von Berufsausbildung und Berufstätigkeit

Nach dem deutschen Berufsbildungsgesetz ist im Konsens der Sozialpartner festgelegt, in welcher Bündelung Arbeitsaufgaben und die ihnen zugehörigen Verrichtungen, den ökonomischen Notwendigkeiten folgend, als Ausbildungsordnungen etabliert werden sollen, um danach in einer meist dreijährigen Lehrzeit Jugendliche so zu qualifizieren, dass sie nach Abschluss dieser Ausbildung voll einsatzfähig sind, und zwar in der Weise, dass sie Arbeitsaufgaben leisten können, die nach den Tarifvereinbarungen für Facharbeiter bzw. qualifizierte Angestellte festgelegt sind.

Stünden wir am Ende des Berufs, wie dies bei Hesse (1972: 130 f.) konstatiert wird, dann müssen die bisherigen Vorstellungen, dass die spezifischen Qualifikationserwartungen der Betriebe mit spezifischen Arbeitsleistungen über das Scharnier Ausbildungsberuf verknüpft werden können, damit über "planvoll konstruierte Muster zur Qualifizierung und zum Tausch von Arbeitskraft" die Interessen der Unternehmen an der Beschaffung von Arbeitskraft abgedeckt werden, aufgegeben werden. Das Ende der Berufsform der Arbeit würde dann beschleunigt, wenn die Unternehmen ihre Arbeitskräfte nicht durch eigene Ausbildung von Nachwuchs nach dem Berufsbildungsgesetz rekrutieren, sondern andere Wege suchen und nutzen. Jenseits der Berufsform entstünden lediglich modulare Qualifikationsbündel, die auf einem offenen Markt in variabel angebotene Jobs eingebracht werden könnten. Damit ist die Vorstellung nicht mehr relevant, dass die berufsbezogenen Ausbildungsangebote der Betriebe Indikatoren dafür seien, dass die jeweiligen Profile dem betriebsinternen Bedarf an Fachkräften entsprächen und - zumindest tendenziell - eine Option für die Übernahme als Fachkraft darstellten.

Wenn Facharbeit die Berufsform verliert, dann muss dies auch für die Berufsausbildung gelten:

  • Die Berufsausbildung entfernt sich von beruflichen Inhalten, sie wird zur allgemeinen Bildung, zur Basis für die Übernahme wechselnder ad hoc Aufgaben. Damit werden Qualifikationen bedeutsamer, die eine Grundlage für flexiblen Einsatz bilden könnten. Fachliche Inhalte werden im Rahmen kurzer Einarbeitung vermittelt, sodass auf der Seite der betrieblichen Organisation fordistische Strukturen aufleben müssen mit erheblicher Arbeitsteiligkeit. Einige Ansätze im Bereich der Null-Fehler-Produktion zeigen durchaus diesen Trend, indem die Möglichkeit, Fehler zu machen, durch instrumentelle Gestaltung der Arbeitsumgebung reduziert wird, was zugleich Flexibilitätsspielräume der dort arbeitenden Menschen einengt.
  • Schulische Berufsausbildung - von den Berufsfachschulen bis hin zu Hochschulen - müsste eine Struktur ohne Rückgriff auf spezifische Zielberufe aufbauen, in der fachliche Elemente in beliebiger Kombination modular angeboten würden. Ihr Verwertungszusammenhang bliebe offen, die Muster zeigten eine hohe Variabilität. Signale aus dem Beschäftigungssystem in ihrer zeitlichen Dynamik führten zu Instabilitäten. Um dies handhabbar zu machen, bedarf es neuer Aggregationsmuster, die allerdings jenseits von Beruf derzeit nicht erkennbar sind.
  • Die Berufsorientierung und Berufsberatung stünde zur Disposition, da in dieser Phase keine solide Basis für Beruflichkeit in Erwerbsstrukturen hoher Veränderungsintensität gelegt werden könnte. Schulabgänger müssten sich in einer unüberschaubaren Vielfalt von Tätigkeitsstrukturen mit ihren jeweiligen Spezialqualifizierungen zurechtfinden, während sie beim Vorhandensein von aggregierten beruflichen Mustern mit zugeordneter umfassender Einstiegsausbildung überschaubare Strukturen vorfinden würden.
 

4.4 Erosion der Berufsausbildung

Die große Vielfalt der Ausbildungsgänge dürfte eine Folge veränderter Bedarfsstrukturen im Beschäftigungssystem sein. Immer häufiger werden - geboren aus singulären Bedarfsaussagen - zusätzliche Kombinationen von Qualifikationselementen zu neuen Berufsausbildungen zusammengesetzt. Dabei handelt es sich nur selten um völlig neue Qualifikationselemente, sondern meist um eine neue Mischung verstreut bereits vorhandener Elemente im Sinne aktueller Forderungen. Die Probleme beim Übergang aus der Ausbildung in die Erwerbstätigkeit haben die Autonomie der Ausbildung reduziert, da Ausbildungen immer spezifischer auf den aktuellen Bedarf hin ausgerichtet werden. Qualifikationen und ihre Vermittlung werden zunehmend unter dem unmittelbaren Verwertungsaspekt gesehen.

Wenn richtig ist, dass sich die Spezialisierung weiter erhöht, dann ist es nur plausibel, wenn auch die Vielfalt der angebotenen Berufsausbildungen zunimmt. Dies erfolgt vor allem im schulischen Bereich durch immer neue Kombinationen. Dort dienen Spezialisierungen der Abgrenzung, sie werden im Marketing privater Bildungsträger intensiv genutzt und sind oft Profilierungselement für die Lehrenden und Organisatoren.

In der Dualen Ausbildung existiert dagegen ein Bedarf nach Straffung, weil die Betriebe klare und übersichtliche Vorgaben benötigen und die Berufsschule berufsspezifische Angebote regional nur bei einer ausreichenden Zahl von Auszubildenden im jeweiligen Beruf verwirklichen kann. Bei dieser Erosion wird der Berufsbegriff gern umgangen, denn dieser signalisiert in der Ausbildung immer noch eine gewisse Abrundung und eine umfassende Basis der gebündelten Qualifikationsziele. Die erste Stufe dazu ist die Entfernung der Ausbildungsabschlussbezeichnung von der Bezeichnung des Zielberufs. Es ist bezeichnend, dass seit fast zwei Jahrzehnten Ausbildungsordnungen verabschiedet werden, die Berufsbezeichnungen transportieren, die den Voraussetzungen von Klarheit, Prägnanz und Kürze eklatant widersprechen. So sind erhebliche Veränderungen erfolgt (siehe dazu BIBB 1997, Verzeichnis der anerkannten Ausbildungsberufe), beispielsweise:

[/S. 452:]

  • früher: Weber/in - heute: Textilmaschinenführer/in, - Weberei
  • früher: Konditor/in - heute: Fachkraft für Süßwarentechnik (mit Ausbildung in vier Fachrichtungen)
  • früher: Elektroinstallateur/in - heute: Industrieelektroniker/in, Fachrichtung Gerätetechnik.

Diese Wortungetüme sind Ergebnis einer differenzierten Optimierung von Qualifikationselementen, sie sind aber nicht transportabel für die Identifikation mit einer Rolle in der Gesellschaft. Es ist bedeutsam, dass im Gegensatz zu diesen ausdifferenzierten und spezialisierten Ausbildungsabschlussbezeichnungen die umgangssprachlichen Kurzformen wie beispielsweise "Mechaniker", "Kaufmann" oder "Elektroniker" immer häufiger bei Befragungen genannt werden. Offenbar lässt sich nur so berufliche Identität signalisieren.

Eine zweite Stufe bei dieser Zersplitterung wird durch die neue Kombination von Berufsinhalten ausgelöst. Immer wieder werden additiv zusätzliche Inhalte auf bestehende Ausbildungen aufgesetzt, bis sie ein inhomogenes Spektrum von Inhalten darstellen, das keine Identifikationsrelevanz mehr hat. Bindestrich- und Hybridberufe für integrative Aufgabenlösung, Aufbau- und Doppelausbildungen sowie die Ergänzung des Qualifikationsprofils durch Fort- und Weiterbildungen führen zu individuellen Qualifikationsmustern, die in dieser Vielfalt weder von den Erwerbstätigen noch von den Arbeitsorganisatoren überblickt werden können. Neben der inhaltsbezogenen Differenzierung der Ausbildungsabschlussbezeichnungen ist auch zu beobachten, dass ähnliche Ausbildungen mit unterschiedlichen Etiketten versehen werden.

Der Vorschlag, offene dynamische Berufsbilder zu schaffen (Heidegger/Rauner 1997: 20 ff.), führt ebenfalls zu einer neuen Vielfalt, die die Orientierung erschwert. So sollen nur 50 bis 60% der Inhalte betrieblicher Ausbildung als Kern bundeseinheitlich geregelt werden, 20 bis 30% betriebs- und regionalspezifisches Anwendungswissen und 20 bis 30% arbeitsplatz- und betriebsbezogenes Zusatzwissen sollen individuell ergänzt werden. Die Auszubildenden wären also - was ihre Qualifikationsbasis anbetrifft - nur im Bereich der Kerninhalte vergleichbar, die Arbeitgeber müssten zusätzlich analysieren, wann und wo der/die Bewerber/in diese Ausbildung absolviert hat, welcher Betriebsbezug in der Ausbildung wirkte und dabei die möglichen Lücken und ihren Ausgleich bedenken. Die heutige Regulierung mit bundeseinheitlichen Abschlussprofilen wäre ersetzt durch ein Spektrum verschiedener Profile, ohne dass dies durch die Abschlussbezeichnung deutlich würde. Dieses Modell ist eher dort relevant, wo Auszubildende unmittelbar an innerbetrieblichen Spezifika angepasst werden sollen, nicht für einen breiten Arbeitsmarkt. Dies macht Sinn vor allem dann, wenn auch alle Ausgebildeten im Betrieb übernommen würden, doch die erkennbare Entwicklung ist eher gegenläufig.

So ist es durchaus relevant, wenn durch die Öffnung der Ausbildung Mobilität gefördert werden kann. Ein Verzicht auf tradierte Beruflichkeit (siehe dazu die Übersichten 1 und 2) könnte Rekrutierungsstrategien fördern, wie sie aus dem anglo-amerikanischen Raum berichtet werden, bei denen die Frage, ob sich jemand einen Job, also eine spezifische Tätigkeit, die nicht im Rahmen eines mehrdimensional verorteten Berufes geleistet wird, zutraut, ob er/sie in knapper Zeit mit der Aufgabe zurechtkomme, neben der Sozial- und Humankompetenz über die Jobchancen entscheide. Ausbildung für die Erwerbsarbeit reduziert sich damit auf eine Sozialisation, die die nötige Handlungskompetenz aufzubauen hätte.

Parallel dazu ist dann aber zu erwarten, dass es weiterhin Semi- und Vollprofessionen gibt, bei denen schon wegen der Qualität der Leistungen auf "Professionals" (eine alte deutsche Bezeichnung war "Professionist") nicht verzichtet werden kann. In diesem Segment bleiben berufsbezogene Qualifizierungsmodelle mit spezifischer Berufseinmündung im Rahmen der angebotenen Arbeitsplätze erhalten, die Tendenz geht hier eher in eine enger gebündelte Grundausbildungsstruktur mit erst anschließender Spezialisierung.

 

4.5 Steigende Flexibilitätsanforderungen

Grund- und Ausgangshypothese jeglicher Berufsentscheidung ist (siehe dazu Übersicht 2) eine niveauadäquate Einstufung mit der Option der Verbesserung von Qualifikation und Status. Die Aufforderung zu flexiblem Verhalten ist vielfach mit der Mahnung verbunden, es sei überholt, an dieser Verknüpfung festzuhalten, da Statusverbesserungen zukünftig eher jenseits des erlernten Berufs zu finden seien. Die Flexibilitätsforschung hat dazu die Rolle der Marktseiten beschrieben, also Flexibilität

  • als Beweglichkeit (Mobilität) der Arbeitnehmer zwischen beruflichen Positionen,
  • als Strategien der Beschäftiger, im Sinne beruflicher Substitution auf gegebenen Arbeitsplätzen Kräfte aus unterschiedlichen Vorberufen einsetzen zu können.

Wesentliche Befunde dazu sind, dass die Berufsverwandtschaft die meisten Bewegungen von Absolventen zwischen Ausbildungs- und Ausübungsberufen erklärt. Dass es aber durchaus viele Berufsfelder gibt (sog. Erwachsenenberufe), zu denen keine spezifischen Ausbildungen angeboten werden und die nur durch Realisierung beruflicher Mobilität erreicht werden. Und dass schließlich in manchen Berufen Erstausbildungen gefordert werden, die dann als Basis für deren spezifische Fachbildung vorausgesetzt werden.

Weitere Informationen zur beruflichen Flexibilität ergeben sich aus den Aufstiegsketten, in denen aus Fachberufen in globale Managementaufgaben umgestiegen wird, ohne dass die Kenntnisse und Erfahrungen aus dem Grundberuf aufgeben oder obsolet würden, und schließlich dient Flexibilität und Mobilität dem Ausgleich im Arbeitsmarkt, soweit nicht unüberbrückbare Rigiditäten auftreten.

Angesichts der ausgewählten Formen flexiblen Verhaltens wurde zwischen funktionaler und dysfunktionaler Mobilität unterschieden (Hofbauer 1973). Maßstab für die Unterscheidung war das Ausmaß, in dem Berufswechsler Fertigkeiten und Kenntnisse aus dem Vorberuf im Übergangsberuf anwenden können, was als Transferqualität der Berufsqualifikation beschrieben wurde. Trotz aller Verschiebungen zwischen Qualifikation und Berufsverlauf werden Grundmuster erkennbar, in denen die Stabilität der Beschäftigung in Kombination mit dem Verbleib in der Heimatregion dominant erscheinen. So wird Berufswechsel ohne Wechsel des Arbeitgebers und der Region ohne besondere Probleme realisiert, während er bei Änderung auch des Arbeitgebers und der Region - möglicherweise durch Arbeitslosigkeit erzwungen - eher negativ eingeschätzt wird.

Die Flexibilitätskalküle der Betriebe und der Berufstätigen selbst berücksichtigen die Berufszuweisung und die jeweilige [/S. 453:] Berufsausbildung. Dass häufig der Verbleib im Beruf, insbesondere im eng abgegrenzten Beruf, anderen Bedingungen geopfert wird, heißt nicht, dass der Beruf seine Bedeutung verlieren muss, sondern dass es noch weitere Rahmenbedingungen gibt, die berufliche Strukturen überlagern.

 

5. Rolle von Beruf im Wandel der Arbeitswelt

Die gegenwärtige Diskussion um den Beruf vermittelt streckenweise den Eindruck, Beruf, Berufsförmigkeit, Berufskonstruktion und deren Bedeutungsgehalt würden wie eine Art Steinbruch genutzt, aus dem je nach dem spezifischen Anliegen größere oder kleinere Brocken herausgebrochen und in Erörterungen hineingerollt werden, ohne dass geklärt wird, welche Ecken und Kanten dabei sichtbar werden. Festzuhalten wäre anhand der bisher skizzierten konstituierenden Elemente des Berufs: "Der Berufsgedanke ist ein 'Stück deutscher Geschichte.' Ob dies aber eine Geschichte ist, von der man bald nur noch in der Vergangenheit reden kann...", wie Paul-Kohlhoff (1998: 11) fragt, wird unter anderem dadurch bestimmt, ob Beruf in all seinen Dimensionen gesehen und als Gegenstand der Erörterungen präsent ist. Geschieht dies nicht, kommt es oft vorschnell zu der Aussage, der Beruf sei randständig oder aber Beruflichkeit sei in der nachindustriellen Gesellschaft nicht mehr relevant oder würde nur noch in peripheren Aspekten auftauchen.

Traditionelle Vorstellungen gehen weiterhin vom Ziel einer Vollbeschäftigungsgesellschaft mit überkommenen Organisationsmustern aus, die in der Industriegesellschaft entstanden und entwickelt worden sind. Wie in allen Strukturwandelphasen erhalten dann überkommene Elemente, die zunächst eher negativ bewertet wurden, an die man sich dann aber gewöhnt hatte, bei ihrem Verschwinden eine - möglicherweise nostalgische - positive Bewertung und treten als Wunsch und Ziel zu einem Zeitpunkt hervor, an dem sie nicht mehr realisiert werden können.

 

5.1 Abkehr vom Normalarbeitsverhältnis

Obwohl das "Normalarbeitsverhältnis" nicht klar festgelegt ist, lässt sich heute (noch) das folgende Arbeitsverhältnis als dominant erkennen und steckt als prägende Norm in den Köpfen der Menschen (siehe dazu auch Hoffmann/Walwei 1998):

  • Abhängig, unbefristet, im Betrieb entfernt von der Wohnung beschäftigt
  • Normalarbeitszeit (je nach Tarifvertrag zwischen 35 und 40 Stunden pro Woche), geleistet tagsüber werktags
  • eingebunden in das System Sozialer Sicherung
  • Berufsausübung basierend auf einer vorgeschalteten Berufsausbildung
  • Weiterbildung nur soweit nötig, Umorientierung nur auf Zwang
  • erwerbstätig seit Abschluss der Ausbildung ohne größere Unterbrechungen
  • längere Betriebszugehörigkeit
  • umfangreiche persönliche Kontakte am Arbeitsplatz

Diese Vorstellungen verknüpfen Erwerbsarbeit eng mit der Deutung und Bedeutung von Beruf (vgl. Übersicht 1). Beruflichkeit war und ist weitgehend mit derartigen Normstrukturen von Arbeit verbunden. Diese Muster lösen sich derzeit auf: Offene Arbeitsverhältnisse entstehen, in denen auch die Beruflichkeit neu bestimmt werden muss. Im Sinne der Job-Definition, also der tätigkeitsorientierten lediglich auf aktuelle Aufgaben hin bezogenen Besetzung von Arbeitsplätzen, ohne dass dies verknüpft ist mit den übrigen Dimensionen von Beruf, wird versucht, die offenen Arbeitsverhältnisse lediglich funktional festzulegen. Geringfügige und befristete Arbeitsverhältnisse benötigen offenbar nicht die berufliche Einbindung, wie dies in professionalisierten Aufgabenfeldern erforderlich ist. Es reicht aus, wenn spezifische Aufgaben befriedigend gelöst werden. Im Sinne des Fordismus erlaubt Arbeitsteilung und Kontrolle derartige Arbeiten, ohne dass der Wertschöpfungsprozess dadurch grundsätzlich in Frage gestellt würde.

 

5.2 Dominante Arbeitstypen

Neben der Öffnung der Arbeitsformen verändert auch der Übergang in eine nachindustrielle Gesellschaft die Rolle von Beruf. Zur Vereinfachung der Diskussion sollen hier dominante Arbeitstypen von morgen knapp beschrieben und in ihren Folgen für die Beruflichkeit bewertet werden. Diese Skizzierung möglicher Arbeitstypen kann nur sehr kursorisch sein und dient lediglich zur Beschreibung der relevanten Elemente für den Beruf.

5.2.1 Produktionsarbeit

Trotz aller Schrumpfungstendenzen der Produktion, insbesondere in den entwickelten Industriestaaten, wird ein gewisser Produktionskern in jedem Land erforderlich sein, dazu bedarf es spezifischer Arbeits- und Berufsstrukturen. Allerdings sind die Vorstellungen über den adäquaten Arbeitseinsatz im Laufe der Zeit immer wieder modifiziert worden.

Frühe Formen handwerklicher Fertigung durch qualifizierte, in detaillierte Berufstätigkeiten eingeordnete Fachleute mit langjähriger Arbeitsplatz- und Unternehmenstreue und hohem Produktbezug wurden zu Beginn des Jahrhunderts im Zuge einer massiven Expansion durch Ungelernte ersetzt, die an determinierenden Produktionseinrichtungen wie dem Fließband und Einzweckmaschinen jene Aufgaben übernahmen, die noch nicht mechanisiert bzw. automatisiert werden konnten oder bei denen dies nicht wirtschaftlich erschien. Dies löste einen Prozess aus, der den Berufsbezug auflöste und bei dem die Arbeitskräfte in hohem Maße austauschbar wurden. Allerdings sind in diesem Organisationsmodell neue Berufe in der Kontroll- und Überwachungshierarchie neu entstanden. Aus fachlichen Berufszuweisungen wurden statusbezogene.

Die steigende Komplexität und Flexibilität von Produkten erzwang dann ab den Jahren um 1930 neue Qualifikations- und mit ihnen Berufsstrukturen, in denen Integrationsaufgaben als besonders wichtig erschienen. Die Entberuflichung im Taylorismus und Fordismus war immer nur auf die unterste Ebene der Erwerbstätigkeit bezogen, während sich darüber durchaus neue Beruflichkeit entwickelte, die aber keine Anknüpfungsstellen zur handwerklichen Organisation zeigte, sieht man von den Meistern ab. Aber gerade auf dieser unteren Ebene wurden Defizite deutlich, die offenbar durch die Entberuflichung ausgelöst wurden: mangelnde Identifikation mit der Aufgabe, nicht zureichende Qualifikationen, leichtfertiger Umgang mit Ressourcen und Infrastrukturen. Je komplexer und wertvoller die Arbeitsmittel und die Vorprodukte wurden, umso folgenreicher waren unbewusste oder bewusste Störungen und Fehlhandlungen.

Im Zuge der Arbeitsstrukturierung wurde deshalb versucht, wieder eine Basis für die Genese einer neuen Beruflichkeit zu [/S. 454:] legen. Dass dies zunächst vor allem im Sinne von Aufgabenanreicherung erfolgte, hat zunächst nahe gelegt, hier von einer Erosion von Beruf zu sprechen (siehe dazu auch Baethge/Baethge-Kinsky 1998), zumal dabei immer wieder sog. Hybridberufe (beispielsweise Mechatroniker) entstanden sind. Doch bei genauer Analyse wird deutlich, dass diese Strukturierung das Ziel hatte, Tugenden, die vormals mit der Beruflichkeit verknüpft waren, neu zu beleben, ohne die Starrheit beruflicher Segmentation zu übernehmen. Bei diesen Entwicklungen entstehen durchaus neue Beruflichkeiten - zwar mit breiteren oder neu geschnittenen Inhalten -, die einerseits die nötige integrative Kompetenz sichern, andererseits auch durch die Vielfalt der Arbeitsaufgaben die Zufriedenheit erhöhen. Die massiv unterstrichene Bedeutung extrafunktionaler Qualifikationen lässt sich auch im Sinne eines Wunsches nach zunehmender Beruflichkeit interpretieren, und zwar nach jenen Berufselementen, die eher querschnittsorientiert sind, also zusätzlich zu den funktionalen aus einem Job einen Beruf machen.

Neuere Entwicklungen hin zur Null-Fehler-Produktion begünstigen möglicherweise wieder tayloristische Strukturen, da die erwünschte Fehlerfreiheit bei Standardprodukten wohl eher durch deterministische Vorrichtungen und Verriegelungen auf der Seite der technischen Vorrichtungen und der eingesetzten Software als durch noch so umfassende Schulung des Personals erreicht werden kann. Bei innovativen Produkten bleibt dagegen die qualifizierte und spezialisierte Fachtätigkeit bedeutsam.

5.2.2 Arbeit in Forschung und Entwicklung

Ob die Innovationsraten in unserer Gesellschaft wirklich so massiv steigen oder ob dies eher Folge spezifischer Interpretationen ist, sei hier dahingestellt. Frühere Arbeiten des IAB (Lahner/Ulrich 1969 und die Innovationsdokumentation, siehe auch Dostal 1983) haben deutlich gemacht, dass Messung und Bewertung von Innovationen äußerst komplexe Aufgaben sind und dass gerade in diesem Bereich die Planung und Determinierung von Aktivitäten nur hilfsweise möglich sind.

Es stellt sich die Frage, ob Innovationen innerhalb einer traditionellen arbeitsteiligen und auf Berufe bezogenen Organisation möglich sind, oder ob sie eher dann auftreten, wenn die Struktur traditioneller Berufe aufgebrochen wird. "Querdenker", Interdisziplinarität und evolutionäre Denkstrukturen scheinen in diesem Bereich von besonderer Bedeutung. Ohnehin gibt es die Berufsbezeichnungen "Erfinder" oder "Innovator" in der Berufsklassifikation nicht, lediglich Hilfskräfte mit determinierten Aufgabenstellungen als "Innovationsassistenten/innen" (technischer Umweltschutz, Berufsklasse 6293 - Statistisches Bundesamt 1992: 262). In der Gesellschaft sind aber derartige Berufsabgrenzungen durchaus gegenwärtig und anerkannt. Die These von der Entberuflichung speziell im innovativen Bereich geht wohl darauf zurück, dass die klassische überkommene Schneidung von Berufen den Innovationsprozess behindert und andere Kombinationen erforderlich sind, die bislang noch wenig analysiert sind. Die Behauptung, eine neue Zuweisung beruflicher Elemente würde die Innovationsfähigkeit reduzieren, lässt sich nicht belegen. Es ist durchaus möglich, dass neue Allokationen geeigneter beruflicher Elemente in der Aggregation von beruflichen Strukturen eine hohe Innovativität erlauben, die - weil sie "professionell" sind - Defizite nichtprofessioneller innovativer Aktivitäten vermeiden.

Doch auch in Forschung und Entwicklung gilt, dass nach einer anfänglichen Öffnung verkrusteter überkommener Berufsstrukturen interdisziplinäre und wenig determinierte Aufgabenfelder erkennbar sind, die zunächst von Personen mit breiten und kaum durch in traditionelle Berufe kanalisierten Kompetenzen abgedeckt werden. Danach beginnt zunächst bei den Hilfskräften, später auch in der mittleren Ebene eine Professionalisierung, bei der auch die spezifische fachliche Beruflichkeit an Bedeutung gewinnen wird. Berufliche Spezialisierung wird also insbesondere in der mittleren Qualifikationsebene bedeutsam bleiben.

5.2.3 Informationsarbeit

Branchen, Berufe und Tätigkeiten, die dominant Informationen verarbeiten, haben sich in den letzten Jahren massiv in den Vordergrund geschoben. Die zunehmende Individualisierung hat eine steigende Komplexität ausgelöst, die individuelle Informationsverarbeitung erfordert. Durch den Einsatz von Computern besteht die Möglichkeit extremer Differenzierung und gleichzeitig wird eine Automatisierung der Informationsverarbeitung erleichtert. Informationsnetze hoher Leistungsfähigkeit erzwingen die Computerisierung auch bei der Kommunikation.

Auch hier stellt sich die Frage, ob die Informationsverarbeitung besser in berufsbezogenen Strukturen, also "professionell" aufgebaut und benutzt werden sollte, oder ob diese eher schädlich weil zu sehr determinierend sind. Weiterhin ist zu prüfen, ob anspruchsvolle Computerroutinen, die im Rahmen der künstlichen Intelligenz entwickelt und genutzt werden, Rückschlüsse auf die Beruflichkeit der Informationsverarbeitung zulassen (siehe dazu Dostal 1993).

Folgende Tendenzen sind in diesem Umfeld derzeit zu erkennen:

  • Informationsarbeit ist heute überall dominant. Etwa die Hälfte der Erwerbstätigen in Deutschland übt - quer über eine ganze Reihe von Berufen hinweg - Tätigkeiten aus, die als Informationstätigkeiten klassifiziert werden (Dostal 1995a: 529).
  • Die Gegenüberstellung etwa von Tätigkeitsschwerpunkt und Berufszuordnung zeigt, dass sich Berufe einigermaßen trennscharf in Informationsberufe und Nicht-Informationsberufe einteilen lassen. Der Mischbereich, in dem sich die Berufsangehörigen gleichermaßen beiden Kategorien zuordnen, ist wenig ausgeprägt (siehe dazu Dostal 1988, Bild 1 auf S. 870).
  • Spezifische Berufe, die sich lediglich auf die computerisierte Informationsverarbeitung beziehen, gibt es zwar, sie zeigen aber meist einen zusätzlichen Anwendungsbezug und sind in ihrer quantitativen Expansion eher beschränkt.
  • Informationstätigkeiten sind leicht globalisierbar und werden damit von internationalen Strukturen beeinflusst, die abweichend vom deutschen Berufeprinzip einem eher tätigkeitsorientieren Ansatz folgen (u. a. in Verbindung mit der Art und Weise, wie das jeweils erforderliche Know-how angeboten und vermittelt wird).

Die Gestaltbarkeit von Informationsarbeit scheint durch die hohe Flexibilität der Instrumente deutlich breiter zu sein als die anderer Arbeitstypen. Überdies geschieht der Umgang mit Informationen und Informationssystemen gleichermaßen in Erwerbsarbeit, in sonstiger Arbeit und in der Freizeit. Allein durch diese Universalität der Informationsverarbeitungsaufgaben könnte sich die Polarisierung in Berufsausübung und Freizeittätigkeit reduzieren.

[/S. 455:]

5.2.4 Dienstleistungsarbeit

Dienstleistungen sind in der volkswirtschaftlichen Zuordnung Sammelbegriff für alle jene Aktivitäten, die nicht im primären und sekundären Sektor stattfinden, wobei die Grenzen unterschiedlich gezogen sind.

Dienstleistungsberufe sind nach der Klassifikation sehr eng eingegrenzt; die technischen Berufe (Ingenieure, Techniker, Naturwissenschaftler, Laboranten etc.) werden nicht dazugerechnet. Auch im Alltag sind Unterscheidungen im Detail nicht gebräuchlich. So wird ein Installateur, wenn er im Neubau installiert, meist als Produzent eingeordnet, wenn er vorhandene Einrichtungen repariert, wäre er eigentlich Dienstleister, dies wird aber in der Klassifikation nicht berücksichtigt. Die deutsche Berufsklassifikation trennt innerhalb der Produktionsberufe nicht zwischen Fertigung im eigentlichen Sinn und Wartung sowie Reparatur (vgl. dazu Übersicht 3 - Sektor A "Produktions- und Wartungsberufe").

Die massive Zunahme von Dienstleistungsaktivitäten, seien sie gemessen anhand der Zuordnung zu Sektoren oder Berufen, verstärkt die Beschäftigung in Bereichen, die sich nicht alle auf eine traditionelle Beruflichkeit beziehen können. Die Frage, ob die Beruflichkeit in den Dienstleistungen eine steigende oder fallende Bedeutung hat, ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung.

Dienstleistungen haben eine lange Tradition. Es waren insbesondere die haushalts- und personenbezogenen Dienstleistungen, in denen meist keine besonderen Qualifikationsanforderungen gestellt wurden und die somit auch im Geflecht anderer Tätigkeiten nur gering eingestuft waren. Ähnliche Tätigkeiten wurden auch außerhalb des Erwerbssystems geleistet. Die Unterschiede zwischen beruflicher Dienstleistung und privat erbrachter Dienstleistung bestehen lediglich in der Vorgabe des Berufsbegriffs, der lediglich Erwerbsarbeit, die vergütet wird, erfasst und statistisch als Erwerbstätigkeit ausweist.

Folgende Entwicklungen sind in diesem Bereich erkennbar:

  • Dienstleistung kann über Selbstbedienung oder Eigenarbeit aus dem Erwerbssystem herausgelöst werden. Damit führt sie zur Deprofessionalisierung. Technische Hilfen erleichtern diesen Prozess, indem sie die Qualifikationsschwelle absenken (Taylorisierung) und gleichzeitig vor Missbrauch zu sichern in der Lage sind (Beispiel Geldausgabeautomat).
  • Neue Lebensstile mit vermehrter Erwerbsarbeit und belastetem Zeitbudget begünstigen die Auslagerung von Eigentätigkeit hin zu professionell erbrachten Dienstleistungen und führen somit zu einer weiter zunehmenden Arbeitsteiligkeit. In diesem Prozess entstehen neue Berufe mit weiter differenzierten Berufselementen und allen Elementen einer Verberuflichung wie Berufsausbildung und berufliche Weiterbildung, Aufbau eines beruflichen Bewusstseins bis hin zu Image-Einordnungen und der Definition einer Berufsethik.

In der Dienstleistungsarbeit sind kaum noch Zwänge zu finden, sie nach dem überkommenen Modell der Produktionsarbeit zu organisieren. Dies öffnet breite Freiräume für die Gestaltung von Erwerbsarbeit und Tätigkeiten außerhalb der Erwerbsarbeit. Es dürfte in vielen Fällen Ergebnis individueller Haltungen und Kalküle sein, ob spezifische Aufgaben in berufsbezogener Erwerbsarbeit oder als Freizeitaktivität geleistet werden.

 

5.3 Beruf in der nachindustriellen Gesellschaft

Vordergründig scheint also der Beruf in seiner überkommenen Form mit dem Übergang in eine nachindustrielle Gesellschaft zwar seine Bedeutung zu verlieren, aber gleichzeitig zeigen sich Tendenzen, die eine Renaissance beruflicher Strukturen erkennen lassen. Die gewachsenen Gestaltungsmöglichkeiten von Arbeit führen zu neuen Varianten, bei denen der Berufsbezug in unterschiedlicher, oft in gegensätzlicher Weise erkennbar ist.

5.3.1 Segmentiertes Modell als Denkhilfe

Die teilweise widersprüchlichen Entwicklungstendenzen - einerseits weitere Spezialisierung bei den Berufen, andererseits unscharfe und undifferenzierte Bedarfsstrukturen, die sich nur schwer mit Berufen traditionellen Zuschnitts abdecken lassen - sind am ehesten über das im folgenden beschriebene Segmentierungsmodell erklärbar (Übersicht 5).

Übersicht 5: Strukturmodell Erwerbssegmente nach der "Beruflichkeit"

 

Das Segment B entspricht am ehesten der überkommenen Beschäftigung. Es umfasst die Kernbelegschaften und ist weiter aufgespalten:

  • Einerseits gibt es Mitarbeiter mit einer überwiegenden Unternehmenszentrierung (B 1), die mit eher unscharfen Aufgabenzuordnungen im Sinne eines "Joker"-Prinzips versehen [/S. 456:] sind: Die Mitarbeiter werden langfristig dem Unternehmen verbunden sein und eine hohe berufliche Flexibilität garantieren müssen, da unterstellt wird, dass die Unternehmen schnell auf neue Märkte und Aufgaben durch Umorientierung reagieren. Eine breite Basisqualifikation und umfangreiche extrafunktionale Qualifikationselemente werden nur am Rande durch aktuelle Fachqualifikationen ergänzt. Eine enge Beruflichkeit ist nicht sinnvoll. Es ist vor allem diese Gruppe, an der die These von der Entberuflichung angekoppelt wird.
  • Andererseits gibt es Mitarbeiter mit einer spezifischen Fachzentrierung, die - in einer Zeit, in der die anderen Ressourcen des Unternehmens, wie Grundstücke, Gebäude und Produktionsmittel bzw. Infrastruktur gemietet oder geleast sind - den eigentlichen Kern und Wert des Unternehmens ausmachen (B 2). Hier existiert eine hohe, unternehmensintern wertvolle Professionalisierung. Die Beruflichkeit wird in die unternehmensinternen Strukturen eingepasst.

Eine besondere Beruflichkeit höchster Spezialisierung zeigt sich vor allem im Segment A. Dort sind Selbstständige und Freiberufler verortet, die in einer ausdifferenzierten "Professionalität" ihre Dienste auf einem offenen Markt anbieten. In diesem Segment werden sich die Arbeitsstrukturen weiter öffnen, Netzwerke, virtuelle Unternehmen und Telearbeit werden hier zur Normalität. Die berufliche Spezialisierung wird in diesem Bereich weiter zunehmen. Querschnittsqualifikationen werden zwar eine gewisse Rolle spielen, doch längerfristig werden alle Elemente, die nicht unmittelbar mit der fachlichen Ausrichtung harmonieren, wieder abgestoßen und an Mitarbeiter oder Dienstleister abgegeben. Diese Gruppe hat sich in den letzten Jahren verbreitert, sie wird weiter expandieren und möglicherweise international vernetzt ihre Dienste anbieten.

Bei den Randbelegschaften (Segment C) geht die Beschäftigungssicherheit weitgehend verloren. Die Erwerbsarbeit erfolgt befristet und/oder geringfügig. Damit kann sich kein langfristiger Unternehmensbezug entwickeln. Die Ansprüche an die Flexibilität sind hoch. Eine Beruflichkeit kann sich nur begrenzt entwickeln. Flankierende Hilfen für soziale Absicherung und für die Anpassungsqualifizierung müssen angeboten werden.

Weiterhin verbleibt das Segment D mit den Arbeitslosen, um deren Einmündung in die Erwerbsarbeit sich spezialisierte Institutionen kümmern (wie bei C). Beruflichkeit und langfristiger Unternehmensbezug können nicht aufgebaut werden. Möglicherweise können durch ein Rotationsmodell die Segmente C und D integriert werden.

5.3.2 Der Beruf als Strukturelement in Kernbelegschaften

Im Prinzip benötigen Kernbelegschaften keine berufliche Zuweisung. Das Unternehmen sorgt für die Einordnung, die Identifikation und für die Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen. Berufszuordnungen als Gliederungsmuster werden zwar häufig genutzt, könnten aber durchaus ersetzt werden durch betriebsinterne Zuweisungen, die - wenn sie in Abkürzungen auftreten - innerbetrieblich zwar klar abgegrenzt, aber für Außenstehende kaum verständlich sind. Lediglich bei der Rekrutierung von Personal sind Berufsangaben nützlich, weil damit die Ansprache der gewünschten Personen ohne interne Kenntnisse der Unternehmensorganisation erleichtert wird. Unternehmen haben die Tendenz, die Aufgaben und Funktionen ihrer Mitarbeiter recht unscharf zu beschreiben und im Rahmen ihrer Personalplanung eher universell einsetzbare Arbeitskräfte zu suchen. Daneben gibt es immer wieder - oft kurzfristigen - Bedarf nach eng ausgerichteten Spezialisten, die möglichst ohne weitere Einarbeitung anstehende Fachaufgaben sofort übernehmen können. Aus diesem Grunde sind in diesem Modell in der Kernbelegschaft diese beiden Gruppen voneinander abgesetzt. In einer ersten Vermutung dürften die fachzentrierten Kernbelegschaften eher eine Berufsallokation zeigen.

Bei den unternehmenszentrierten Kernbelegschaften, also den eher global abgegrenzten Mitarbeitern mit hoher Flexibilität sind die innerbetrieblich definierten Aufgabenstrukturen dominant und scheinen sich erheblich von den im Bildungssystem vermittelten Inhalten und den darauf aufgebauten Zertifikaten zu unterscheiden. Dies wird deutlich im Rekrutierungsprozess, wo die fachlichen, aus der Berufsausbildung bezogenen Spezialisierungen keine besondere Rolle spielen, sondern eher extrafunktionale Qualifikationen angesprochen werden. In diesem Segment werden dann spezifische Persönlichkeitsmerkmale und außerordentlich hohe Flexibilitätspotenziale erwartet. Wenn hier eine berufliche Allokation gesucht wird, wird sie vom Arbeitgeber her entweder weitgehend unternehmensspezifisch ausgerichtet sein - bei der Berufsangabe werden überwiegend betriebliche Hierarchiepositionen angegeben - oder es bleiben bei den Arbeitnehmern Berufsausbildungszertifikate auch als Berufsbezeichnung erhalten, wenn diese ein gehobenes Image ausstrahlen. Im Grunde genommen benötigen diese Beschäftigten keine detaillierte berufliche Allokation, weder für die Signalisierung ihrer Position im Unternehmen, noch für die Mobilität auf dem Arbeitsmarkt. Höchstens für die Allokation in der Gesellschaft könnte eine Berufszuordnung hilfreich sein, sie ist aber nicht unbedingt erforderlich.

Mit dieser Loslösung von beruflichen Mustern, die oft auch als Fesseln angesehen werden, bestimmen die Unternehmen mit ihren unternehmenszentrierten Kernbelegschaften in erheblichem Maße die Diskussion um die Bedeutung von Beruf. Ihr Votum, traditionelle Berufsmuster seien eher störend und behinderten innerbetriebliche Flexibilisierung, sie bedeuteten Gewohnheitsrechte, die abgebaut werden müssten und ähnliche Inflexibilitäten, ist zwar verständlich, sollte aber nicht durch einen vollständigen Verzicht auf Berufe beantwortet werden.

Die fachzentrierten Kernbelegschaften sind dagegen überwiegend über ihre fachlichen Spezialisierungen und Qualifikationen definiert und finden durch sie auch einen leichten Zugang zu beruflichen Allokationen. Der Unternehmensbezug ist bei diesen Fachleuten weniger intensiv, oft sind sie auch unternehmensübergreifend orientiert. Bei der Kommunikation mit Fachkollegen innerhalb und außerhalb des Unternehmens sind berufliche Einordnungen durchaus nützlich. So ergibt sich hier ein gewisser Bedarf nach Beruflichkeit.

Allerdings sind bei diesen Personen - im Unterschied zu den unternehmenszentrierten Kernbelegschaften - die in der Ausbildung erworbenen Fachqualifikationen von besonderer Bedeutung und schließlich berufsprägend. Allerdings liegt bei diesen Personen die Berufsausbildung oft weit zurück, sodass die in der Berufstätigkeit erworbenen Qualifikationen besonders wertvoll sind. Absolventen des Bildungssystems benötigen deshalb auch erhebliche Einarbeitungszeiträume, um die betriebsspezifischen Know-how-Elemente aufzunehmen. Ist eine berufliche Einordnung für diese Gruppe notwendig oder [/S. 457:] nur nützlich oder schadet sie möglicherweise? Oder wird der Unternehmensbezug dominant und verdrängt den Berufsbezug?

Diese Fragen lassen sich auf der Basis vorliegender empirischer Studien kaum klären. Zwar gibt es eine Vielzahl von Untersuchungen zu den betrieblichen Arbeitsstrukturen und den jeweiligen Rahmenbedingungen, doch die Berufsangabe und -zuordnung wird nie hinterfragt. In einer Befragung einer kleinen Gruppe von Mitgliedern der Gesellschaft für Informatik - hier handelt es sich überwiegend um Mitglieder fachzentrierter Kernbelegschaften (dies geht aus den anderen Frageelementen hervor - wurde bewusst eine doppelte Frage gestellt: a) nach der Berufsbezeichnung und b) nach der Funktionsbezeichnung. Die angegebenen Berufsbezeichnungen wurden standardisiert und zusammengefasst. Die dabei entstandene Matrix enthält Übersicht 6. Deutlich wird, dass die Angaben zu Beruf und Funktion auseinander gehen und dass die Hauptdiagonale - abgesehen von den Hochschullehrern, die offenbar eine glückliche Symbiose aus Beruf und Funktion eingegangen sind - nur sehr schwach besetzt ist (Dostal 1995b: 156).

Prinzipiell kann also davon ausgegangen werden, dass in Kernbelegschaften eine Berufszuordnung möglich ist, dass sie aber wenig nötig erscheint und dass sie eher nach außen hin verwendet wird, beispielsweise bei der Rekrutierung oder bei fachlichen unternehmensübergreifenden Kontakten. Hinweise aus dem Sprachgebrauch, dass manche Mitglieder von Kernbelegschaften bei der Berufsangabe eher den Betriebsnamen angeben als ihren Beruf, deuten darauf hin, dass in diesen Fällen einerseits das vermutete Image des Betriebs höher eingestuft wird als das des jeweiligen Berufs, sich andererseits die aktuelle Tätigkeit von der angestammten Berufsausbildung so weit entfernt hat, dass eine Nutzung einer Ausbildungsabschlussbezeichnung als Berufsbezeichnung nicht mehr sinnvoll erscheint.

5.3.3 Verlust des Berufs in den unteren Randbelegschaften

Die unteren Randbelegschaften, zu denen auch die Arbeitslosen gerechnet werden sollten, lassen sich nach traditionellen Maßstäben nicht mehr spezifischen Berufen zurechnen. Sie bringen zwar über ihre Berufsausbildung eine Berufszuordnung mit, können bzw. konnten diese aber nicht durch spezifische Tätigkeitsbezüge anreichern. Ihre jeweiligen aktuellen Tätigkeiten sind nicht genügend entwickelt und spezifisch, um als Beruf im klassischen Sinne eingestuft werden zu können.

Für die Arbeitslosen ist es aufschlussreich, dass beim Übergang vom AFG zum SGB III die unterwertige Beschäftigung, die auch als Beschäftigung unterhalb des bisherigen oder erlernten Berufes interpretiert werden kann, die im AFG § 2, Abs. 1 aufgeführt war, im SGB III nicht mehr enthalten ist. Dort steht in § 2, Abs. 2, 3. "Die Arbeitnehmer haben ... jede zumutbare Beschäftigung anzunehmen." In einer vom BMA herausgegebenen Schrift zum neuen Arbeitsförderungsrecht (BMA 1998: 38) wird folgendes erläutert: "Abweichend vom früheren Recht erfolgt keine Zuordnung von Arbeitslosen zu Qualifikationsstufen. Dies entspricht der Erfahrung, dass Arbeitnehmer bei einem Wechsel der beruflichen Tätigkeit ihre Entscheidung mehr auf die Veränderung der beruflichen Situation und das Einkommen abstellen als darauf, ob die Beschäftigung einem bestimmten Berufsabschluss entspricht." Beruflichkeit ist also in diesen unteren Randbelegschaften zumindest nicht über die Erwerbsarbeit und wohl auch nicht über die früher erworbene Qualifikation zu begründen. In diesem Segment dürfte eine Entberuflichung erfolgt sein, hier kann also von einem Job gesprochen werden, wie dies in der Umgangssprache üblich ist und wie dies in der Bezeichnung "Job-Vermittlung" der speziellen Dienstleistung der Arbeitsämter deutlich wird.

Übersicht 6: Matrix Berufsbezeichnung/Funktionsbezeichnung für Computerberufe

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[/S. 458:]

5.3.4 Bedeutungsgewinn des Berufs in oberen Randbelegschaften

Schließlich gibt es derzeit deutliche Anzeichen für eine Öffnung von Arbeitsstrukturen hin zu freiberuflichen und selbstständigen Existenzen im oberen Statusbereich, in dem das eigene Know-how frei vermarktet wird bis hin zu weltweiten Aktivitäten. Im Rahmen von Informationsverarbeitung und Telekommunikation sind derartige offene Arbeitsverhältnisse bis hin zu virtuellen Unternehmen heute schon sichtbar und werden sich möglicherweise auch weiter entfalten.

Diese offenen Strukturen bedürfen - wie dies bereits in früheren offenen Arbeitsgesellschaften, beispielsweise des Mittelalters erkennbar ist - detaillierter Gestaltung. Die Auftragsvergabe an Individuen bzw. die Aufnahme von Individuen in ein Netz eines virtuellen Unternehmens beruht auf gewissen Erwartungen bezüglich der fachlichen Eignung, der Solidität in der Auftragsabwicklung, der spezifischen Flexibilität und anderer Elemente, die - siehe oben - als konstituierend für den Beruf in seiner vollen Mehrdimensionalität gelten. Aus diesem Grunde benötigen diese oberen Randbelegschaften eine Einordnung in ein Raster, mit der sie ihre Leistungs- und Kooperationsfähigkeit nach außen hin deutlich machen können. Die Instrumente dazu sind detaillierte Leistungspotenzialbeschreibungen und Referenzen über erfolgreiche Projektarbeiten. Da die Hülle des Unternehmens fehlt, die möglicherweise für die einzelnen Mitarbeiter diese Garantien bereitstellen würde, muss dies durch das Individuum selbst aufgebaut werden. Damit erhält Beruf in diesem Segment eine neue und deutlich gewichtigere Bedeutung, als dies bei Kernbelegschaften jemals nötig war und ist.

So ist erkennbar, dass in diesem Segment berufliche Einordnungen ein besonderes Gewicht erhalten und dass es sinnvoll wäre, alle Entwicklungen bei der Professionalisierung, bei der Neubewertung von Beruf, in der Berufsforschung und in ähnlichen Aufgabenfeldern speziell in Bezug auf diese oberen Randbelegschaften zu diskutieren und zu analysieren. Gleichzeitig ist dies eine Möglichkeit, die Tendenzen der Internationalisierung, die in diesem Segment besonders deutlich sind, mit in diese Arbeiten einzubeziehen.

5.3.5 Entwicklung dieser Segmente

Bei einer Zuordnung der Erwerbstätigen zu diesen Segmenten ist damit zu rechnen, dass das Segment der Kernbelegschaften weiterhin Bestand haben dürfte (siehe dazu Seifert/ Pawlowsky 1998). Lag der Anteil der Kernbelegschaften lange Zeit recht hoch, so wird er im Zuge des Leanmanagements und des Outsourcings zurückgehen. Allerdings wird ein massiver Kern bestehen bleiben. Eine vollständige Auflösung in virtuell strukturierte Unternehmen (siehe dazu Reichwald u. a. 1998, dort insbesondere S. 231 ff.) ist nicht zu erwarten. Allerdings ist denkbar, dass die Unternehmen, je nach ihrer aktuellen Situation und ihren spezifischen Aufgaben, ein optimales Verhältnis zwischen Kern- und Randbelegschaften suchen und finden.

Die Individuen werden sich durch die Segmente hindurchbewegen: Ein Umstieg zwischen den Segmenten wird häufig sein und durch die jeweiligen Marktbedingungen bestimmt. Ob eine Funktion in die obere Randbelegschaft hineinfällt oder in die untere, ist auch eine Folge der Bedarfs- und Angebotsrelation in den spezifischen Aufgabenstellungen. Traditionelle Vorstellungen und historische Besitzstände scheinen hier keine allzu große Rolle mehr zu spielen. Auch erworbene Qualifikationen und Zertifikate aus dem Bildungsbereich, ja selbst Berufserfahrungen können obsolet werden, wenn die Nachfrage sinkt und das Angebot zunimmt.

Für die Beruflichkeit in der Zukunft lassen sich daraus keine einlinigen, ausschließlichen Folgerungen ableiten. Je nach Brauchbarkeit beruflicher Allokation werden die Akteure in der Beschäftigung und auf dem Arbeitsmarkt sich dieses Abgrenzungs- und Strukturierungsmerkmals bedienen. Der Berufsbegriff mit seiner impliziten Mehrdimensionalität dürfte gerade in Umbruchzeiten besonders hilfreich sein, um komplexe Strukturen anschaulich zu beschreiben.

 

6. Zusammenfassung und Ausblick

Beruf beschreibt gleichermaßen aussagekräftig, vollständig und bewertend Erwerbsaktivitäten von Menschen. Er ist mehrdimensional angelegt und somit an komplexe Realitäten anpassbar. Darüber hinaus ist er in der Lage, auch Veränderungen aufzunehmen und zu transportieren. In einer von Wandel geprägten Welt kann Beruf weiterhin die Aufgaben übernehmen,

  • als Gliederungs-, Struktur- und Schichtungsprinzip im sozialen Raum zu wirken,
  • als Vorgabe für die Gestaltung von Ausbildungsprofilen zu dienen,
  • Grundlage für die Berufsorientierung und -wahl und damit Kommunikationsbasis über die Eigenheiten der Arbeitswelt zu sein.

Auflösungstendenzen sind erkennbar, weil

  • der im Sozialrecht verankerte Rechtsanspruch zur Absicherung beruflicher Positionen abgebaut wird,
  • die Kluft zwischen Kern- und Randbelegschaften vertieft wird,
  • die Kontinuität der Erwerbsarbeit abnimmt,
  • der Zusammenhang zwischen Berufsausbildung und Berufstätigkeit gelockert wird.

Diese Auflösungstendenzen bieten aber zugleich neue Chancen für den Beruf. Wenn die Stabilität von Beschäftigung abnimmt und gleichzeitig hohe Anforderungen an die Mobilität gestellt werden, wenn sich weiterhin die Arbeitsaufgaben häufig verändern, dann lassen sich aus der Erwerbsarbeit immer weniger identitätsstiftende Faktoren ableiten. Unabhängig vom Arbeitgeber und einem spezifischen Arbeitsplatz erhält der Beruf eine neue Bedeutung, da er für die Berufswahl, die Qualifizierung und für den Arbeitsmarkt ein Raster anbietet, das wegen seiner Mehrdimensionalität und Anpassungsfähigkeit bei gleichzeitiger Stabilität als Instrument zum Ausgleich und zur Bewältigung der erkennbaren Herausforderungen verwendet werden kann. Der Beruf als Allokationsprinzip sollte deshalb nicht leichtfertig aufgegeben werden, da er auch in einer nachindustriellen Gesellschaft mit offenen Arbeitsformen sinnvoll und nützlich ist.

Für die Berufsforschung ergibt sich daraus die Aufgabe, die Rolle und Bedeutung von Beruf in dieser Umbruchsituation herauszuarbeiten und Instrumente zu entwickeln, die Veränderungen im Umfeld von Beruf und innerhalb der Berufe zu analysieren und zu bewerten. Dazu gehören die Akzeptanz der Mehrdimensionalität, die Ausweitung der Kategorien bei der Erfassung und Strukturierung auch neuer Berufsfelder und Berufe, die Kategorisierung und Clusterung der vielfältigen Informationen sowie die Bereitschaft, die Berufelandschaft aus verschiedenen Blickrichtungen wahrzunehmen. Neben einer eher beschreibenden und quantitativ orientierten [/S. 459:] Berufsforschung sollte auch eine gestaltende, kreativ orientierte Berufsforschung betrieben werden, die bisherige und erwartbare Veränderungen beschreibt und zugleich neue Strukturierungshilfen erarbeitet und ihre Anwendung fördert.

 

Anmerkungen

1) Dr. Werner Dostal ist Leiter des Bereichs Berufs- und Qualifikationsforschung im IAB, Friedemann Stooß leitete diesen Bereich bis 1993, Lothar Troll ist Mitarbeiter im Bereich Berufs- und Qualifikationsforschung. Der Beitrag liegt in der alleinigen Verantwortung der Autoren.
 

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1. Einleitung

[/S. 7:] Meine sehr verehrten Damen und Herren, "Berufsorientierung im Wandel - Vorbereitung auf eine veränderte Arbeitswelt" mit diesem Thema wollen wir uns an diesen zwei Tagen befassen. Ich bin der Einladung, hierzu eine Einführung zu geben, gerne nachgekommen - nicht nur als Vertreterin der Bundesanstalt für Arbeit, zu deren gesetzlich definierten Aufgaben die Berufsberatung und Berufsorientierung junger Menschen gehört und die dazu das wohl umfassendste Angebot an Veranstaltungen und Medien in Deutschland bereitstellt, sondern auch weil ich über lange Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit (IAB) über die Veränderungen des Ausbildungs- und Arbeitsmarktes und deren Auswirkungen auf das Berufswahlverhalten Jugendlicher geforscht habe.

Lassen Sie mich vorweg noch etwas zur Begrifflichkeit sagen. Wir haben es in den letzten Jahren mit einer Inflation immer neuer und kreativer Worte zu tun, die das Handlungsfeld beschreiben. Diese reichen von dem etwas altertümlichen Wort "Berufsaufklärung" aus den 20er Jahren über den weit verbreiteten und in der Bundesanstalt für Arbeit üblicherweise verwendeten Begriff "Berufsorientierung" bis hin zu "Berufswahlvorbereitung", "Berufswahlorientierung", "Berufsfrühorientierung", "Arbeitsweltorientierung", "Job- und Karriereorientierung" usw. Diese Begriffsvielfalt und -unschärfe signalisiert die Desorientierung, in der sich die professionellen "Orientierer" befinden, und deutet den Paradigmenwechsel an, in dem sich die Berufsorientierung derzeit befindet. Ist es wirklich der "Beruf" in seiner klassischen Bedeutung, auf den wir junge Menschen heutzutage vorbereiten sollten oder benötigen wir auch in der Berufsorientierung ein neues "Leitbild" erwerbswirtschaftlicher Arbeit?

 

2. Berufsorientierung in der Kritik

[/S. 8:] Das Thema Berufsorientierung hat seit einigen Jahren wieder einmal Konjunktur - Konjunktur deswegen, weil allenthalben Defizite in dem derzeitigen Stand der Berufswahlvorbereitung junger Menschen ausgemacht werden. Insbesondere Betriebe beklagen das häufig unzureichende Informationsniveau der Bewerberinnen und Bewerber über die Berufe und deren Anforderungen. Ausbildungsabbrüche oder -wechsel seien die häufige Folge dessen, dass Jugendliche sich falsche Vorstellungen von dem gewählten Beruf machten. Vielfach werden die angeblich unrealistischen beruflichen Vorstellungen vieler Jugendlicher und deren Fixierung auf wenige, meist überlaufene "Mode- oder Traumberufe" kritisiert und diese als Grund für "mis-match" auf dem Ausbildungsmarkt - Bewerbermangel auf der einen, Lehrstellenmangel auf der anderen Seite - angesehen.

Noch ein weiterer Aspekt veranlasst insbesondere Vertreter der Wirtschaft, sich in dem Handlungsfeld Berufsorientierung verstärkt zu engagieren: Da ist zum einen der angesichts der demografischen Entwicklung zu befürchtende Fachkräftemangel. Jugend wird zur Mangelware - fatal in einer Volkwirtschaft, deren wichtigstes Kapital das Humankapital ist. Aber nicht nur das quantitative Problem drückt die Unternehmen, sondern mehr noch ein qualitatives: Es mangelt Jugendlichen heutzutage ihrer Einschätzung nach an unternehmerischem Denken, an Eigeninitiative, Verantwortungsbereitschaft und Risikofreudigkeit, aber auch an grundlegenden ökonomischen Kenntnissen - Eigenschaften und Fähigkeiten, die in der künftigen Arbeitswelt mehr denn je gefragt sein werden. Und auch deshalb engagieren sie sich neuerdings in Schulprojekten, Schulpatenschaften und dergleichen, um auf diesem Wege die Belange der Wirtschaft und mehr betriebliche Praxis in die Berufswahlvorbereitung der Schulen einzubringen - bis hin zu den jüngsten Forderungen nach der Einrichtung eines eigenen Schulfachs "Ökonomische Bildung". Dahinter steht aber auch die Skepsis gegenüber Lehrern, die Arbeitslehre und Berufswahlvorbereitung unterrichten sollen, obwohl sie die betriebliche Realität nie kennen gelernt haben. Raus aus der Schule und hinein in die Betriebe lautet daher eine der wichtigsten Forderungen nach neuen Wegen in der Berufsorientierung.

Kritik und Probleme gibt es nicht nur an der praxis- und betriebsfernen Berufswahlvorbereitung in der Sekundarstufe I und für Schüler, die für eine duale Berufsausbildung in Frage kommen, sondern auch bezogen auf die Berufs- und Studienvorbereitung der Gymnasiasten und Abiturienten. So wird u. a. die angebliche Technikfeindlichkeit der Schule und der Berufsberatung mit dafür verantwortlich gemacht, dass sich nach wie vor nur vergleichsweise wenige Abiturienten für ein ingenieur- oder naturwissenschaftliches Studium entscheiden.

[/S. 9:] Aber auch die Politik sorgt sich um den Bildungs- und Wirtschaftsstandort Deutschland und befürchtet Nachwuchsmangel in den naturwissenschaftlich-technischen und High-Tech-Berufen. Das Programm "Schule-Wirtschaft-Arbeitsleben" ist eine Antwort darauf: Durch eine Verbesserung und Intensivierung der Berufsorientierung sollen die Voraussetzungen für fundiertere, rationale und vor allem marktgerechtere Berufsentscheidungen der Jugendlichen geschaffen werden.

Nicht zuletzt fühlen sich auch viele Jugendliche unzureichend auf die Berufswahl vorbereitet; manche - und davon können Berufsberater/ -innen ein Lied singen - haben überhaupt noch keine Vorstellung, wohin die Reise denn gehen soll. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes "orientierungslos" in Bezug auf ihre Berufs- und Lebensplanung und machen die aus ihrer Perspektive ohnehin unsicheren Zukunftsperspektiven dafür verantwortlich. Andere beklagen, dass niemand ihnen sagen könne, welche Berufe "Zukunft haben". Und schließlich sei es sowieso egal, welchen Beruf man erlerne, da in Zukunft ohnehin jeder mindestens 3mal im Leben seinen Beruf wechseln müsse. Manche lassen sich einfach treiben, schieben die Berufsentscheidung noch hinaus, gehen erst einmal weiter zur Schule oder jobben. Andere überlassen es dem Zufall und nehmen die erst beste Lehrstelle, die sie bekommen können; wieder andere können sich überhaupt nicht entscheiden und zögern zu lange, bis Termine verstrichen oder Ausbildungsplätze anderweitig besetzt sind. Ausbildungs- und Berufsentscheidungen werden so nicht selten zum Lotteriespiel - zumal trotz verbesserter Lehrstellensituation noch lange nicht jeder Berufswunsch erfüllbar ist.

Nun liegt dies alles ja nicht daran, dass es zu wenig Angebote zur Berufsorientierung gäbe - im Gegenteil: Noch nie in der Geschichte gab es so vielfältige, zahlreiche, umfassende und - so glaube ich sagen zu können - auch qualitativ gute Angebote wie gegenwärtig - sowohl seitens der Berufsberatung und der Schulen, aber auch aus der Wirtschaft, der Jugendhilfe und vieler, vieler anderer Institutionen bis hin zu dem vermehrten Angebot privater Anbieter (Banken, Versicherungen). Die Fülle scheint eher das Problem zu sein. Die Informationsflut überfordert die Jugendlichen und ihre Eltern in einer an Informations- und Medienreizen nicht gerade armen Welt und erreicht sie deswegen häufig nicht. Es bedarf also dringend einer Strukturierung, Koordinierung und Transparenz der Angebote, einer verbesserten Kooperation der Hauptakteure, die dazu auch gesetzlich berufen sind. Außerdem bedarf es angesichts der sehr unterschiedlichen inhaltlichen Qualität auch einer Bewertung der Angebote, um Jugendlichen bei der Auswahl geeigneter und seriöser Angebote zu helfen, denn nicht jedes jugendlich-modern daherkommende Angebot ist auch seriös, objektiv, neutral und inhaltlich richtig.

[/S. 10:] Berücksichtigen sollte man allerdings auch, dass angesichts der zunehmenden Komplexität und Unübersichtlichkeit der Bildungs- und Ausbildungswege und des raschen Wandels in der Arbeitswelt die persönliche Orientierung und Entscheidung immer schwieriger wird und noch mehr und noch bessere Orientierungsangebote dabei auch nicht immer hilfreich sind, sondern eher eine zusätzliche Belastung darstellen. Wenn man als junger Mensch erst zahlreiche aufwändige Berufsorientierungsmaßnahmen durchlaufen muss, sie vielleicht gar noch zertifizieren lassen muss, um reif für die Ausbildungs- und Berufswahl zu sein, sollte man doch vielleicht darüber nachdenken, das Ausbildungs- und Erwerbssystem transparenter und leichter zugänglich zu gestalten. Schließlich soll Berufswahl und die Vorbereitung darauf auch Spaß machen.

Die gegenwärtige Kritik an der Praxis der Berufsorientierung hat dennoch ihr Gutes: Berufsorientierung wird nämlich plötzlich auch aus ökonomischer Perspektive wichtig und dies fördert die Bereitschaft, darin zu investieren und Ressourcen für Berufsorientierung bereitzustellen. Diese Chance sollten alle Beteiligten nutzen - nutzen, um neue innovative Wege zu gehen und besser als bisher miteinander zu kooperieren, nicht um mit neuem Geld das Rad immer wieder neu zu erfinden. Ich sage dies mit Blick auf die vielfältigen Angebote zur Berufsorientierung, die in den vergangenen 30 Jahren von den Berufsberaterinnen und Berufsberatern, Lehrerinnen und Lehrern schon entwickelt und umgesetzt wurden.

 

3. Berufsorientierung im Wandel - ein Rückblick

Berufsorientierung gibt es in Deutschland schon seit geraumer Zeit als schulisches und außerschulisches Angebot. Beide haben ihre je spezifische Entwicklung genommen, die ihre Ziele und ihr Selbstverständnis prägen und ihre Fähigkeit zur Weiterentwicklung und Öffnung für neue Formen, Inhalte und Kooperationen mit bestimmen. In einem kurzen Überblick über die bisherige Entwicklung will ich dies verdeutlichen.

- Schulische Berufswahlvorbereitung -

"Non scholae sed vitae" war schon immer das Motto, unter dem Schule antrat, junge Menschen auf das Leben nach der Schule vorzubereiten. Vor rund 100 [/S. 11:] Jahren bis in die 50er und 60er Jahre hinein beinhaltete dies jedoch für einen nicht unbeträchtlichen Teil der Schülerschaft, insbesondere die jungen Frauen und die künftige ungelernte Arbeiterschaft eine Vorbereitung auf Lebensbereiche außerhalb bezahlter Erwerbsarbeit. Schule hatte für die niedrigeren Sozialschichten vor allem auch die Funktion, sie als künftige Staatsbürger, als Hausfrauen und Mütter oder als sonstwie nützliche Mitglieder der Gesellschaft heranzubilden. Berufsvorbereitung oder gar Berufswahlvorbereitung war in einer traditionell und noch weitgehend ständisch organisierten Gesellschaft nicht vonnöten. Was später bei der Arbeit gebraucht wurde, wurde entweder unmittelbar "on the job", wie wir heute sagen, erlernt oder für einen kleineren Teil der nachwachsenden Generation in einer formalisierten, zunftmäßig organisierten Berufsausbildung, der sog. "Meisterlehre" gelehrt.

Die dazu erforderlichen Grundvoraussetzungen, die die Schule zu liefern hatte, beschränkten sich auf die bekannten grundlegenden Kulturtechniken - von frühen reformpädagogischen Ansätzen, z. B. Kerschensteiners "Arbeitsschule" einmal abgesehen (Kahsnitz 1997). Doch auch hier ging es in erster Linie um "Arbeitstugenden" und Anpassung an vorgegebene Arbeitsstrukturen, nicht um kritisches Reflektieren oder gar Berufswahlkompetenz. Auch im Bereich der sog. "höheren" Bildung diente Schule im Sinne des Humboldt'schen Bildungsideals vor allem der Persönlichkeitsbildung, der sittlichen Bildung und der Hinführung zur Humanität. Daneben bereitete sie vorrangig auf ein Universitätsstudium und wissenschaftliches Arbeiten vor, nicht aber auf Beruf und Arbeitsleben.

Dieses Aufgabenverständnis von Schule hinsichtlich der Vorbereitung auf Beruf und Arbeit änderte sich mit fortschreitender ökonomisch-technologischer Entwicklung, der weiteren Ausdifferenzierung von Tätigkeitsfeldern und mit den steigenden Anforderungen sowohl in der industriellen Produktion als auch in den Dienstleistungen. Nun wurde auch von der Schule gefordert, dass sie Jugendliche konkreter als bisher auf die Berufs- und Arbeitswelt und den Eintritt ins Berufsleben vorbereitet. In Westdeutschland waren die Empfehlungen des Deutschen Ausschusses für das Erziehungswesen von 1964 der entscheidende Anstoß für die sukzessive Einrichtung und curriculare Verankerung des Faches Arbeitslehre in den einzelnen Bundesländern. Der Akzent lag damals noch nicht so sehr auf der konkreten Berufswahlvorbereitung als vielmehr auf grundlegenden Kenntnissen über die Arbeitswelt verbunden mit einer emanzipatorisch-kritischen Ausrichtung gegenüber den Anforderungen der Arbeitswelt an das Individuum. In der DDR begann die Entwicklung bereits früher mit der Einführung des polytechnischen Unterrichts für alle Schüler - unabhängig von der [/S. 12:] Schulart -, um junge Menschen sehr konkret auf die Anforderungen und Bedarfslagen der sozialistischen Produktion vorzubereiten (Kahsnitz 1997).

Seither hat ein kontinuierlicher Ausbau der schulischen Berufswahlvorbereitung in Deutschland stattgefunden, u. a. durch stundenmäßige Ausweitung in den dafür speziell vorgesehenen Fächern (Arbeitslehre u. a.), durch die verpflichtende Einführung von Schülerbetriebspraktika, deren schulischer Vor- und Nachbereitung, durch die curriculare Einbindung der Berufswahlvorbereitung auch in andere Schulfächer oder durch fächerübergreifenden Unterricht (KMK 1997). Zu einer Intensivierung und Verstetigung berufswahlvorbereitender Angebote an Schulen haben auch die Vereinbarungen zwischen der Kultusministerkonfrenz (KMK) und der Bundesanstalt für Arbeit (BA) von 1971 über die Zusammenarbeit von Schule und Berufsberatung (1) und zwischen der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), der KMK und der BA von 1992 über die Zusammenarbeit in der Sekundarstufe II (2) bzw. die entsprechenden aktuellen Vereinbarungen auf Landesebene (3) beigetragen. Darin wurden (und werden) die Aufgaben der jeweiligen Partner in der Berufswahlvorbereitung (Schule, Berufsberatung, Studienberatung, Wirtschaft) beschrieben und die Beteiligung der Berufsberatung der Arbeitsämter (bzw. der Studienberatungen der Hochschulen) im Rahmen der schulischen Angebote sowie gemeinsame Aktivitäten geregelt. Ein Blick auf die wesentlichen Inhalte der Rahmenvereinbarung von 1971 (Abbildung 1) zeigt, dass diese bereits damals sehr modern und offen konzipiert waren, insbesondere für kooperative Strukturen und mögliche Weiterentwicklungen. Dem ist auch aus heutiger Sicht eigentlich nichts hinzuzufügen. Die in der Rahmenvereinbarung eröffneten Optionen wurden freilich von der Praxis nicht immer genutzt.

In der jüngsten Vergangenheit kamen neue Impulse in die schulische Berufswahlvorbereitung durch die Öffnung der Schulen in Richtung Wirtschaft und umgekehrt und die dadurch entstandenen kooperativen Berufswahlprojekte sowie andere Formen der Zusammenarbeit mit Betrieben, über die wir auf dieser Fachtagung ja noch mehr hören werden.

Berufsorientierung in der Schule hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten von einem Unterricht über die Arbeitswelt weiterentwickelt hin zu einem Unterrichtsangebot, das darüber hinaus auch den einzelnen Jugendlichen bei seiner individuellen Berufswahl unterstützen soll. Schule übernimmt damit - zumindest [/S. 13:] in dem Bereich der Sekundarstufe I - zunehmend Verantwortung für die Berufswahlvorbereitung und für die berufliche Integration ihrer Schülerinnen und Schüler.

- Außerschulische Berufswahlvorbereitung -

Früher als die schulischen Angebote entwickelten sich außerschulische Maßnahmen zur Berufswahlvorbereitung, und zwar im Zuge der ersten Schritte hin zur Etablierung einer öffentlichen Berufsberatung. Im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert wurde Berufsberatung interessanterweise durch die damalige Frauenbewegung befördert und in den Auskunftsstellen für Frauenberufe erstmals angeboten und institutionell verankert (Meyer-Haupt 1995). Parallel dazu begannen Handwerkskammern und Innungen mit der Einrichtung von Lehrstellennachweisen für das Handwerk, um die Gewinnung ihres Berufsnachwuchses zu sichern. Etwa um die gleiche Zeit boten vereinzelt auch Gewerkschaftsvereine, caritative Verbände und Träger der Jugendfürsorge für ihre jeweilige Klientel Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung an.

Mit dem Ende des 1. Weltkrieges und der damals herrschenden wirtschaftlichen Not und Arbeitslosigkeit begann die Einrichtung öffentlicher Ämter für Arbeitsnachweise in Verantwortung der Kommunen, die im Arbeitsnachweisgesetz (ANG) von 1922 ihre rechtliche Grundlage fanden. Mit der in diesem Gesetz geregelten Einrichtung einer öffentlichen Berufsberatung und deren Zuordnung zu den Arbeitsnachweisämtern begann der Ausbau der öffentlichen Berufsberatung in Deutschland, deren Aufgabenstellung damit erstmals in den Allgemeinen Bestimmungen über die Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung bei den öffentlichen Arbeitsnachweisämtern vom Reichsamt für Arbeitsvermittlung gesetzlich geregelt wurde. Im Jahre 1927, mit Inkrafttreten des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) und der Errichtung der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung wurden öffentliche Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung Pflichtaufgabe der Arbeitsämter. Gleichzeitig wurde gewerbsmäßige Berufsberatung verboten (Meyer-Haupt 1995).

Bereits seit den 20er Jahren gehörten Maßnahmen zur Berufsorientierung - damals nannte man dies "Berufsaufklärung" - zum Berufsberatungsangebot der Arbeitsämter; gesetzlich verankert wurde "Berufsaufklärung" jedoch erst 1957 im AVAVG (§45) als wichtige Voraussetzung für die berufliche Beratung. Als gleichrangige Pflichtaufgabe der Arbeitsämter wurde sie schließlich im [/S. 14:] Arbeitsförderungsgesetz (AFG) von 1969 festgeschrieben, das das AVAVG ablöste (§§ 31-32 AFG) (Wanders, Schneider 2001). Dort wurde auch die Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit den Einrichtungen der allgemeinen und beruflichen Bildung, den für die Berufsausbildung zuständigen Stellen, den Einrichtungen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie mit den Trägern der Sozial-, Jugend- und Gesundheitshilfe begründet. Seit Anfang der siebziger Jahre wurden mit all diesen Einrichtungen entsprechende Vereinbarungen abgeschlossen, die i. d. R. auch heute noch Gültigkeit haben. Diese Vereinbarungen bilden die Basis und den Rahmen für die Beteiligung der Berufsberatung der Arbeitsämter an der kooperativen Berufswahlvorbereitung in der Schule im Zusammenwirken der verschiedenen Träger und Anbieter (siehe oben).

Seither hat sich die Berufsorientierung als Aufgabe der Berufsberatung der Arbeitsämter inhaltlich und organisatorisch kontinuierlich weiterentwickelt und wurde zu einem flächendeckenden Angebot innerhalb und außerhalb der Schule ausgebaut. Abbildung 2 gibt einen Überblick über die berufsorientierenden Angebote der Arbeitsämter in Kooperation mit und in Ergänzung zu dem schulischen Angebot. Das Dritte Sozialgesetzbuch (SGB III), das seit 1998 die Aufgaben der Arbeitsförderung einschließlich der Berufsberatung regelt, hat den gesetzlichen Auftrag der Arbeitsämter zur Berufsorientierung noch einmal verstärkt und um weitere Zielgruppen, z. B. Arbeitgeber, erweitert.

Ausschlaggebend für die Übertragung der Aufgabe zur Berufsorientierung und Berufsberatung auf die Bundesanstalt für Arbeit war die Nähe der Arbeitsämter zu Wirtschaft und Betrieben und deren know how über den Arbeitskräfte- und Qualifikationsbedarf der Wirtschaft. Dies wurde auch als ein entscheidender Vorteil für eine an den Bedürfnissen und Möglichkeiten des Arbeitsmarktes orientierte Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung für jugendliche Berufswähler angesehen (vgl. dazu die sog. Troisdorfer Beschlüsse, 1968). Die konzeptionelle Entwicklung der Berufsorientierung in der BA geht einher mit der Entwicklung der Berufsberatung von einer früher primär auf die Lehrstellenvermittlung hin ausgerichteten Aktivität hin zu einem umfassenden Angebotskonzept zur optimalen Unterstützung des individuellen Berufswahlprozesses, in dessen Verlauf unterschiedliche Maßnahmen und Angebote zum Tragen kommen bzw. abgerufen werden können: Vorträge, Seminare, Medien zur Selbstinformation und Selbsterkundung, individuelle Beratung, Ausbildungs- und Arbeitsmarktinformation, Bewerbungstrainings, Lehrstellenvermittlung, Förderungs- und Qualifizierungsangebote. Anstelle eines starren Angebots- und Ablaufschemas sollen die berufsorientierenden Maßnahmen des Arbeitsamtes flexibel auf die Bedarfslagen der Jugendlichen und unserer Kooperationspartner (Schulen, Betriebe, Einrichtungen der Jugendhilfe usw.) reagieren und eingesetzt werden (BA 1999). [/S. 15:] Dabei misst die BA kooperativen Strukturen in der Berufsorientierung, insbesondere der Zusammenarbeit mit Schulen, Lehrkräften, Betrieben und Ausbildern einen hohen Stellenwert bei (Strijewski 2001).

Neben der Schule und den Arbeitsämtern gehören Maßnahmen zur Verbesserung der Chancen auf berufliche Eingliederung und Teilhabe an der Erwerbsarbeit auch zu den Aufgaben der Jugendhilfe. Nicht erst seit dem Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfe-Gesetzes (KJHG) haben die Träger der öffentlichen und der freien Jugendhilfe die von ihnen betreute Klientel auf die Berufswahl und Ausbildungsplatzsuche vorbereitet - also Berufsorientierung betrieben. Die Berufsorientierungsangebote der Jugendhilfe konzentrieren sich auf jene Jugendlichen, die aus unterschiedlichen Gründen besondere Probleme beim Berufsstart haben. Die Maßnahmen sind in der Regel sozialpädagogisch orientiert und arbeiten ganzheitlicher als dies in den eher punktuellen Angeboten der Schule und der Berufsberatung möglich ist. Mit dem Programm des Bundesjugendministeriums "Arbeitsweltorientierte Jugendsozialarbeit" wurden und werden zahlreiche berufsvorbereitende Projekte gefördert, die auch in der Berufsorientierung benachteiligter junger Menschen innovative Wege gehen (Braun u. a. 1997). Sie haben damit vielfach auch Vorbildcharakter für andere Maßnahmen und Projekte zur Berufsorientierung.

Ich habe die verschiedenen Entwicklungslinien der Entstehung und institutionellen Einbettung der Berufsorientierung im Rahmen von Schule, Berufsberatung, Jugendhilfe und Wirtschaft hier etwas ausführlicher dargestellt, um deutlich zu machen, dass es auf diesem Gebiet kein Primat irgendeiner Institution gibt, sondern dass wir heute an einem Punkt angekommen sind, wo die getrennten Entwicklungslinien zusammenlaufen (müssen) und sich die Hauptakteure ihrer gemeinsamen Verantwortung in diesem Handlungsfeld bewusst werden (müssen). Kooperation nicht Konkurrenz ist das Gebot der Stunde!

 

4. Berufsorientierung im Wandel - Vorbereitung auf eine veränderte Arbeitswelt

Die Veränderung der Arbeitswelt lässt sich anhand folgender dominanter Trends beschreiben

(Abbildung 3):

  1. Informatisierung und Übergang zur wissensbasierten Gesellschaft
  2. Globalisierung der Wirtschaft und der Arbeitsmärkte
  3. Flexibilisierung der Arbeitsorganisation und Erwerbsformen [/S. 16:]
  4. Höherqualifizierung und Alterung der Erwerbsbevölkerung
  5. Entkoppelung der Erwerbsarbeit von Qualifizierung und sozialer Sicherung
  6. Entstandardisierung der Erwerbsbiografien
  7. Entberuflichung von Qualifizierungsprozessen und Arbeitsmärkten

- Zu 1.: Informatisierung und Übergang zur wissensbasierten Gesellschaft -

Wirtschaft und Gesellschaft befinden sich auf dem Weg von der Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft in die Wissens- und Informationsgesellschaft. Augenfällig wird das an der Veränderung der Erwerbstätigenanteile in einem "Vier-Sektoren-Modell", das die Erwerbstätigen nicht nach ihrer Zugehörigkeit zu den traditionellen Wirtschaftssektoren zuordnet, sondern nach ihrer dort vorrangig ausgeübten Tätigkeit. Danach üben bereits jetzt über 50 % der Erwerbstätigen Informationstätigkeiten aus, während nur noch jeweils ein Fünftel bis ein Viertel Produktions- oder Dienstleistungstätigkeiten verrichten (Abbildung 4). Während der Anteil der Produktionstätigkeiten noch weiter schrumpfen wird, werden künftig noch mehr Erwerbstätige Dienstleistungen und Informationsleistungen erbringen.

Sichtbares Zeichen der Informatisierung ist die allgegenwärtige Nutzung von programmgesteuerten Arbeitsmitteln an ganz unterschiedlichen Arbeitsplätzen und in fast allen Berufen - seien es PC und Internet, seien es programmgesteuerte Werkzeugmaschinen oder Prüf- und Messgeräte. Zwischen 1992 und 1999 hat sich die Nutzung computergesteuerter Arbeitsmittel fast verdoppelt (von 36 % der Erwerbstätigen auf 62 %; Abbildung 5) mit besonders hohen Anteilen in technischen, Planungs- und Laborberufen sowie in Verwaltungs- und Büroberufen oder in kaufmännischen Berufen und personenbezogenen Dienstleistungen. Auch in bestimmten Produktionsberufen arbeiten fast 60 % mit programmgesteuerten Arbeitsmitteln (Troll 2000).

- Zu 2.: Globalisierung der Wirtschaft und der Arbeitsmärkte -

Die Globalisierung verändert die Arbeitswelt zunächst für Menschen, die unmittelbar auf internationaler Ebene zusammenarbeiten - etwa durch erhöhte Anforderungen an berufliche Mobilität, an Fremdsprachenkenntnisse und [/S. 17:] sonstige interkulturelle Kompetenzen. Sie verändert aber auch für jene Menschen, die nicht unmittelbar von internationaler Zusammenarbeit an ihren Arbeitsplätzen betroffen sind, die Arbeitsanforderungen und die Arbeitsorganisation, die Konkurrenzsituation und die Zumutbarkeit an diesen Arbeitsplätzen, weil Unternehmen angesichts des internationalen Wettbewerbs kaum noch regionale Sonderwege bei der Produktion, der Arbeitsorganisation oder der Beschäftigung von Arbeitskräften gehen können.

- Zu 3.: Flexibilisierung der Arbeitsorganisation und der Erwerbsformen -

Die "Erosion des Normalarbeitsverhältnisses" ist in aller Munde, ohne dass immer überall klare Vorstellungen darüber bestehen, was darunter zu verstehen ist und in welchem Ausmaß eine solche Erosion stattgefunden hat. Neuere empirische Befunde aus einer EU-weiten Untersuchung zeigen, dass 1998 (nur) noch 62 % der deutschen Erwerbstätigen in einem unbefristeten Vollzeit-Arbeitsverhältnis standen gegenüber 67 % 10 Jahre zuvor (Hoffmann, Walwei 2000).

Obwohl diese Daten noch keine dramatische Veränderung signalisieren, zeigt dieselbe Studie, dass "atypische" Beschäftigungsverhältnisse in allen westeuropäischen Ländern an Bedeutung gewonnen haben: So befanden sich EU-weit im Jahre 1998 29 % der Erwerbstätigen in atypischen Arbeitsverhältnissen gegenüber 25 % im Jahre 1988. West-Deutschland liegt mit 27 % leicht über dem EU-Durchschnitt und hatte in den vergangenen Jahren auch einen stärkeren Zuwachs zu verzeichnen (Anstieg von 19,7 % auf 27,0 %). In Ostdeutschland liegt der Anteil der "atypischen" Beschäftigungsverhältnisse (4) bei rund 22 %. Eine weitere Zunahme solcher atypischen Beschäftigungsformen in Ost und West ist zu erwarten aufgrund weiterer Deregulierungen der Arbeitsmärkte im Zuge der EU-Rechtsangleichungen und bedingt durch internationalen Wettbewerbsdruck, aber auch als zwangsläufige Folge des sektoralen und beruflichen Strukturwandels und der Informatisierung aller Lebensbereiche.

Eine andere Untersuchung, die sich dem Problem "unsicherer" oder "prekärer" Beschäftigungsformen widmet (5), kommt zu dem Ergebnis, dass 1998/99 in West-Deutschland rund 10 % der Erwerbstätigen in solchen "unsicheren" Arbeitsverhältnissen waren, in Ost-Deutschland hingegen 16 % (Schreyer 2000). In [/S. 18:] dieser Studie wird deutlich, dass es insbesondere die Un- oder Niedrigqualifizierten sowie jüngere Arbeitskräfte sind, die sich in prekärer Beschäftigung befinden (Westdeutschland: 20 % aller Erwerbstätigen ohne abgeschlossene Berufsausbildung gegenüber 9 % derer mit abgeschlossener Lehre/ Berufsfachschule, in Ostdeutschland sogar 32 % gegenüber 14 %), aber auch akademische Berufsanfänger. Hauptkomponente unsicherer Beschäftigung ist in Westdeutschland die geringfügige, in Ostdeutschland die befristete Beschäftigung (z. B. ABM).

Zu den neuen Erwerbsformen gehört auch die "Telearbeit", die durch die Informatisierung der Arbeitswelt befördert wird und den Erwerbswünschen vieler Arbeitnehmergruppen entgegenkommt, z. B. dem Wunsch nach besserer Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder dem Wunsch nach größerer persönlicher Freiheit und Selbstbestimmung in der Arbeitsgestaltung. Allerdings ist Telearbeit in Deutschland noch nicht sehr weit verbreitet, wenn auch im Wachsen begriffen: Im Mai 2000 hatten rund 1 % der Erwerbstätigen in Deutschland einen Telearbeitsplatz, rund die Hälfte davon mit überwiegender Beschäftigung am PC. Am häufigsten kommt diese Erwerbsform bei Selbstständigen und bei Frauen vor (Statistisches Bundesamt 2001).

Die Abkehr vom Normalarbeitsverhältnis und die Entstehung neuer Erwerbsformen werden häufig auch unter dem Aspekt gesehen, dass der Mensch dadurch zunehmend zum "Unternehmer seiner eigenen Arbeitskraft" wird, für deren Ausprägung, Reproduktion und Weiterbildung er ganz allein verantwortlich ist. Auch dieses Phänomen gehört zum Paradigmenwechsel in der Berufsorientierung.

- Zu 4.: Höherqualifizierung und Alterung der Erwerbsbevölkerung -

Mit den beschriebenen Trends der Informatisierung und Globalisierung, den Veränderungen in der Arbeitsorganisation und dem Entstehen neuer Erwerbsformen verändern sich auch Qualifikationsanforderungen sowohl in vertikaler als auch in horizontaler Richtung. Anspruchsvollere und teurere Technik, abstraktere Produktionsabläufe und Geschäftsprozesse und rascherer Wandel bei Produkten und Verfahren erfordern von allen Beschäftigten höhere und breitere Qualifikationen. Arbeitsplätze für Ungelernte fallen zunehmend weg. 2010 sind voraussichtlich nur noch 11 % der Erwerbstätigen auf solchen Arbeitsplätzen beschäftigt, die keinerlei formale Berufsausbildung erfordern. Der Trend zur Akademisierung der Erwerbsbevölkerung wird also anhalten und von [/S. 19:] gegenwärtig rund 15 % auf rund 17 % im Jahre 2010 und vermutlich auch danach noch weiter ansteigen (Abbildung 6a und b).

Neben dem Anstieg des formalen Qualifikationsniveaus erhalten außerfachliche, extrafunktionale Qualifikationen (Schlüsselqualifikationen) immer größere Bedeutung. Diese beziehen sich vor allem auf:

  • Vernetztes, logisches und ganzheitliches Denken
  • Kreativität
  • Organisations-, Planungs- und Managementfähigkeiten
  • Verantwortungs- und Leistungsbereitschaft
  • Teamfähigkeit und andere soziale Qualifikationen
  • Ergebnis- und Kundenorientierung
  • Internationale und interkulturelle Qualifikationen.

Fachliche Qualifikationen sind nach wie vor wichtig, unterliegen aber einem raschen Verfall und müssen ständig aktualisiert werden. Daraus resultiert neben der Forderung nach einem hohen Allgemeinbildungsniveau und einer möglichst hohen und qualifizierten Erstausbildung als Voraussetzung für den Einstieg in den Arbeitsmarkt, die Forderung nach lebensbegleitendem Lernen, das die fachlichen Qualifikationen ständig auf den neuesten Stand bringt und die außerfachlichen Qualifikationen trainiert.

In vielen dualen Ausbildungsgängen und auch in manchen Studienfächern werden schon derzeit vermehrt curriculare Elemente eingebaut, die dem Erwerb außerfachlicher Kompetenzen dienen sollen. Von vielen Seiten wird gefordert, dass dieser Prozess bereits in den Schulen einsetzen müsse und auch Gegenstand der schulischen und außerschulischen Berufsorientierung und Berufswahlvorbereitung sein sollte.

Schaut man sich vor dem Hintergrund dieser prognostizierten Qualifikationsentwicklung die aktuelle Bildungslandschaft an, so wird deutlich, weshalb gegenwärtig wieder eine intensive Bildungswerbung anläuft. Die westdeutsche Bildungsexpansion der 70er und 80er Jahre ist in den 90ern nämlich ins Stocken geraten. Experten sprechen von einer "Bildungsstagnation" (Reinberg/ Hummel 2001a). So hat sich in Westdeutschland zwischen 1990 und 1998 weder das Abschlussniveau der Schulabgänger aus dem allgemein bildenden Schulwesen noch die Übergänge der Schulabgänger in berufliche Ausbildungsgänge und Studium nennenswert weiter "nach oben" entwickelt, so dass von der jetzt ins Erwerbsleben eintretenden Generation keine Fortsetzung des Höherqualifizierungstrends in der Erwerbsbevölkerung zu erwarten ist. Auch in den neuen Ländern zeigt sich nach der starken Erhöhung der Bildungsbeteiligung bis 1995 [/S. 20:] eine deutliche Abflachung des Höherqualifizierungstrends (Abbildung 7a/b und 8a/b).

Berücksichtigt man zudem die demografische Entwicklung - sinkende Geburtenraten, Alterung der Erwerbsbevölkerung (Abbildung 9a/b) - so wird deutlich, dass Deutschland vor einem dramatischen Fachkräftemangel im Bereich der mittleren und der höheren Qualifikationen steht, wenn nicht rasch Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Das erfordert u. a. auch die Bereitstellung von Nachqualifizierungsprogrammen für jüngere Erwachsene, die derzeit als Ungelernte in den Erwerbsprozess eintreten, und erhöhte Anstrengungen zur Weiterqualifizierung der Beschäftigten im mittleren und höheren Alter (lebensbegleitendes Lernen).

Für die Arbeit der Berufsorientierer und -berater bedeutet dies Ermutigung - Jugendlichen Mut zu machen für eine Zukunft, in der ihre Arbeitskraft gebraucht wird, Mut zu machen und zu zeigen, dass es sich lohnt, in die eigene Arbeitskraft zu investieren und eine möglichst qualifizierte Ausbildung zu absolvieren.

- Zu 5.: Entkoppelung der Erwerbsarbeit von Qualifizierung und Sozialer Sicherung -

Auch dieser Prozess hat bereits eingesetzt und lässt sich zum einen an der Diskussion um die Reformen in der Renten- und Krankenversicherung (private Altersvorsorge, Ausklammerung von Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung) und der Ausweitung von prekären Beschäftigungsverhältnissen ohne soziale Sicherung belegen.

Zum anderen sind im Bereich der beruflichen Qualifizierung Tendenzen einer Entkoppelung der Erwerbsarbeit von der Berufsaus- und Weiterbildung erkennbar. Zwar geben Unternehmen nach wie vor viel Geld für die Aus- und Weiterbildung ihrer Beschäftigten aus, doch ist der Trend hin zu vermehrter Privatisierung von Ausbildungskosten durch Verlagerung in die Freizeit oder Kostenbeteiligung der Beschäftigten unübersehbar. In der dualen Berufsausbildung sinkt die Ausbildungsquote (Anteil Auszubildende an Beschäftigten) und nach wie vor bilden nur rund 30 % aller Betriebe selbst aus, obwohl sehr viel mehr eine Ausbildungsberechtigung haben (IAB 2001). Immer mehr Betriebe gehen dazu über, für bestimmte Positionen, die früher mit weitergebildeten Fachkräften aus dem eigenen Unternehmen besetzt wurden, Hochschulabsolventen zu rekrutieren, für deren Ausbildung sie nichts zahlen mussten und bei denen nur noch die Einarbeitungskosten anfallen. [/S. 21:]

Investitionen in die Aus- und Weiterbildung von Mitarbeitern und deren soziale Absicherung würden Unternehmen künftig - so die Meinung von Experten - nur noch für ein bestimmtes Segment ihrer Belegschaft, die sog. Kernbelegschaften, selbst übernehmen (Dostal, Stooß, Troll 1998).

Neue Arbeitsformen und selbstständige Arbeit in vielen Facetten und mit hohen Anforderungen an die Eigenaktivität und Eigenverantwortung für die eigene Qualifizierung und soziale Sicherung prägen das künftige Anforderungsprofil, auf das Jugendliche vorbereitet werden müssen.

- Zu 6.: Entstandardisierung von Erwerbsbiografien -

Die beschriebenen Entwicklungen befördern und unterstützen eine Entstandardisierung traditioneller Lebens- und Erwerbsverlaufsmodelle. Die traditionelle berufliche Normalbiografie, die - nebenbei bemerkt - immer nur eine männliche war, hat zwar noch nicht ausgedient, löst sich aber tendenziell auf. Insbesondere die Notwendigkeit lebensbegleitenden Lernens, aber auch die Verbreitung neuer Erwerbsformen, die Forderung nach Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Männer und Frauen und nicht zuletzt der Wertewandel in der Gesellschaft befördern andere Lebensmodelle als die traditionelle Verteilung von Lernen, Erwerbsarbeit, Eigenarbeit, Familienarbeit, gesellschaftlicher Arbeit ("Bürgerarbeit") und Nichtarbeit ("Freizeit"). Mit solchen neuen und vielfältigeren Verteilungsmodellen, die selbstverständlich flankiert werden müssen von veränderten Modellen der Sicherung des Lebensunterhalts in diesen verschiedenen Phasen, ergibt sich auch eine Entzerrung und Dekomprimierung des derzeit gültigen Modells von Ausbildung - Erwerbstätigkeit - (relativ frühzeitiger) Ruhestand hin zu einem Modell verteilter und z. T. wiederkehrender Phasen von Lernzeiten, Erwerbszeiten, Unterbrechungen der Erwerbsarbeit und (relativ spätem) Ruhestand (Abbildung 10).

Solche Entwicklungen sind vereinzelt, wenn auch in bescheidenem Umfang, bereits sichtbar, z. B. beim Elternurlaub, Sabbatjahr, Bildungsfreistellungen, Seniorenstudium, aber bei weitem noch nicht gesellschaftliche Normalität. Am deutlichsten erkennbar sind die Auflösungstendenzen beim Berufseinstieg. Hier beobachten wir schon seit längerem eine tendenzielle Auflösung traditioneller Übergangsmuster von der Schule in den Beruf (6). Das lange Zeit gültige "Zwei-Schwellen-Modell" des Übergangs vom Bildungs- ins Beschäftigungssystem [/S. 22:]

  • Schwelle 1: Übergang von der allgemein bildenden Schule in Berufsausbildung/ Studium
  • Schwelle 2: Übergang von der Berufsausbildung/ Studium in Beschäftigung

und die sich daran knüpfenden politischen Handlungsfelder (Mertens/ Parmentier 1988) haben sich überholt. Jugendbiografien sehen heutzutage vielfach schon anders aus - nicht zuletzt bedingt durch Arbeitslosigkeit und Ausbildungsstellenmangel in den 80er und 90erJahren. Nach dem Ende der allgemein bildenden Schule (mit oder ohne Abschluss) diversifizieren sich die Übergänge und die Abfolge der Stationen:

  • Traditionelle Ausbildung oder Studium
  • Berufsvorbereitungslehrgänge/ -maßnahmen
  • Gelegenheitsjobs
  • Praktika
  • Auslandsaufenthalt
  • Wehr-/ Zivildienst, Freiwillige Dienste
  • Ausbildungs-/ Studienabbruch
  • Erwerbsarbeit
  • Familienzeit
  • Zweitausbildung/ Doppelqualifizierung
  • usw.

In dieser Situation sind die für Berufsorientierung und Berufswahlvorbereitung Verantwortlichen gefordert, Jugendlichen bei der Konstruktion ihrer Biografie zu helfen, um aus den möglichen Stationen und Optionen kein zielloses, undurchschaubares Labyrinth und "Sich-Treiben-Lassen" werden zu lassen, sondern eine planvolle und kohärente, individuelle Karriere zu begründen.

- Zu 7.: Entberuflichung von Qualifizierungsprozessen und Arbeitsmärkten -

Die Bedingungen der Informatisierung und Globalisierung der Erwerbsarbeit und die Qualifikationsanforderungen in den neuen Beschäftigungsfeldern erfordern eine hohe Flexibilität des Arbeitskräfteeinsatzes und eine "Just-in-time"-Qualifizierung der Arbeitskräfte auf der Basis eines soliden und breit angelegten Qualifikationsfundaments. Damit wird sich in Deutschland der Trend zur Entberuflichung des Arbeitsmarktes, d. h. zu einer tendenziellen Auflösung der beruflich strukturierten Zugangswege zum Arbeitsmarkt und der beruflich strukturierten Arbeitsteilung in den Betrieben, in Teilbereichen des Arbeitsmarktes [/S. 23:] fortsetzen. Ein Blick in die Stellenanzeigen von Firmen des sog. "neuen Marktes" verdeutlicht dies: Hier lässt sich weder von der Stellenbezeichnung noch von den geforderten Qualifikationen auf einen "Beruf" oder eine "Berufsausbildung" schließen, die da gesucht wird:


Beruflichkeit - so die Einschätzung von Experten - wird vor allem in folgenden Bereichen auch in Zukunft noch eine Rolle spielen (Abbildung 11):

  • bei den freiberuflichen Tätigkeiten ("professionals"),
  • bei der Rekrutierung von Kernbelegschaften,
  • bei fachzentrierten Kernbelegschaften (im Gegensatz zu unternehmenszentrierten Kernbelegschaften).

Für Angehörige der sog. Randbelegschaften und für Erwerbslose wird die Beruflichkeit weder bei der Rekrutierung noch bei der Tätigkeit künftig eine nennenswerte Rolle spielen (Dostal, Stooß, Troll 1998).

Gründe für das Festhalten am Beruf und am Berufskonzept in der Berufsbildung, wie sie von den für die Berufsbildung Verantwortlichen vorgebracht und verteidigt werden, sind vornehmlich soziologisch, psychologisch und pädagogisch-didaktisch legitimiert. Beruf und Beruflichkeit haben nämlich in der Gesellschaft und im Beschäftigungssystem neben der Qualifikations- und Allokationsfunktion auch eine Sozialisations- und Integrationsfunktion sowie eine identitäts- und sinnstiftende Funktion für den Einzelnen. Letztere sind für die soziale Verortung der Individuen in der Gesellschaft und für das Berufswahlverhalten von Jugendlichen von nicht zu unterschätzender Bedeutung.

Die seit einigen Jahren geführte Modularisierungsdebatte in der Berufsbildung verdeutlicht den Spagat zwischen Entberuflichungstendenzen auf dem Arbeitsmarkt und dem Festhalten am Berufskonzept in der beruflichen Ausbildung. Modularisierung soll einerseits im Interesse von Jugendlichen und von Betrieben mehr Flexibilität und Differenzierung in die starren Regelungen des dualen Systems bringen, andererseits soll sich Modularisierung am Berufskonzept als pädagogisch-didaktischer Klammer einzelner Ausbildungsmodule und als Orientierungsrahmen gegen die totale Beliebigkeit und Unübersichtlichkeit [/S. 24:] einer vollständig modularisierten Ausbildungslandschaft orientieren (Kloas 1997).

Inwieweit allerdings die orientierungs- und identitätsstiftende Funktion des "Berufs" für die Berufswahl und Berufsorientierung von Jugendlichen noch gewährleistet ist, scheint fraglich angesichts der Erosion der Beruflichkeit in den neuen Ausbildungsgängen:

"Die große Vielfalt der Ausbildungsgänge dürfte eine Folge veränderter Bedarfsstrukturen im Beschäftigungssystem sein. Immer häufiger werden - geboren aus singulären Bedarfsaussagen - zusätzliche Kombinationen von Qualifikationselementen zu neuen Berufsausbildungen zusammengesetzt. (...) Die Probleme beim Übergang aus der Ausbildung in die Erwerbstätigkeit haben die Autonomie der Ausbildung reduziert, da Ausbildungen immer spezifischer auf den aktuellen Bedarf hin ausgerichtet werden. Qualifikationen und ihre Verwertung werden zunehmend unter dem unmittelbaren Verwertungsaspekt gesehen. (...) Bei dieser Erosion wird der Berufsbegriff gern umgangen, denn dieser signalisiert in der Ausbildung immer noch eine gewisse Abrundung und eine umfassende Basis der gebündelten Qualifikationsziele. Die erste Stufe ist die Entfernung der Abschlussbezeichnung von der Bezeichnung des Zielberufs. Es ist bezeichnend, dass seit fast zwei Jahrzehnten Ausbildungsordnungen verabschiedet werden, die den Voraussetzungen von Klarheit, Prägnanz und Kürze eklatant widersprechen. (...) Diese Wortungetüme sind Ergebnis einer differenzierten Optimierung von Qualifikationselementen, sie sind aber nicht transportabel für die Identifikation mit einer Rolle in der Gesellschaft. (...) Eine zweite Stufe bei dieser Zersplitterung wird durch die neue Kombination von Berufsinhalten ausgelöst. Immer wieder werden additiv zusätzliche Inhalte auf bestehende Ausbildungen aufgesetzt, bis sie ein inhomogenes Spektrum von Inhalten darstellen, das keine Identifikationsrelevanz mehr hat. Bindestrich- und Hybridberufe für integrative Aufgabenlösung, Aufbau- und Doppelausbildungen sowie die Ergänzung des Qualifikationsprofils durch Fort- und Weiterbildungen führen zu individuellen Qualifikationsmustern, die in dieser Vielfalt weder von den Erwerbstätigen noch von den Arbeitsorganisatoren überblickt werden können." (Dostal, Stooß, Troll 1998, S.451 f)

 

5. Fazit

Nimmt man diese Bedenken ernst, so ist künftig in der Berufswahlvorbereitung die Vermittlung einer neuen "Orientierung" gefragt, die nicht mehr den traditionellen Beruf im Zentrum hat, sondern die Ausprägung der [/S. 25:]

  • individuellen Arbeitsorientierung (Ziele, Werte, Fähigkeiten, Interessen, Ressourcen) und die
  • persönliche Laufbahnentwicklung ("career development"), d. h. Wege und Optionen zur Erlangung der erforderlichen Qualifikationen und Kompetenzen und zur erfolgreichen Gestaltung dieser individuellen Karriere.

Versuchen wir zusammenzufassen welche Anforderungen sich aus den dargestellten Veränderungen an die nachwachsende Generation und damit auch an eine moderne Berufsorientierung in Schule und außerhalb von Schule ergeben:

 

Qualifikationsanforderungen in der künftigen Erwerbsgesellschaft:

Anforderungen an eine moderne Berufsorientierung

 
Hohes Qualifikationsniveau als Einstiegsvoraussetzung
  in der Allgemeinbildung
  in der beruflichen Erstausbildung
   
IT-Kompetenzen als grundlegende Kulturtechniken
  Nutzung computergesteuerter Arbeitsmittel in nahezu allen Tätigkeitsfeldern und auf fast allen Arbeitsplätzen
   
Breite fachliche Basisqualifikationen mit hohem Transfergehalt für wechselnde Arbeitsanforderungen und Tätigkeiten
  als Voraussetzung für flexible Arbeitsorganisation und Einsatzfähigkeit im Betrieb und bei Betriebswechsel
   
Internationale Kompetenzen
  Fremdsprachen und interkulturelle Kompetenzen
   
Extrafunktionale Qualifikationen/ Schlüsselqualifikationen und Sozialkompetenzen als Voraussetzung für eine neue flexible Arbeitsorganisation ("Life and Work Skills"):
  Vernetztes logisches und ganzheitliches Denken,
  Kreativität,
  Organisations-, Planungs- und Managementfähigkeiten, [/S. 26:]
  Verantwortungs- und Leistungsbereitschaft,
  Teamfähigkeit und andere soziale Fähigkeiten,
  Ergebnisorientierung und Kundenorientierung
  u. a. m.
   
Bereitschaft und Fähigkeit zum "lebenslangen Lernen" (auch in Eigenverantwortung)
  (z. T. in der Freizeit und auf eigene Kosten)
   
Fähigkeiten zu Selbstständigkeit und Eigenverantwortung ("Life/ Work Skills")
  zur Gestaltung der eigenen Erwerbsbiografie,
  zu ökonomischem, ökologischem und unternehmerischem Denken und Handeln,
  zu beruflicher Selbstständigkeit als Erwerbsform.
   
 

Anmerkungen

1) Rahmenvereinbarung über die Zusammenarbeit von Schule und Berufsberatung vom 5.12.1971, in: KMK (1997).

2) Gemeinsame Empfehlung der HRK, KMK und BA über die Zusammenarbeit in der Sekundarstufe II vom 12. Februar 1992, in: KMK (1997).

3) Die Vereinbarungen zwischen den Kultusministerien der Länder und den jeweiligen Landesarbeitsämtern sind ebenfalls veröffentlicht in: KMK (1997).

4) Unter "atypischen" Arbeitsverhältnissen versteht die Studie folgende Beschäftigungsformen: alle Teilzeitarbeitsverhältnisse, alle befristeten Arbeitsverhältnisse ohne Auszubildende in Universität und Forschung, Selbstständige außerhalb der Landwirtschaft ohne Beschäftigte.

5) Befristete Beschäftigung ohne Auszubildende, inklusive ABM, Leiharbeit, geringfügige Beschäftigung und Freie Mitarbeit.

6) Verschiedene Jugendstudien des Deutschen Jugendinstituts, München haben hierzu eindrucksvolle Belege erbracht; vgl. z. B. Raab u. a. (1996).

 

Literatur

Braun, F., Felber, H., Lex, T. (1997): Arbeitsweltbezogene Jugendsozialarbeit - Gesamtwerk in drei Bänden; Band 1: Lokale Politik gegen Jugendarbeitslosigkeit; Band 2: Berufliche Chancen für benachteiligte Jugendliche?, Band 3: Berufswege Jugendlicher zwischen Integration und Ausgrenzung, Weinheim - München.

BA (Bundesanstalt für Arbeit) (1999): Dienstblatt Runderlass Nr. 37/99 vom 15. September 1999. Durchführung der Berufsorientierung in der Berufsberatung/ Ausbildungsmarktpartner, in: Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit (ANBA) 47(1999)10, S. 1067 ff.

Dostal, W., Stooß, F., Troll, L. (1998): Beruf - Auflösungstendenzen und erneute Konsolidierung, in: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 31(1998) 3.

Hoffmann, E., Walwei, U. (2000): Strukturwandel der Erwerbsarbeit - Was ist eigentlich noch "normal"?, IAB-Kurzbericht Nr. 14/ 25.10.2000.

IAB (2001): Betriebliche Berufsausbildung. Was du heute kannst besorgen ... Aktuelle Ergebnisse aus dem IAB-Betriebspanel 1999, in: IAB-Materialien Nr. 1/2001, S. 14 ff.

Kahsnitz, D. (1997): Arbeit und Arbeitslehre, in: Kahsnitz, D., Ropohl, G., Schmid, A. (Hrsg.), a. a. O.

Kahsnitz, D., Ropohl, G., Schmid, A. (Hrsg.) (1997): Handbuch zur Arbeitslehre, München.

Kloas, P.W. (1997): Modularisierung, Bielefeld.

KMK (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder) (1997): Dokumentation zur Berufsorientierung an Allgemeinbildenden Schulen, Band 1, Bonn.

Mertens, D., Parmentier, K. (1988): Zwei Schwellen - acht Problembereiche. Grundzüge eines Diskussions- und Aktionsrahmens zu den Beziehungen zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem, in: Dieter Mertens (Hrsg.), Konzepte der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung - Eine Forschungsinventur des IAB, Nürnberg, 3. überarbeitete Auflage 1988.

Meyer-Haupt, K. (1995): Berufsberatung. 2. neubearbeitete Auflage, Stuttgart.

Raab, E. u. a. (1996): Jugend sucht Arbeit. Eine Längsschnittuntersuchung zum Berufseinstieg Jugendlicher, Weinheim und München.

Reinberg, A.(1999): Der qualifikatorische Strukturwandel auf dem deutschen Arbeitsmarkt - Entwicklungen, Perspektiven und Bestimmungsgründe, in: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 30 (1999) 4.

Reinberg, A. (2001a): Bildungsexpansion in Westdeutschland - Stillstand ist Rückschritt, IAB-Kurzbericht Nr. 8/ 18.4.2001.

Reinberg, Hummel (2001b): Die Entwicklungen im deutschen Bildungssystem vor dem Hintergrund des qualifikatorischen Strukturwandels auf dem Arbeitsmarkt. Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Band 245, Nürnberg.

Schober, K. (1997): Berufswahlverhalten, in: Kahsnitz, D., Ropohl, G., Schmid, A. (Hrsg.), a. a. O.

Schreyer, F. (2000): "Unsichere" Beschäftigung trifft vor allem die Niedrigqualifizierten, IAB-Kurzbericht Nr. 15/ 31.10.2000.

Statistisches Bundesamt (2001): Mikrozensus: Leben und Arbeiten in Deutschland 2000, in: Wirtschaft und Statistik, Heft 4, S. 43.

Strijewski, C. (2001): Berufsorientierung in der Zusammenarbeit von Schule und Berufsberatung: Der Beitrag der Arbeitsämter, in: Schudy, J. (Hrsg.), Berufsorientierung in der allgemein bildenden Schule.

Troll, L. (2000): Arbeitsmittel in Deutschland, Teil 1: Moderne Technik bringt neue Vielfalt in die Arbeitswelt, IAB-Kurzbericht Nr. 6/ 16.5.2000; Teil 2: Moderne Technik kommt heute überall gut an, IAB-Kurzbericht Nr.7/ 17.5.2000.

Wanders, G., Schneider, J. (2001): Die geschichtliche Entwicklung der Berufsberatung in der deutschen Arbeitsverwaltung, in: Ertelt, B.-J. u. a. (Hrsg.), Facetten des Wandels. Aufgabenfelder der Bundesanstalt für Arbeit - nicht nur aus hochschulischer Sicht. Texte für die Aus- und Fortbildung in der Bundesanstalt für Arbeit (AuF Print) Nr. 7. Mannheim 2001.

Weidig, I., Hofer, P., Wolff, H. (1999): Arbeitslandschaft 2010 nach Tätigkeiten und Tätigkeitsniveau. Ergebnisse der IAB/ Prognos Projektion 1998/99. Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Band 227, Nürnberg.

 

Abbildungen