4. Didaktik der Berufsorientierung

 

Dedering, Heinz (2002): Entwicklung der schulischen Berufsorientierung in der Bundesrepublik Deutschland.

In: Schudy, J. (Hrsg.): Berufsorientierung in der Schule. Grundlagen und Praxisbeispiele. Bad Heilbrunn/ Obb. 2002, S. 17 - 31.

 

1. Ausgangssituation

[/S. 17:] Die Notwendigkeit einer beruflichen Orientierung in allgemein bildenden Schulen ist in der Bundesrepublik Deutschland Mitte der 1950er Jahre deutlicher bewusst geworden.

Damals - in der Wiederaufbauphase nach dem 2. Weltkrieg - war die Jugend beim Übergang von der Schule in die Berufswelt mit großen Problemen konfrontiert. Diese hatten ihre Ursache zunächst vor allem in einem Mangel an Ausbildungs- und Arbeitsplätzen. Die "Berufsnot der Jugend" (DGB 1952) nahm dann aber mit der Verknappung des Faktors Arbeit und den fehlenden Qualifikationen für die Einführung moderner, automatisierter Produktionsverfahren in der westdeutschen Wirtschaft zunehmend qualitative Züge an: Die Jugend geriet in eine allgemeine Qualifikationsnot. Vor diesem Hintergrund wurde eine bessere Ausbildung der künftigen Berufstätigen gefordert. Diese Forderung richtete sich nicht nur an die Institutionen der Berufsausbildung, sondern auch an ihre 'Zubringer' - die allgemein bildenden Schulen.

Insbesondere die Berufspädagogik verwies nachdrücklich auf die Probleme der Jugendlichen beim Eintritt in den Betrieb, der unvermittelt, also ohne schulische Vorbereitung erfolgte. Außerdem gab es Vorbehalte gegen die Berufsaufklärung durch die Berufsberatungsämter, weil sie Befunde der Berufsforschung kaum berücksichtigte. Zu nennen ist vor allem der Berufspädagoge Heinrich Abel. Er hat sich in mehreren Veröffentlichungen mit den pädagogisch-didaktischen Problemen im "Vorraum der beruflichen Bildung" (Abel 1956, S. 271) auseinander gesetzt. Dabei konnte sich die Berufspädagogik auf soziologische und sozialpsychologische Untersuchungen über die Situation der Jugend stützen. So hat Helmut Schelsky in seiner bekannten Studie "Die skeptische Generation" auf die Kompliziertheit und andauernde Veränderung der Berufsmöglichkeiten der Jugendlichen [/S. 18:] hingewiesen (vgl. Schelsky 1957, S. 245). Außerdem sah er den Übergang vom Kind zum Erwachsenenstatus durch die traditionelle Betriebslehre beeinträchtigt, weil sie keine dem Reifungs- und Entwicklungsstand der Schulabsolventen angemessene Lehrform sei. Deshalb müsse der Pflichtschulbesuch um ein Jahr oder gar um zwei Jahre verlängert und eine Vorbereitung auf die Berufswelt erfolgen, bevor die jungen Menschen in sie eintreten (vgl. Schelsky 1957, S. 297 ff.).

Die Überlegungen bezogen sich ursprünglich auf die allgemein bildenden Schulen generell. Gefolgt wurde Georg Kerschernsteiners Gedanken, dass alle Schulen die "erste Aufgabe" haben, die Schüler auf einen bestimmten Berufsbereich vorzubereiten (vgl. Kerschensteiner 1920). Dabei wurden jene Ansätze einer allgemeinen, arbeits- und berufsorientierten Erziehung wieder aufgenommen, die in der Geschichte des unteren und mittleren Schulwesens in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert eine Rolle gespielt haben (vgl. Dedering 2000, S. 178 ff.). Die Betrachtung der historischen Ansätze beförderte eine schulformspezifische Konkretisierung der Diskussion. Dabei herrschte die Meinung vor, dass sich eine Berufsorientierung vornehmlich an praktisch Begabte richten sollte und sie insbesondere eine Aufgabe der enger auf das praktische Leben bezogenen Volksschule sein müsse. Mit diesem Argument ist die Einführung des 9. Volksschuljahres maßgeblich begründet worden. Dies führte dazu, dass sich die Diskussion über Berufsorientierung zunehmend auf die Volksschule beschränkte. Sie bezog sich aber nicht mehr nur auf die Übergangsprobleme der Jugendlichen, sondern es wurde umfassender über die Frage diskutiert, wie die Schülerinnen und Schüler auf die Berufs- und Arbeitswelt vorbereitet werden könnten. Nun ging es darum, die veraltete volkstümliche Volksschulbildung durch eine stärkere didaktische Ausrichtung der Volksschuloberstufe auf die künftigen Anforderungen der Berufsarbeit zu überwinden und der fragmentierten Volksschule einen pädagogischen Sinn zu geben. Konkrete Ansätze sind mit der Einführung des 9. Pflichtschuljahres realisiert worden. Die Maßnahmen bezogen sich jedoch nur auf Teilaspekte der Arbeitswelt. Im Vordergrund standen Hilfen bei der Berufsfindung durch "Erkundung der heimatlichen Arbeitswelt" (Wagner 1955, S. 200 ff.). Auch wurden Betriebspraktika durchgeführt. Hiermit hatten einige Volksschulen (z. B. in Hamburg und Berlin) schon seit Anfang bzw. Mitte der fünfziger Jahre Erfahrungen.

In ihrem Anfangsstadium war die schulische Berufsorientierung also durch zwei gegensätzliche Entwicklungen gekennzeichnet: Einerseits wurde ihre Perspektive auf die Volksschule verengt und andererseits erfolgte eine Ausweitung ihrer Problemstellung auf die Hinführung zur Berufs- und Arbeitswelt. Dies erklärt, warum die berufliche Orientierung in der damaligen Frühphase der Arbeitslehrediskussion einen geringen Stellenwert hatte. [/S. 19:]

 

2. Pädagogische und bildungspolitische Grundlegung

Mitte der 1960er Jahre - mit Beginn der Bildungsreform - hat der Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen die schulische Berufsorientierung in seinem Hauptschulgutachten in den umfassenden Begründungszusammenhang einer Arbeitslehre gestellt (vgl. Deutscher Ausschuss 1964).

Der Deutsche Ausschuss empfiehlt den Aufbau einer bis zum 10. Schuljahr verlängerten Hauptschule (die die Volksschuloberstufe ersetzen soll). Er setzt den "Beruf als didaktisches Zentrum" dieser neuen Schulform und versteht sie insgesamt als "Eingangsstufe des beruflichen Bildungsweges". Arbeitslehre als neue "selbstständige Unterrichtsform" der Hauptschule hat die Aufgabe, den Schülerinnen und Schülern eine "bildungswirksame Hinführung zur modernen Arbeitswelt" zu ermöglichen. "Dabei wird der Schüler mit Grundzügen des Arbeitens in der modernen Produktion und Dienstleistung so weit vertraut, dass er danach seine Berufswahl verständiger treffen kann" (ebd., S. 41).

Aus diesen Vorschlägen, die stark von den Arbeitslehre-Vorstellungen Heinrich Abels (der Mitglied des Deutschen Ausschusses war) geprägt sind (vgl. u. a. Abel 1966, S. 617 ff.), lässt sich schließen, dass in Arbeitslehre auch eine Hilfestellung bei der Berufswahl gegeben werden soll. Der Deutsche Ausschuss unterlässt es aber, die Berufswahlvorbereitung näher zu bestimmen. Ein besonderes Inhaltsangebot für das postulierte Ziel der "Berufswahlreife" sieht er nicht vor. Vielmehr erklärt er die Berufswahlvorbereitung als Grundprinzip, dem die ganze Arbeitslehre - mit Technik, Wirtschaft und Hauswirtschaft - verpflichtet ist. Dabei wird dem praktischen Tun in der Schule und dem Betriebspraktikum eine Zentralfunktion zugesprochen. Der vom Deutschen Ausschuss zugrunde gelegte traditionell-handwerkliche Berufsbegriff und die Konzentration seiner Arbeitslehre auf Industrie und Handwerk engt die Vorbereitung auf die Berufswahl jedoch stark auf den gewerblichen Bereich ein. Diese kann im 10. Schuljahr nach Berufsfeldern differenziert werden. Eine spezielle "Berufsreife" soll aber erst in der anschließenden Berufsausbildung angestrebt werden.

Aufgrund der vagen Vorstellungen des Deutschen Ausschusses zum Thema 'Berufsorientierung' bestand hierzu in den Jahren nach seinen Arbeitslehre-Empfehlungen ein großer Klärungsbedarf. Inzwischen lagen auch neue empirische Befunde und Theorien zur Berufswahl vor (z. B. von Scharmann, Jaide und Daheim), auf die die schulische Berufsorientierung zurückgreifen konnte (vgl. Steffens 1975). Außerdem traten in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre die Probleme des Berufs (Auflösung traditioneller [/S. 20:] Berufsbilder) und des beruflichen Ausbildungswesens (u. a. unbesetzte Lehrstellen, Unzufriedenheit der Lehrlinge sowie hohe Abbrecher- und Wechselquoten unter den Auszubildenden) auch in der Öffentlichkeit deutlicher hervor. Vor diesem Hintergrund begannen Pädagogik und Bildungspolitik sich stärker mit der Berufsorientierung zu beschäftigen. Zum einen wurden didaktische Entwürfe einer Berufswahlvorbereitung als ein Aufgabenfeld der Arbeitslehre und einer Arbeitslehre als vorberufliche Bildung (z. B. von Wiemann, Blankertz, Klafki, Stratmann und Kaiser) entwickelt (zum Überblick siehe Dauenhauer 1974 und Hendricks 1975). Zum anderen schlugen sich die Bemühungen in einer Reihe von Positionspapieren bildungspolitischer Institutionen und Gremien wieder (vgl. Dibbern u. a. 1974, S. 21 ff.). Diese zeugen - bei allen Unterschieden im Detail - von einem breiten politischen Konsens über die Notwendigkeit einer beruflichen Orientierung in der Schule. Richtungsweisend waren die Aussagen und Vorschläge der Kultusministerkonferenz (KMK), des Deutschen Bildungsrates und der Bundesanstalt für Arbeit.

Die Empfehlungen der KMK zur Hauptschule (1969) sehen in dem Fach Arbeitslehre ein eigenständiges Unterrichtsfeld "Hinführung zur Berufswahl" vor, in dem "auf der Grundlage praktischen Tuns und theoretischer Durchdringung" sowie in Betriebserkundungen und Betriebspraktika eine "Orientierung über Berufsfelder, Berufsgruppen und Berufe" ermöglicht werden soll, die "am Ende der 9. Klasse zu einer revidierbaren Berufsfeldentscheidung" führt (KMK 1969, S. 29).

Nach den Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates in seinem "Strukturplan für das Bildungswesen" (1970), der eine umfassende pädagogische sowie gesellschafts- und bildungspolitische Begründung für die Reform des deutschen Erziehungswesens enthält, gehört eine "Berufsbildungsberatung" (die gleichrangig neben der Schullaufbahnberatung und der individual-psychologischen Beratung steht) zu den Aufgaben des Bildungswesens. Sie ergänzt die berufliche Orientierung (über Berufsfelder, Berufsbilder und Berufschancen) in der Arbeitslehre, "damit der Lernende eine Berufswahl treffen kann" (Deutscher Bildungsrat 1970, S. 91). Grundsätzlich sollen die Lernangebote und die Wahl der Unterrichtsfächer auch an beruflichen Bildungsgängen und beruflichen Anforderungen orientiert werden. Damit nimmt der Deutsche Bildungsrat die Idee des Deutschen Ausschusses, die Hauptschule als Eingangsstufe des beruflichen Bildungsweges zu konzipieren, auf; er weitet sie aber auf alle allgemein bildenden Schulen aus (vgl. Dibbern u. a. 1974, S. 26).

§ 32 des Arbeitsförderungsgesetzes (1969) verpflichtet die Bundesanstalt für Arbeit, "mit den Einrichtungen der allgemeinen und der beruflichen Bildung" zusammenzuarbeiten. Dieser Kooperationsauftrag ist 1971 in einer [/S. 21:] "Rahmenvereinbarung über die Zusammenarbeit von Schule und Berufsberatung" zwischen KMK und Bundesanstalt konkretisiert worden. Danach soll die Kooperation bei "berufsaufklärenden Maßnahmen" erfolgen. Die berufliche Einzelberatung, die Unterrichtung über die Berufsausbildung und die Vermittlung in berufliche Ausbildungsstellen sind ausschließlich Aufgabe der Bundesanstalt. "Bei ihren berufswahlvorbereitenden Maßnahmen stützt sich die Berufsberatung auf die durch die Schule geleistete Hinführung zur Wirtschafts- und Arbeitswelt" (Rahmenvereinbarung 1971, S. 449 ff.). Insbesondere den Berufsberatungsstellen der Arbeitsämter obliegt es, Verbindung zu den Schulen ihres Bezirkes zu halten und mit den Lehrerinnen und Lehrern zusammenzuarbeiten. Die Rahmenvereinbarung bildet die Grundlage für länderspezifische Richtlinien und Erlasse. In der Regel stehen der kooperativen Berufswahlvorbereitung folgende Möglichkeiten und Formen zur Verfügung (vgl. Landesarbeitsamt Hessen (Hrsg.) 1996):

  • Schulbesprechungen,
  • Elternveranstaltungen,
  • Vortagsveranstaltungen,
  • Seminare,
  • Schriften,
  • Berufsinformationszentren (BIZ) und
  • Berufserkundungen.
 

3. Curriculare und schulische Verankerung

Die pädagogischen und bildungspolitischen Vorschläge, insbesondere die Beschlüsse der KMK von 1969, veranlassten die meisten Bundesländer, Lehrpläne, Richtlinien, Handreichungen bzw. Arbeitsgrundlagen für eine Arbeitslehre in Form eines Unterrichtsbereiches ("Arbeit - Wirtschaft - Technik") bzw. - seltener - in Form eines integrativen Unterrichtsfaches in der Hauptschule (sowie der Sonderschule) zu erlassen. Außerdem gehörte Arbeitslehre von Anfang an zum Curriculum der Gesamtschule. Während einige Bundesländer (z. B. Berlin, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen) schon Ende der sechziger Jahre Lehrpläne für Arbeitslehre vorlegten, geschah dies in anderen Ländern (z. B. in Hessen) erst Ende der siebziger Jahre. In diesen Plänen hat die Berufsorientierung einen didaktischen Ort bekommen. In der Regel sahen sie eine der folgenden Formen vor:

  • Die Berufsorientierung ist ein zentrales Aufgabenfeld (z. B. in Bremen).
  • Die Berufsorientierung erfolgt in einem wählbaren Schwerpunktbereich: in Metalltechnik, Elektrotechnik u. a. (z. B. in Berlin). [/S. 22:]
  • Die Berufsorientierung ist an Betriebserkundungen und Betriebspraktika angekoppelt (z. B. in Nordrhein-Westfalen und Bayern) und
  • die Berufsorientierung fungiert als Prinzip, für dessen Vermittlung alle Sachgebiete der Arbeitslehre (Technik, Wirtschaft, Hauswirtschaft) zuständig sind (z. B. in Niedersachsen).

In den 1970er Jahren haben auch die Realschulen besondere Anstrengungen unternommen, den Schülerinnen und Schülern Hilfen bei der Berufswahl zu geben. Während es zunächst primär um organisatorische Aspekte ging (Zusammenarbeit mit der Berufsberatung, Durchführung von Betriebserkundungen und Betriebspraktika), rückten zunehmend inhaltliche Fragen in den Vordergrund (vgl. Wollenweber 1992, S. 469 f.). Berufsorientierung wurde entweder in dem neu eingeführten Fach bzw. Fächerverbund Arbeitslehre oder in einem vorhandenen Fach (Wirtschaft/ Politik u. a.) als Pflicht- und/ oder Wahlpflichtangebot (in der Regel in der 9. und 10. Klasse) angesiedelt oder als eine Aufgabe mehrerer Unterrichtsfächer betrachtet, wobei der Sozialkunde meist eine Leitfachfunktion zukam.

Die didaktischen Ansätze zur Berufsorientierung waren also unterschiedlich. Die Curriculumgestalter mussten die besonderen Schulsituationen in den Bundesländern (Vorläuferfächer, Schulausstattung, Vorbildung des Lehrpersonals u. a.) berücksichtigen, sie waren Eingriffen der Politik ausgesetzt und sie orientierten sich jeweils an bestimmten Konzeptionen, die mehr oder weniger kontrovers waren. Außerdem kam die Forderung nach Zusammenarbeit von Schule und Berufsberatung in Curricula und Unterrichtspraxis nur selten zum Tragen. Angesichts dieser Situation hat die Bundesanstalt für Arbeit an die Wissenschaftler Harald Dibbern, Franz-Josef Kaiser und Adolf Kell 1974 ein Gutachten zur Entwicklung eines Curriculums >> Berufswahlunterricht << mit dem Auftrag vergeben, die Rahmenvereinbarung zur Zusammenarbeit von Schule und Berufsberatung unter Berücksichtigung der vorhandenen pädagogischen Ansätze und bildungspolitischen Empfehlungen didaktisch umzusetzen (vgl. Dibbern u. a. 1974).

Die Autoren weisen der schulischen Berufsorientierung ihren Platz in der Arbeitslehre zu. Diese verstehen sie als ein obligatorisches Unterrichtsfach für alle Schüler der Sekundarstufe I. Der Berufswahlunterricht soll ein kooperativer Aufgabenbereich von Bundesanstalt und Schule sein. Seine globale Aufgabe ist die Vermittlung einer Berufswahlreife, verstanden als "die erworbene Qualifikation zur Durchführung einer ersten Berufs- und Ausbildungsentscheidung unter der Perspektive einer langfristigen individuellen Berufswegplanung" (Dibbern u. a. 1974, S. 74). Diese enthält - im Hinblick auf die zentralen Bedingungen des Berufweges - drei Teilaufgaben: [/S. 23:]

  1. Analyse der familiären und schulischen Sozialisation der Berufswähler,
  2. Analyse der Berufsausbildung als Möglichkeit der Anpassung an die Anforderungen der beruflichen Tätigkeitsfelder,
  3. Analyse der Bedingungen der Arbeitswelt, mit denen der Jugendliche bei der späteren Berufsausübung konfrontiert sein könnte.

Für diese Teilaufgaben, die auf Themenfelder verweisen, werden einzelne Lernziele und Teillernziele mit Inhalten und methodischen Vorschlägen angegeben.

Dieses "Rahmencurriculum" hat zu mehreren, von der Bundesanstalt für Arbeit bzw. von Landesarbeitsämtern initiierten und geförderten Modellversuchen geführt. Außerdem gab es eine Reihe von Versuchen, die auf die Initiative der Bildungsverwaltung oder einzelner Schulen zurückgingen (vgl. Büchner u. a. 1979, S. 65 ff.). Diese Modelle und Ansätze zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie Curricula mit konkreten Arbeitsmöglichkeiten im Bereich der Berufswahlvorbereitung entwickelt und erprobt haben. Damit haben sie einen maßgeblichen Anteil an der unterrichtspraktischen Wende in der Arbeitslehre-Entwicklung in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre.

 

4. Theoretische Weiterentwicklung und Lehrplanrevision

In den 1980er Jahren ist verstärkt versucht worden, die schulische Berufsorientierung theoretisch neu zu bestimmen und auf eine neue curriculare Grundlage zu stellen. Die Notwendigkeit hierzu wurde in den Veränderungen der beruflichen Orientierungen, Einstellungen und Verhaltensweisen der Jugend und in dem Strukturwandel der Arbeitswelt gesehen (vgl. Dedering 2000, S. 338 ff.).

Ein wichtiger Bezugspunkt der theoretischen Arbeiten zur Berufsorientierung war die Realisierung von unternehmerischen Strategien zur Flexibilisierung der Berufsarbeit im Zusammenhang mit der Einführung neuer Technologien und Organisationsstrukturen. Diese zielten - und zielen auch heute noch - auf erweiterte Gestaltungspotenziale der Arbeitenden, über deren Einsatz in den Betrieben oft kurzfristig entschieden wird. Dabei stehen die Arbeitnehmer vor neuen Orientierungs- und Qualifizierungsproblemen, wie sie z. B. unter den Chiffren "häufiger Berufswechsel", "Vermittlung von Schlüsselqualifikationen" und "ständiges Um- und Weiterlernen" diskutiert werden.

Im Wesentlichen bezogen sich die Reflexionen und Vorschläge zur beruflichen Orientierung auf folgende, zum Teil auch empirisch untersuchte Aspekte:

  • Konzentration der Arbeitslehre auf die Kategorie des Berufs mit dem primären Ziel der Aneignung eines kompetenten [/S. 24:] Problemlösungsverhaltens (vgl. Hoppe 1980) bzw. der Persönlichkeitsentwicklung (vgl. Kahsnitz 1982, S. 6 ff.),
  • Berufsvorbildung, die als komplexe Lernorganisation mit dem Ziel der Berufswahlkompetenz verstanden wird und ihren Schwerpunkt im Berufswahlunterricht im Rahmen der Arbeitslehre hat (vgl. Dibbern 1983; Dibbern 1993),
  • Orientierung an einem ganzheitlichen Berufsbegriff, der die Trennung von Kopf- und Handarbeit, dispositiver und ausführender Arbeit, Erwerbs- und Freizeitarbeit überwindet (vgl. z. B. Famulla 1985, S. 2 ff.),
  • Durchführung von Betriebspraktika als fächerübergreifende Projekte im Lernortverbund (von Schule, betrieblicher Arbeitssituation, Gemeindezentren u. a.) mit der Funktion einer allgemeinen und kritischen Berufsorientierung (vgl. Feldhoff u. a. 1985),
  • Handlungsorientierter Berufswahlunterricht mit einer Ausrichtung auf reale Handlungssituationen der Schülerinnen und Schüler (vgl. z. B. Klippert 1987, S. 49 ff.),
  • Integrative Berufswahlvorbereitung, die Berufswahlunterricht, Betriebserkundungen, Berufsberatung, Einsatz von Medien, BIZ-Besuchen und ein Betriebspraktikum kombiniert (vgl. Beinke 1987),
  • Berufs- und Studienorientierung im Gymnasium (vgl. z. B. Kramer 1988),
  • Kulturorientierte Berufswahlvorbereitung, die die sozialen Lebenszusammenhänge, in die Berufswahl und Berufsausübung eingebunden sind, berücksichtigt (vgl. Mueller 1989, S. 141 ff.) und
  • Berücksichtigung der Geschlechterverhältnisse im berufsorientierten Unterricht (vgl. z. B. Lemmermöhle-Thüsing u. a. 1991-1993).

Diese Ansätze sind in den Folgejahren teilweise weiterentwickelt und erprobt worden. Beispielsweise war der Vorschlag eines integrativen Berufswahlunterrichts von Lothar Beinke Grundlage eines Modellversuchs (von 1993 bis 1996) an sächsischen Mittelschulen. Gegenstand des Versuchs war der fächerübergreifende berufsorientierende Unterricht unter Einschluss von Betriebspraktika und unter Berücksichtigung der Förderung von Berufstätigkeiten für Mädchen (mit besonderer Gewichtung der technischen Berufe). Die Versuchsergebnisse - Durchführung von Betriebserkundungen und eines zweiten Betriebspraktikums, Vorschläge für Projektthemen, Einbeziehung der Berufsberatung u. a. - sind in Sachsen inzwischen in die Schulpraxis umgesetzt worden (vgl. Referate zur Abschlusstagung 1996).

Einen zukunftsträchtigen Reformansatz stellt das "Modell für eine schulformübergreifende, kooperativ gestaltete Berufsorientierung in der Sekundarstufe I" von Karl-Heinz Dammer dar (vgl. Dammer 1997, S. 47 ff.). Es [/S. 25:] handelt sich um ein (im Einvernehmen mit allgemein- und berufsbildenden Schulen entwickeltes) einheitliches Konzept für alle Schüler der 9. und 10. Klassen allgemein bildender Schulen, das unter Berufsorientierung die Vorbereitung auf die Berufswahl versteht und diese als eine "zentrale Entwicklungsaufgabe der Adoleszenz" definiert. Die Berufswahlvorbereitung soll (zur Auseinandersetzung mit allgemeinen Aspekten von Arbeit und Beruf) in die Pflichtfächer der Bereiche Gesellschaftslehre und/ oder Arbeitslehre integriert werden und in besonderen berufsfeldeinführenden Wahlpflichtkursen erfolgen. Das Modell sieht folgende Arbeitsformen vor:

  • Fachunterricht,
  • Projekte,
  • Praktika,
  • Betriebserkundungen,
  • Schulhospitationen,
  • Schülerpartnerschaften und
  • Maßnahmen zur Öffnung der Schule (Einsatz von Berufsberatern, Betriebsexperten u. a.).

Ein Kernelement des Konzepts ist die räumliche und personelle Zusammenarbeit verschiedener allgemein bildender Schulformen, die auch mit berufsbildenden Schulen in Kontakt stehen. Es kann im Rahmen der bestehenden Stundentafel realisiert werden.

Parallel zu den theoretischen Bemühungen sind die Arbeitslehre-Lehrpläne überarbeitet worden. Dies geschah in den meisten Bundesländern Anfang und Mitte der 1980er Jahre; die anderen, z. B. Bremen, Hamburg und Hessen, folgten in den 1990er Jahren.

In den Neufassungen hat die Vorbereitung auf die Berufswahl gegenüber den frühen Lehrplänen der 1960er und 1970er Jahre eine Verstärkung erfahren. Der Gegenstandsbereich 'Beruf' ist in sämtlichen Lehrplänen relativ umfangreich, in mehreren Plänen hat er sogar einen zentralen Stellenwert (z. B. in den Lehrplänen der Bundesländer Bayern, Berlin und Rheinland-Pfalz). Die neueren Erkenntnisse zur Berufsorientierung haben jedoch kaum Eingang in die Lehrpläne gefunden. Insbesondere ist die zukünftige Entwicklung von Beruf, Qualifikation und Berufsausbildung vernachlässigt worden. Der vorgesehene Berufswahlunterricht ist nach wie vor stark auf Vermittlung berufskundlicher Informationen ausgerichtet, z. B. zur konkreten Berufsfindung. Dabei wird aber stärker auf außerschulische Dienstleistungsangebote zurückgegriffen, z. B. des Arbeitsamtes (in BIZ-Besuchen) und von Betrieben (in Betriebserkundungen und -praktika) (vgl. hierzu Ziefuß 1992, S. 142 ff.). [/S. 26:]

Angesichts dieser Situation in den Curricula kann der geringe Einfluss der Schule auf die Berufswahl der Jugendlichen nicht verwundern. So weisen empirische Untersuchungen darauf hin, dass die Schule als Wirkungsfaktor für die Berufswahlentscheidung in den Augen der Schüler erst nach den Eltern, dem Betriebspraktikum, der Berufsberatung und den Freunden rangiert (vgl. z. B. Kleffner u. a. 1996, S. 21). Diese Feststellung sollte für den Berufswahlunterricht Anlass sein, sich auf seine inhaltlichen Vorteile zu besinnen. Sie bestehen primär in der Vermittlung berufsorientierender Zusammenhänge, während für die konkrete Berufswahl die anderen beteiligten Institutionen und Personen bessere Voraussetzungen haben.

 

5. Institutionelle und regionale Ausdehnung

Vor dem Hintergrund der Diskussion um eine neue Allgemeinbildung gab es Bemühungen, eine technische, ökonomische und berufsorientierte Grundbildung stärker auch im Gymnasium zu verankern. Arbeitslehre sollte nicht länger ein 'Blaukittelfach' für praktisch Begabte sein, sondern ein allgemein bildendes Angebot für alle Schülerinnen und Schüler. Angesichts der Tatsache, dass immer mehr Gymnasiasten in Ausbildungsberufe drängen, erschien insbesondere ihre Vorbereitung auf die Berufswahl notwendig.

Entsprechend hat die KMK 1987 Materialien verabschiedet, die die Empfehlungen zur Arbeitslehre an der Hauptschule von 1969 aktualisieren und auf die gesamte Sekundarstufe I erweitern (vgl. KMK 1988, S. 3 ff.). Danach kann Arbeitslehre als eigenständiges Fach, als Fächerverbund oder als Teil von bestehenden Fächern unterrichtet werden. Neben Technik, Wirtschaft und Haushalt bildet der Beruf einen eigenen Gegenstandsbereich. Dieser ist - in starker Anlehnung an die Vorschläge von Dibbern, Kaiser und Kell in ihrem Gutachten für die Bundesanstalt für Arbeit - auf die Bedingungen und Formen von Erwerbsarbeit bezogen und zielt auf die Fähigkeit zur Berufswahl. Während die Arbeitslehre-Materialien inhaltlich offen und politisch unverbindlich geblieben sind, hat die KMK 1993 die "Hinführung zur Berufs- und Arbeitswelt" als verbindliche Aufgabe aller Schulen der Sekundarstufe I festgeschrieben (vgl. KMK 1993, S. 9). Sie hat aber auf eine Präzisierung dieser Aufgabe verzichtet, so dass die Bundesländer die Hinführung zur Berufs- und Arbeitswelt im Sinne ihrer eigenen Vorstellungen gestalten konnten. Da sich die neuen Bundesländer bei der Entwicklung der Lehrpläne mehr oder weniger eng an einzelne Lehrpläne der alten Bundesländer angelehnt haben, hat die in den westdeutschen Curricula vorgesehene Berufsorientierung - neben der institutionellen - auch eine regionale Ausweitung erfahren.

[/S. 27:] In den 1990er Jahren ist zunehmend erkannt worden, dass die Berufswahl ein Prozess ist, der nicht auf die Sekundarstufe I begrenzt werden darf. Demzufolge sind auch zur Berufsorientierung in der Sekundarstufe II Regelungen getroffen worden. Zum einen haben KMK, Bundesanstalt für Arbeit und Hochschulrektorenkonferenz 1992 eine Gemeinsame Empfehlung zur Zusammenarbeit von Schule, Berufsberatung und Studienberatung in der gymnasialen Oberstufe und in berufsbildenden Schulen beschlossen. Hierin werden die Kompetenzen der beteiligten Bereiche sowie die gemeinsamen Ziele und Aufgaben - detaillierter als in der Rahmenvereinbarung von 1971 - festgelegt (vgl. Gemeinsame Empfehlung 1992, S. 452 ff.). Zum anderen hat die KMK 1997 in einer Vereinbarung zur Gestaltung der gymnasialen Oberstufe ihre bereits im Jahre 1972 erhobene Forderung nach Verbesserung der beruflichen Orientierung und der Studier- und Berufswahlfähigkeit wiederholt und konkretisiert (vgl. KMK 1997). Inzwischen haben fast alle Landesregierungen Erlasse zur Berufs- und Studienorientierung in der gymnasialen Oberstufe herausgegeben.

Bei der institutionellen und regionalen Ausweitung der Berufsorientierung ist - ebenso wie bei den Lehrplanrevisionen - der Theoriestand nur ansatzweise berücksichtigt worden. Auch haben dabei Rezeptionen der Berufsorientierung im Ausland (vgl. z. B. Bojanowski/ Dedering 1991; Ziefuß 1996, S. 130 ff.) kaum Beachtung gefunden. Die aufgezeigten Veränderungen in der Praxis der Berufsorientierung bleiben also hinter ihren theoretisch ausgewiesenen Möglichkeiten zurück.

 

6. Schulische Berufsorientierung heute

Eine berufliche Orientierung sehen die Curricula für die Schulen der Sekundarstufe I oder/ und für die gymnasiale Oberstufe aller Bundesländer vor. Zwischen den Schulformen bestehen aber erhebliche Unterschiede in der Gestaltung der Berufsorientierung:

  • In der Haupt-, Gesamt- und Sonderschule sowie in der Sekundarschule (in Sachsen-Anhalt) und in der Regelschule (in Thüringen) ist die Berufswahlvorbereitung Teil des Faches bzw. des Fächerverbundes Arbeitslehre (mit Ausnahme von Mecklenburg-Vorpommern, wo die Vorbereitung auf die Berufswahl zum Unterrichtsfach Technik und von Schleswig-Holstein, wo sie zum Unterrichtsfach Wirtschaft/ Politik gehört). In diesen Schulen ist Berufsorientierung als selbstständiger Unterricht oft auch im Zusammenhang mit einem Betriebspraktikum organisiert. [/S. 28:]
  • In der Realschule sowie in der Mittelschule (in Sachsen) ist die Berufsorientierung meist in der Arbeitslehre bzw. in einem anderen Fach (Gemeinschaftskunde, Sozialkunde, Wirtschaft/ Politik, Technik) angesiedelt. Hier hat sie einen festen Platz in Form eines Kurses und durch Zuweisung eines Stundenvolumens. In einigen Bundesländern (Bayern, Nordhrein-Westfalen, Saarland und Sachsen) wird die Berufswahlvorbereitung in der Real- bzw. Mittelschule in mehreren Fächern (Deutsch, Politik, Erdkunde u. a.) wahrgenommen. Die Lehrpläne weisen berufsorientierte Inhalte - besonders für die beiden Abschlussklassen - auf, die zusammen mit den anderen Fachinhalten und/ oder in fächerübergreifenden Veranstaltungen vermittelt werden. Außerdem gehören ein Betriebspraktikum und Betriebserkundungen mit berufsorientierender Funktion zum Regelangebot der Real- und Mittelschule.
  • Im Gymnasium sind Elemente der Berufsorientierung entweder in ein bestimmtes Fach (meist Sozialkunde) integriert oder hierfür sind mehrere, manchmal auch alle Fächer zuständig. Dabei kommt den berufsbezogenen Inhalten gegenüber den 'eigentlichen' Fachinhalten oft nur eine Randbedeutung zu. Einen eigenständigen Stellenwert hat Berufsorientierung im Gymnasium nur in wenigen Bundesländern, und zwar in Brandenburg (in Arbeitslehre und Sozialkunde), in Berlin (in Sozialkunde), in Sachsen-Anhalt (in Wirtschaft/ Technik und Sozialkunde) und in Thüringen (in Wirtschaft und Recht). Im Gymnasium konzentriert sich das berufsorientierte Unterrichtsangebot auf das 9. und 10. Schuljahr. Die in der gymnasialen Oberstufe unterrichtete Berufs- und Studienorientierung wird im Rahmen bestimmter Fächer (Gemeinschaftskunde u. a.) oder in Form von besonderen Orientierungsseminaren mit Expertengesprächen durchgeführt. In den letzten Jahren hat das Betriebspraktikum auch im gymnasialen Bereich Verbreitung gefunden. Sein berufsorientierender Wert ist aber meist gering, insbesondere wenn auf eine theoretische Vor- und Nachbereitung verzichtet wird.

Grundsätzlich erscheint es als sinnvoll, wenn alle Unterrichtsfächer zur Berufsorientierung beitragen, indem z. B. die fachspezifischen Berufe vorgestellt werden. Es ist aber problematisch, den Inhaltskomplex der Berufsorientierung zu 'zerstückeln' und die einzelnen Elemente in andere Fächerstrukturen einzufügen. Die Vorbereitung auf die Berufswahl als ein biografiebedeutsamer Zusammenhang erfordert auch eine Organisation als eigenständiger Unterrichtsbereich, entweder im Rahmen eines Faches oder in Form von fächerübergreifenden Veranstaltungen. Dabei kann ein arbeitsweltbezogener Kontext, wie er mit dem Fach Arbeitslehre hergestellt wird, durchaus lernförderlich sein, denn er ermöglicht die stetige Berücksichtigung [/S. 29:] übergreifender, gesellschaftlicher Aspekte der Berufswahl. Dies bedeutet, dass in der Hauptschule sowie in den anderen Schulen, in denen eine Arbeitslehre mit einem eigenen Berufswahlunterricht existiert, relativ günstige Voraussetzungen für die Vorbereitung der Schüler auf die Berufswahl gegeben sind. Hier hat der Berufswahlunterricht - umgekehrt - auch die Arbeitslehre im Laufe ihrer Entwicklung konsolidiert. Demgegenüber führt die fachliche Einbindung der Berufsorientierung im Gymnasium in der Regel zu Defiziten in der unterrichtlichen Vermittlung. Im gymnasialen Bereich sind die bildungspolitischen Ansprüche und bildungstheoretischen Vorschläge zur Berufsorientierung am wenigstens schon umgesetzt worden. Dabei ist auch die Tatsache von Bedeutung, dass mit steigenden Schülerzahlen im Gymnasium mehr Jugendliche eine schlechte Berufswahlvorbereitung erhalten. Die Situation der schulischen Berufsorientierung ist also zwiespältig. Sie ist aufgrund der schon angeführten inhaltlichen Reduzierungen (primär Informationsvermittlung u. a.) zwar auch dort nicht 'rosig', wo es einen eigenständigen Berufswahlunterricht gibt, die organisatorischen Unterschiede treten aber deutlich hervor. Somit nötigt die aktuelle Situation zur Fortführung der jahrzehntelangen Bemühungen um eine bessere berufliche Orientierung, nun aber mit stärkerer Konzentration auf das Gymnasium.

 

Literatur

Abel, Heinrich (1956): Die berufsbildende Schule im Oberbau einer allgemeinen Deutschen Volksschule. In: Die Deutsche Schule, Jg. 48, Heft 6, S. 262-277.

Abel, Heinrich (1966): Berufsvorbereitung als Aufgabe der Pflichtschule. In: Pädagogische Rundschau, Jg. 20., Nr. 7, S. 617-629.

Beinke, Lothar (1987): Modellvorschlag zum Berufswahlunterricht. Köln.

Bojanowski, Arnulf/ Dedering, Heinz (1991): Vorberufliche Bildung in Osteuropa. Sachstandsanalysen für Bildungsreformen in West und Ost. Wiesbaden.

Büchner, Peter/ de Haan, Gerhard/ Müller-Daweke, Renate (1979): Von der Schule in den Beruf. Berufsorientierung und Berufwahlvorbereitung in der Sekundarstufe I. München.

Dammer, Karl-Heinz (1997): Berufsorientierung für alle. Über einen Schulversuch, der Versuch blieb! Wetzlar.

Dauenhauer, Erich (1974): Einführung in die Arbeitslehre. München.

Dedering, Heinz (2000): Einführung in das Lernfeld Arbeitslehre. München, Wien.

Deutscher Ausschuss (Deutscher Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen) (1964): Empfehlungen und Gutachten. Folge 7/8, Stuttgart.

Deutscher Bildungsrat (1970): Strukturplan für das Bildungswesen. Empfehlungen der Bildungskommission. Bonn.

DGB (Deutscher Gewerkschaftsbund) (Hrsg.) (1952): Arbeitslosigkeit und Berufsnot der Jugend. Erarbeitet von der Sozialwissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung von Jugendfragen unter der wissenschaftlichen Leitung von Helmut Schelsky. 2 Bd., Köln.

Dibbern, Harald (1983): Berufsorientierung im Unterricht. Verbund von Schule und Berufsberatung in der vorberuflichen Bildung. In: Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Nr. 78, Nürnberg.

Dibbern, Harald (1993): Theorie und Didaktik der Berufsvorbildung. Ein Studienbuch für Berufs- und Wirtschaftspädagogen. Baltmannsweiler.

Dibbern, Harald/ Kaiser, Franz-Josef/ Kell, Adolf (1974): Berufswahlunterricht in der vorberuflichen Bildung. Der didaktische Zusammenhang von Berufsberatung und Arbeitslehre. Bad Heilbrunn.

Famulla, Gerd-E. (1985): Wozu Berufe? Über die Zukunft des Berufskonzepts von Arbeit. In: arbeiten+lernen, Heft 39, S. 2-7.

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Dibbern, Harald (1993): Berufsorientierung als Schlüsselkategorie der Berufsvorbildung.

In: Dibbern, H.: Theorie und Didaktik der Berufsvorbildung. Schriftenreihe Wirtschaftsdidaktik, Berufsbildung und Konsumentenerziehung, Bd. 26, Hohengehren 1993, S. 22 - 29.

[/S. 22:] Als besondere Erziehungswissenschaft wendet sich die Berufs- und Wirtschaftspädagogik pädagogisch relevanten Situationen zu, die in Verbindung mit ökonomischen und beruflichen Phänomenen der Arbeitswelt stehen. Zur Bewältigung dieser Situationen will sie Bildungshilfe anbieten. In der Berufsvorbildung geht es dabei um Situationen jenes Teils der Arbeitswelt, der vor jeder beruflichen Spezialisierung dem Jugendlichen als wenig bekannter Erfahrungsraum beim Übergang vom Bildungs- in das Beschäftigungssystem entgegentritt. Ich wähle folgende begriffliche Grundlage:

"Beruf" ist zum einen objektives Phänomen spezialisierter Erwerbsarbeit, zum anderen eine pädagogische Leitidee, eine pädagogische Norm, die eine positiv zu bewertende Beziehung zwischen dem Einzelnen und seiner Arbeit ausdrückt. Die Frage nach der Gültigkeit einer pädagogischen Leitidee "Beruf" beantwortet sich durch die pädagogische Relevanz der vier wichtigsten Aspekte des Phänomens Beruf:

  • Der empirische Aspekt kennzeichnet Beruf als eine "charakteristische Kenntnisse und Erfahrung erfordernde und in einer typischen Kombination zusammenfließende Arbeitsverrichtung" (Statistisches Bundesamt 1975, S. 11). Er erschließt den tatsächlichen Arbeitsinhalt (die Tätigkeitsmerkmale) und das Anforderungsprofil eines Berufs einschließlich des sozialen Umfeldes am Arbeitsplatz. Ohne Informationen über die objektiven Gegebenheiten und die gesellschaftlichen Bedingungen verschiedener Berufe kann der Einzelne eine sinnvolle Berufsentscheidung nicht treffen.
  • Der ökonomische Aspekt kennzeichnet den Beruf als eine auf Erwerb gerichtete Arbeit, die als Leistung materiell bewertet und entlohnt wird. Berufliche Leistungsfähigkeit und berufliches Einkommen sind von pädagogischer Bedeutung, weil sie die materielle Existenz sichern, von der die individuelle und soziale Entwicklung der Persönlichkeit in unserer Gesellschaft nach wie vor stark abhängen.
  • Der soziale Aspekt kennzeichnet den gesellschaftlichen Status und die sozialen [/S. 23:] Rollen, die der Einzelne mit seinem Beruf einnimmt. Anspruchsniveau, Bedürfnisstruktur, Kommunikation, Konsum, Erziehung der Kinder werden von der beruflichen Existenz und Geltung stark beeinflusst. Man mag das bedauern, der pädagogische Auftrag muss sich indes auch an Gegebenheiten orientieren, die sich in absehbarer Zeit nicht werden ändern lassen.
  • Der personale Aspekt ist für die erziehungswissenschaftliche Fragestellung am wichtigsten. Aus dem Statuszwang der ständischen Gesellschaft befreit, sieht sich der mit Freiheitsrechten ausgestattete Mensch in unserer Gesellschaft dennoch bedroht. Trotz der Grundrechte auf freie Berufswahl, freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf Gleichheit und Gleichberechtigung und Menschenwürde auch im Beruf und im Betrieb, engen verschiedene Faktoren den beruflichen Freiheitsspielraum ein. Da der Einzelne aber den größten Teil seines Lebens im Beruf "verbringt", muss es hervorragende pädagogische Aufgabe sein, die Chancen auf individuelle Selbstverwirklichung auch und gerade im Beruf zu optimieren. Wenn wir Zufriedenheit im Beruf als größtmögliche Übereinstimmung zwischen beruflicher Anforderung und individueller Leistungsfähigkeit und -bereitschaft, also als Vermeidung von ständiger Über- und Unterforderung annehmen und bei einer solchen Übereinstimmung eine weitgehende Befriedigung geistiger, seelischer und sozialer Bedürfnisse des Menschen im Beruf erwarten, wird die pädagogische Relevanz deutlich.

Damit wird Beruf berufspädagogisch definiert als Zuwendung des Menschen

  • zu einer spezialisierten Erwerbstätigkeit in der arbeitsteiligen Gesellschaft,
  • die charakteristische Kenntnisse und Fertigkeiten in einer typischen Kombination erfordert,
  • materiell und sozial bewertet wird,
  • demzufolge personale (kognitive, affektive, soziale) und materiale Bedürfnisse des Menschen mehr oder weniger befriedigt
  • und als frei erwählte und ohne ständige Über- und Unterforderung ausgeübte Tätigkeit eine Chance auf individuelle Selbstverwirklichung bietet.

Gegenstand der Berufsorientierung ist die Berufsarbeit in einem doppelten Sinne: Erschließung individueller Chancen im konkreten Beruf und Erkenntnis des gesellschaftlichen Systems beruflicher Arbeitsteilung. "Den Unterschied zwischen dem individuell-dispositionalen und dem gesellschaftlich-politischen Ansatz zum Gegenstand eines Streits zu machen, in dem es um ein 'Entweder - Oder' geht, erscheint angesichts der Schwächen beider Ansätze müßig. Eine 'Didaktik der Berufswahl' kann infolgedessen das subjektive Einzelinteresse und die kollektiv-solidarische Interessenvertretung als die beiden Seiten eines gesellschaftlichen Auftrages nur zusammenhängend begreifen" (Steffens 1978, S. 276). [/S. 24:]

 

1. Gesellschaftlicher Ansatz

Mit der Kategorie Arbeit geht die Berufsorientierung voll in der Arbeitslehre auf, stellt sie Berufsausbildung und Berufstätigkeit als Erscheinungsformen gesellschaftlicher Arbeit dar, hinterfragt sie kritisch und schafft solidarisches Interesse arbeitender Menschen. Sie macht dem jungen Menschen Gesellschaft und Arbeitswelt, in die er eintreten wird, in ihren Gegebenheiten, Defiziten und Veränderungsmöglichkeiten durchschaubar und erkennbar, damit er als mündiges Mitglied der Gesellschaft seinen Beitrag zu ihrer Fortführung und Verbesserung aus aufgeklärtem Wissen leisten kann. Über die didaktische Kategorie Arbeit wird verhindert, dass Berufsorientierung zum bloßen Anpassungsdienst am Beschäftigungssystem wird, sondern zum Ziel hat, "das Klientenpotenzial für die Berufsberatung (Individualberatung) zu vergrößern und vor allem eine Effektivierung des Beratungsgesprächs durch eine intensive Vorbereitung in der Schule zu erreichen" (Büchner u. a. 1979, S. 15).

 

2. Individueller Ansatz

Über die Kategorie Beruf stellt die Berufsorientierung die Identität des Einzelnen im System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung her und gewinnt hier eine pragmatische Funktion. Unterrichtsinteresse wird das Einzelinteresse. "Beruf" sucht als pädagogische Leitidee nach den (verbliebenen) Möglichkeiten beruflicher Identität, nach individueller Selbsterfahrung und Selbstbestimmung durch Arbeit. Berufsorientierung kann diese gedachten und gesuchten Möglichkeiten in das Bewusstsein der Schüler heben und zugleich deren Abhängigkeit von den vielfältigen Bedingungen des Beschäftigungssystems, ihre Begrenzung durch Mitbestimmung und ihre Gefährdung durch Unmündigkeit und Herrschaft.

Wenn in der Schule pädagogische Hilfe für eine Lebenssituation geleistet werden soll, die den Jugendlichen in Kürze erwartet, muss sich Berufsorientierung als praxis- und handlungsnahe Orientierungs- und Entscheidungshilfe konkretisieren. Sie hat das Ziel, die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit des Schülers für seine berufliche Entwicklung zu fördern. Das Ziel ist gesellschaftspolitisch durch das Grundrecht auf freie Berufswahl und den Anspruch auf Chancengerechtigkeit begründet, erziehungswissenschaftlich als notwendige Hilfe zur Selbsthilfe für die Realisierung von Chancen. Berufsorientierung hat die Aufgabe, "den sozialen Zwang der beruflichen Allokation durch die Schule für den Schüler erträglicher zu machen, indem ihm die Chance eingeräumt wird, unter didaktischer Hilfestellung Strategien beruflicher Entscheidungsfindung anzuwenden, die ein hohes Maß an Rationalität der Berufswahl gewährleisten. Je überschaubarer die Wirkungszusammenhänge beim individuellen Berufsfindungsprozess für den Einzelnen gemacht werden und je mehr Optionen für die Berufswahl erschlossen werden können, desto eher lässt sich ein Minimum an individueller Berufswahlfreiheit erreichen" (Ammon 1980, S. 107 ff.).

Bei der Berufsorientierung im Unterricht geht es also um die Motivierung und Befähigung [/S. 25:] des Schülers zur individuellen Berufswegplanung: Der einzelne Jugendliche ist betroffen bzw. betroffen zu machen. Durch unterrichtliche Vermittlung von Informationen und Handlungsweisen will die Schule eine Orientierungs- und Entscheidungshilfe für die persönliche Berufswahl anbieten. Um das Grundrecht auf freie Berufswahl material zu sichern, insbesondere für diejenigen Jugendlichen, die bei ihrer Berufswahl benachteiligt sind, verlangt das sozialpolitische und pädagogische Postulat der Chancengerechtigkeit die Institutionalisierung eines Lernprozesses als Hilfe zur Selbsthilfe. "Er hat alle wesentlichen Daten und Kriterien zu vermitteln, die den Einzelnen befähigen, beruflich bedeutsame objektive und subjektive Gegebenheiten und Entwicklungstendenzen sowie die Möglichkeiten ihrer Beeinflussung zu erkennen, damit er die eigene berufliche Entwicklung so weit wie irgend möglich selbst bestimmen kann. Dieser Lernprozess wird Berufsorientierung genannt" (Dibbern u. a. 1974, S. 133). Dabei sind entwicklungspsychologische und entscheidungstheoretische Elemente des Berufswahlprozesses im curricularen Ansatz zu verbinden, der die Handlungskompetenz des Jugendlichen in Fragen seiner beruflichen Entwicklung anstrebt.

Berufsbezogene Informationen und Handlungsweisen stehen allerdings immer in einem größeren Zusammenhang, der durch die gesellschaftlichen Strukturen der Berufswelt gegeben ist. Schon deswegen kann und muss Berufsorientierung immer nur Teilaufgabe einer umfassenden Berufsvorbildung sein. Sie muss außerdem einen fachbezogenen Standort haben; als bloßes Unterrichtsprinzip der Schule schlechthin und durch beliebige Lehrer gehandhabt, kann sie wohl nur sehr begrenzte Wirkung erreichen. Berufsorientierung im Unterricht wird insbesondere als Teilaufgabe einer alle Schulformen umfassenden Arbeitslehre verstanden und gefordert. Sie lässt sich in drei Qualitätsstufen realisieren.

  • Als Unterrichtsprinzip ist Berufsorientierung durchgängiger Aspekt aller Lernbereiche der allgemeinen Schule. Wo immer sinnvoll, wird er in unterschiedlichen methodischen Formen berücksichtigt.
  • Als Berufswahlunterricht verdichtet sich die Berufsorientierung zu einem curricularen System von themenspezifischen Bausteinen, Lehrgängen und/ oder Projekten, die innerhalb der verfügbaren Unterrichtszeit diskontinuierlich oder epochal in einem Fach (Arbeitslehre) eingesetzt werden.
  • Als "kooperativer Berufswahlunterricht" gewinnt die Berufsorientierung eine vermutlich besonders qualifizierte Form (Hypothese), weil durch die Zusammenarbeit zwischen Fachlehrer und Berufsberater vertiefte Sachkompetenz und verstärkter pädagogischer Einfluss erwartet werden. Personen, Aufgaben, Inhalte, Medien Lernorte und -zeiten werden curricular aufeinander bezogen, und diese Form einer Berufsorientierung im Unterricht als didaktischer Verbund von Schule und Berufsberatung bezeichnet. Kooperativer Berufswahlunterricht ist eine Veranstaltung der Schule, wird in ihrer Verantwortung durchgeführt, [/S. 26:] gewinnt

(Abb. 1)

aber seine besondere Wirkung durch die Inanspruchnahme spezifischer Leistungen der Berufsberatung. Andererseits behält berufliche Beratung neben der Integration in Unterricht ihren eigenständigen Aufgabenbereich außerhalb der Schule. Es ist daher eine wichtige Aufgabe, diese beiden Teilaufgaben zu identifizieren und in einer Gesamtkonzeption der beruflichen Beratung soweit wie möglich miteinander zu verbinden. Die Bundesanstalt für Arbeit sollte dabei eine Koordinierungsrolle einnehmen und die Schulen bzw. die Kultusverwaltungen durch konkrete Kooperationsangebote zur Zusammenarbeit inspirieren, z. B. durch Anregung regionaler Kontaktkommissionen, Angebot von Organisationsmodellen und curricularen Bausteinen, Fortbildungsangeboten.

Für die Arbeitsverwaltung war "Berufsaufklärung" nach dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG) von 1969 eine Aufgabe der Berufsberatung. "Dieser Begriff erwies sich für den Kontakt mit Jugendlichen und Eltern als weniger geeignet und missverständlich; die Berufsberatung benutzt deshalb, angelehnt an den internationalen Sprachgebrauch, hierfür nun den Begriff Berufsorientierung" (Nieder 1981, S. 22). Berufsorientierung kennzeichnet den Zeitraum von den ersten bewussten, aber noch unsicheren Fragen zur künftigen Berufstätigkeit bis zur planmäßigen Analyse beruflicher Alternativen, aus der schließlich die Berufsentscheidung hervorgeht. Leitziel der Berufsorientierung ist dementsprechend die "Berufswahlreife", verstanden als individuelle Fähigkeit, Informationen zur Berufswahl gezielt nachzufragen und zu verwerten. "Berufswahlreife soll die Chancen zur Selbstbestimmung, zumindest die Freiheit von Fremdbestimmung bei der Berufswahl vergrößern" (Nieder 1981, S. 22). Mit diesem Bezug auf die Selbstbestimmung des Einzelnen gewinnt der Begriff Berufsorientierung [/S. 27:] auch im Bereich der Arbeitsverwaltung pädagogische Qualität. Die Auffassung, dass die Berufsberatung, also auch die Berufsorientierung, keine erzieherische Aufgabe leiste, sollte als formalistisch entfallen (Nieder 1981, S. 16). In einem didaktischen Verbund ist die pädagogische Aufgabe weder theoretisch noch praktisch teilbar, weil zielorientierte Lernprozesse immer zugleich erzieherische Absicht ausdrücken, Unterricht schlechthin Erziehung ist. Es wäre sicherlich eine Unterschätzung, wollte man den im Berufswahlunterricht mitarbeitenden Berufsberater bloß als "Datenbank" verwenden. Über seine unterrichtliche Mitwirkung hinaus wird die spezifische Beratungsaufgabe des Berufsberaters, die immer situativ auf die Belange des Einzelnen abstellt, in der Kontinuität beruflicher Beratung als wichtiges Element auch des Berufswahlunterrichts gefordert.

Durch § 32 AFG gesetzlich zur Zusammenarbeit mit der Schule verpflichtet, hat die Bundesanstalt für Arbeit in einem Übereinkommen vom 12.2.1971 mit der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder deren "Rahmenvereinbarung über die Zusammenarbeit von Schule und Berufsberatung" vom 5.2.1971 bestätigt. Darin sind die Aufgaben der Schule und der Berufsberatung bei ihrer Zusammenarbeit festgelegt. Als Kernaussagen dürfen gelten:

  • "Die Berufsberatung bereitet die Schüler im Rahmen der Berufsaufklärung auf die individuellen Erwägungen zur Berufswahl und auf die Berufsentscheidung vor...,
  • die Schule vermittelt grundlegende Kenntnisse über die Wirtschafts- und Arbeitswelt...,
  • bei ihren berufswahlvorbereitenden Maßnahmen stützt sich die Berufsberatung auf die durch die Schule geleistete Hinführung zur Wirtschafts- und Arbeitswelt ..." (Rahmenvereinbarung 1971).

Es wird die Vorstellung eines Stufengangs sichtbar: Der Unterricht beginnt mit einer allgemeinen Einführung in die Arbeitswelt, darauf aufbauend bereitet der Berufsberater die individuelle Berufsentscheidung vor und bietet schließlich als Entscheidungshilfe die berufliche Einzelberatung an. Es ist zu prüfen, ob diese Vorstellung und Aufgabenteilung für einen didaktischen Verbund von Schule und Berufsberatung optimal ist. "Inhalte der Berufsorientierung, die nur der Berufsberatung vorbehalten sind, kann es rechtlich nicht geben" (Nieder 1981, S. 22). Es ist zu fragen, ob individuelle Orientierung auch schon vom Lehrer geleistet werden muss, obwohl die Bundesanstalt immer noch auf dem Standpunkt steht, "Informationen über die eigene Person und über persönliche Konsequenzen sollen und können durch Berufsorientierung nicht gegeben werden; diese Inhalte gehören zur individuellen Beratung" (Nieder 1981, S. 18). In einer Neukonzeption beruflicher Beratung sollte gesehen werden, dass Berufswahlunterricht stets individualisierende Impulse enthält, die aus der Situation der Klasse heraus gleichermaßen vom Lehrer und vom Berufsberater aufgenommen und gegeben werden können. [/S.28:]

Berufsorientierung im Unterricht mit dem Ziel, im Jugendlichen Verhaltensänderungen in Richtung auf selbstbestimmte Berufswahl in Gang zu setzen, ist also begrifflich und inhaltlich eine erzieherische, immer auch auf den Einzelnen ausgerichtete Aufgabe, soweit dies die unterrichtliche Form überhaupt zulässt. In ihr wirkt der Berufsberater mit. Dabei wird natürlich die kulturhoheitliche Zuständigkeit und Verantwortlichkeit von Schule und Lehrer vorausgesetzt.

Die erzieherische Bedeutung der Berufsorientierung zeigt sich auch in ihrer Bedeutung für die Einzelberatung. "Berufsorientierung bereitet die berufliche Beratung vor und ergänzt sie; zwischen beiden Aufgaben besteht daher ein enger Zusammenhang" (Schäfer 1977, S. 14). Berufsorientierung muss den Jugendlichen beratungswillig und beratungsfähig machen, damit er auch andere Angebote beruflicher Beratung annimmt und nutzen kann. Er muss sich z. B. trauen, eine "Dienststelle" der Bundesanstalt für Arbeit aufzusuchen oder anzurufen und in der Lage sein, die Zeit des Beratungsgesprächs durch gezielte Informationsfragen voll auszuschöpfen. Wenn also dem Jugendlichen durch Berufsorientierung nicht nur berufskundliches Wissen, sondern "Verarbeitungs- und Bewertungskriterien zur Vorbereitung eigener Entscheidungen vermittelt" werden sollen und er informiert sein muss, damit "die Beratung auf die Erörterung der individuell wesentlichen Entscheidungsfaktoren ausgerichtet werden" kann, wird eine zeitliche und sachliche Schlüsselfunktion der Berufsorientierung deutlich. Wenngleich verständlich ist, dass die Bundesanstalt für Arbeit aus prinzipiellen Erwägungen alle Aufgabenbereiche der Berufsberatung für grundsätzlich gleichrangig erklärt, sollte m. E. die Berufsorientierung Priorität erhalten. Schon die Verpflichtung des § 31 AFG, "über die Berufe, deren Anforderungen und Aussichten, über Wege und Förderung der beruflichen Bildung sowie über beruflich bedeutsame Entwicklungen in den Betrieben, Verwaltungen und auf dem Arbeitsmarkt umfassend (zu) unterrichten", ist in maximal zwei Schulbesprechungen nicht zu leisten, ganz abgesehen von der Aufgabe, auch individualisierende Impulse zu geben und zu anderen Formen beruflicher Beratung hinzuführen. Wenn also zu vermuten ist, dass Berufsorientierung einen herausragenden Stellenwert im System der Hilfen zur Selbsthilfe einnimmt, andererseits die gestellte Aufgabe inhaltlich in der herkömmlichen Weise nicht zu lösen ist, wird die Notwendigkeit, nach neuen Formen zu suchen, unabweisbar.

Neben ihrer Mitwirkung am kooperativen Berufswahlunterricht führt die Berufsberatung eigene Maßnahmen zur Berufsorientierung durch. Das geschieht entweder in der Schule (Schulbesprechungen, Gruppenberatungen) oder an anderen Lernorten, z. B. auf berufskundlichen Ausstellungen, in stationären oder mobilen Berufsinformationsstellen und -zentren, bei berufskundlichen Veranstaltungen für Jugendliche und Erziehungsberechtigte im Arbeitsamt. Über Einzelheiten dieser Maßnahmen kann an anderer Stelle nachgelesen werden (Nieder 1981, S. 44 ff.).

Die Tatsache, dass Berufsorientierung auch von anderen Institutionen betrieben [/S. 29:] wird, z. B. von Gewerkschaften, Wirtschaftsverbänden, Kammern, Betrieben, sei der Vollständigkeit halber erwähnt, bleibt in diesem Zusammenhang unberücksichtigt.

 

Zusammenfassung

"Berufsorientierung" ist ein pädagogischer Normbegriff und bezeichnet eine komplexe Lernorganisation mit mehreren Lernorten, die aus der Kooperation von Schule und Berufsberatung entsteht und in der Regel ihren Schwerpunkt im Berufswahlunterricht der allgemeinen Schule hat, mit dem Ziel, Berufswahlkompetenz im Schüler zu entwickeln, verstanden als die Fähigkeit, Informationen zur Berufswahl gezielt nachzufragen und zu verwerten und damit die Chance für eine selbstbestimmte Berufswahl zu vergrößern.

 

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[/S. 115:] Wer der Berufsorientierung in der Schule einen Stellenwert, möglicherweise sogar einen hohen Stellenwert im Berufsfindungsprozess von Mädchen beimisst, setzt sich leicht dem Verdacht aus, Mädchen und Frauen anzulasten, was tatsächlich der geschlechtlichen Arbeitsteilung, einem geschlechtshierarchisch segmentierten Ausbildungsstellen- und Arbeitsmarkt sowie einem nach Geschlechtern selektierendem Berufsausbildungssystem geschuldet ist. Haben nicht empirische Untersuchungen längst belegt, dass Mädchen eine qualifizierte Berufsausbildung anstreben, eine schulische Berufsorientierung als "Motivationspropaganda" für Mädchen somit überflüssig ist? Sind es nicht die Zwänge des Arbeitsmarktes, die junge Frauen immer wieder in die schlechter bezahlten "typischen Frauenberufe" einmünden lassen. Und mussten wir uns nicht längst von der Illusion verabschieden, dass Frauen allein durch Bildungsanstrengungen gleiche Chancen auf dem Arbeitsmarkt erreichen?

Mit diesen Fragen sind strukturelle Grenzen der Berufsorientierung in der Schule angedeutet. Die Benachteiligung von Frauen abzubauen, ihnen gleichberechtigte Teilnahme am Erwerbsleben, am gesellschaftlichen und politischen Leben zu ermöglichen, das ist nicht in erster Linie ein Bildungsproblem, sondern ein Problem der politischen Gestaltung dieser Gesellschaft. Das heißt, es geht um Quotierung, Frauenförderung und letztlich um die Umverteilung und Neubewertung aller gesellschaftlich notwendigen Arbeit, ohne die keine Aussicht auf ein neues, gleichwertiges Geschlechterverhältnis besteht. [/S. 116:]

Dennoch möchte ich im Folgenden weder auf diese Grenzen eingehen noch auf den begrenzten Stellenwert, den Bildung im Allgemeinen und für Frauen im Besonderen hat, wenn soziale und Geschlechterungleichheiten zu überwinden sind. Auch mit der Analyse der Situation von Mädchen und Frauen in Ausbildung und Beruf will ich mich hier nicht beschäftigen. Ich setze dies alles als bekannt voraus und gehe auch davon aus, dass mir nicht unterstellt wird, diese Grenzen und Bedingungen nicht zu sehen oder zu vernachlässigen.

Ich möchte vielmehr im Folgenden

  1. begründen, warum und in welcher Hinsicht ich der Berufsorientierung in der Schule - trotz der angedeuteten Einschränkungen - einen hohen Stellenwert im Berufsfindungsprozess der weiblichen Jugendlichen beimesse,
  2. theoretische, didaktische und organisatorische Defizite schulischer Berufsorientierung aufzeigen, wie sie einerseits aus dem Blickwinkel der Frauenforschung und andererseits aus der Zielsetzung einer kritischen Berufsorientierung und Handlungsfähigkeit sichtbar werden,
  3. Bezugspunkte eines didaktischen Konzepts schulischer Berufsorientierung (nicht nur) für Mädchen benennen und
  4. auf Probleme und Möglichkeiten zur Umsetzung eines solchen Konzeptes und zur Veränderung der schulischen Berufsorientierung in der Praxis eingehen.

Hintergrund meiner Ausführungen sind Überlegungen, Erfahrungen und Ergebnisse des Projekts "Mädchen und Berufsfindung", das ich von 1987-1991 zusammen mit wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen, Lehrerinnen und Lehrern aus Haupt-, Real- und Gesamtschulen am Zentrum für Lehrerbildung der Universität Bielefeld durchgeführt habe.

Aufgaben dieses Projektes waren

  • die empirische Untersuchung des Berufsfindungsprozesses von Mädchen, um daraus Anhaltspunkte für Inhalte, Ziele und [/S. 117:] Vorgehensweisen eines curricularen Konzepts zu gewinnen;
  • die Entwicklung und Erprobung eines didaktischen Konzepts und curricularer Materialien für die schulische Berufsorientierung;
  • die Durchführung von Lehrerinnen- und Lehrerfortbildungen.
 

1. Zur Begründung und Zielsetzung schulischer Berufsorientierung im Berufsfindungsprozess von Mädchen

sind, ist ein Prozess, der sowohl durch die widersprüchlichen Anforderungen, Möglichkeiten und Gefährdungen der Berufs- und Arbeitswelt bestimmt ist als auch dadurch, wie Jugendliche die vorgefundene Wirklichkeit wahrnehmen und interpretieren, sich ihr anpassen oder sie ihren Wünschen und Interessen entsprechend zu gestalten suchen. Vergleichen wir den Berufsfindungsprozess von weiblichen und männlichen Jugendlichen, so zeigt sich einerseits eine Angleichung der Geschlechter beim Übergang von der Schule in die Arbeitswelt auch in einer widersprüchlichen Situation. Einerseits führen längere Schul- und Berufsausbildungen, die zunehmende Erwerbstätigkeit der Frauen, die tendenzielle Auflösung traditioneller Frauenbilder sowie Veränderungen "privater" Lebensformen zu einer stärkeren Individualisierung und Ausdifferenzierung weiblicher Lebensläufe. Andererseits aber grenzen die Geschlechterverhältnisse, die grundlegend sind für die Zuweisung von Ressourcen wie "Arbeit" und "Einkommen", noch immer die Möglichkeiten der Mädchen beim Übergang von der [/S. 118:] Schule in die Arbeitswelt ein, beeinträchtigen die Chancen der Frauen in Ausbildung und Beruf und lassen die subjektiven Orientierungen der weiblichen Jugendlichen nicht unberührt.

Zweifellos kann Schule auf die Arbeitswelt nicht direkt verändernd einwirken, wohl aber kann sie den Prozess der Berufsfindung begleiten, Erklärungen anbieten für die widersprüchliche Situation der weiblichen Jugendlichen, und sie kann vor allem den weiblichen Jugendlichen die Möglichkeit bieten, ihre Wahrnehmungen der (Arbeits-) Wirklichkeit zur Diskussion zu stellen, zu überprüfen und Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Dass dies notwendig ist und warum trotz aller Einschränkungen der schulischen Berufsorientierung ein hoher Stellenwert beizumessen ist, möchte ich an einigen Interviewauszügen deutlich machen. Die Äußerungen der 13- bis 15jährigen Schülerinnen, die in der Schule in einem "Mädchenprojekt" mit von uns entwickelten Unterrichtsmaterialien arbeiteten, geben auch einen Hinweis darauf, was schulische Berufsorientierung leisten könnte oder sollte.

Zunächst Sonja auf die Frage nach Problemen und Schwierigkeiten weiblicher Auszubildender in männlich dominierten Berufen:

"Weil, wenn man so in einen Betrieb kommt, wo hauptsächlich Männer arbeiten, und dann als einzige Frau da ist, und dann wird schon, also so Blicke kriegt man dann schon mit, und dann wird auch über einen geredet, und das denkt man sich auch alles schon vorher."

Zum gleichen Thema Ilka, eine Hauptschülerin:

"Als Erstes musst du (..) zeigen, was du kannst, und vor allen Dingen musst du nicht nur einmal, sondern mehrere Male musst du beweisen, dass du gut bist, dass man dich genauso respektieren kann wie die Männer auch."

Beate, die ihren Berufswunsch Mechanikerin inzwischen aufgegeben hat: [/S. 119:]

"Ja, weil die Eltern so dagegen sind. Also, mein Vater, der sagt, ich soll so was machen, bloß nicht in ne Firma gehen, da, wo nur Männer sind und so z. B. mit Mechaniker. Ich weiß nicht, ich werkel da gern so rum. Ich nehm mein Radio auseinander oder so, meint er, ich soll das bloß sein lassen, ich kann, ich könnte das sowieso nicht."

Zu einem anderen Thema die Aussage von Dagmar:

"Meine Zukunft? Naja, heiraten, Kinder haben und trotzdem berufstätig bleiben. (...) Och, wenn es nach mir ginge, dann würde ich die ganze Zeit nur im Kindergarten arbeiten, also überhaupt nicht mehr aufhören ... aber das ist eben fast unmöglich."

Oder Tanja, die vehement den Wunsch nach Beruf und Familie vertritt:

"Wenn man also 'ne Arbeit hat, also den ganzen Tag, dann kann man auch kein Kind, keine Familie gründen, zumal wenn man Erfolg haben will auch in dem Beruf und nach oben streben möchte, da kann man sich dann keine Familie leisten. Ich mein, `n Ehemann klar, das kann man immer, aber so Kinder, das ist dann schon schwieriger, dann muss man für die Kinder da sein, das ist eben auch ein Problem ... Ich mein, wenn man Familie gründet, dann bleibt man eigentlich immer zu Hause, und dann hat man Gelegenheitsjobs und so halbtags, und das ist dann auch nicht das Wahre. Das lässt sich nicht ändern."

Und Angela auf die Frage, ob nicht auch der Partner die Kinderversorgung übernehmen könne:

"Wenn`s für mich schon schwer ist, allein zu Hause zu bleiben, dann wird`s dem Mann bestimmt auch genauso schwer sein. Das kann ich ja dann nicht verlangen, wenn ich arbeiten will, dass er zu Hause bleibt."

Und zum Schluss noch einmal Tanja auf die Frage, ob sich für sie durch das Mädchenprojekt etwas geändert hat: [/S. 120:]

"Durch das Mädchenprojekt, also da hat sich schon viel geändert. Früher hab ich immer gedacht: Ach, wenn du Kinder hast, hörst du auf zu arbeiten und du bleibst zu Hause. Und jetzt denke ich eben, och, du gehst auch arbeiten und lässt dich nicht unterdrücken. Das hat sich geändert."

Keine dieser Äußerungen ist repräsentativ, und das "Mädchenprojekt" hat keinen zusätzlichen Ausbildungsplatz geschaffen und auch die realen Bedingungen der Mädchen beim Übergang von der Schule in die Arbeitswelt nicht verändert. Dennoch lassen sich "Erträge" dieser Form und Inhalte schulischer Berufsorientierung festhalten:

  • Das Projekt hat den Mädchen andere Interpretationsmöglichkeiten ihrer widersprüchlichen Situation zwischen Individualisierungsansprüchen und Anpassungszwängen angeboten,
  • es hat über die Analyse des historischen Entwicklungsprozesses der geschlechtlichen Arbeitsteilung gegen die von den Mädchen immer wieder vertretene Ansicht "Das lässt sich nicht ändern" die Gewordenheit und Veränderbarkeit der Geschlechterverhältnisse gesetzt,
  • es hat ihre Erfahrungen und ambivalenten Orientierungen ernst genommen und ihnen über Selbstbehauptungstrainings Verhaltensweisen vermittelt, um gegen "die Blicke, die frau so mitkriegt" etwas zu setzen, und
  • es hat sie nicht zuletzt ermutigt, ihren Anspruch auf Beruf und Familie, auf die Verwirklichung außerhalb der Erwerbsarbeit liegender Interessen offensiv zu vertreten und eine Veränderung der Organisation und Verteilung gesellschaftlicher Arbeit zu fordern.

In der Aufklärung über Strukturen und zentrale Entwicklungstendenzen der Arbeitswelt, in der Diskussion und Überprüfung der Interpretationen gesellschaftlicher Wirklichkeit, in der Unterstützung berechtigter Ansprüche, im Aufzeigen, Diskutieren und Erproben alternativer Handlungsmöglichkeiten jenseits der traditionellen [/S. 121:] weiblichen oder männlichen Verhaltensweisen und Erwerbsbiografien liegen m. E. die Aufgaben und die Möglichkeiten schulischer Berufsorientierung.

Wollen wir die weiblichen Jugendlichen weder an die vorherrschende geschlechtliche Arbeitsteilung und damit verbundene Erwartungen anpassen noch ihnen die männliche Erwerbsbiografie als neue Norm empfehlen, so muss es um die Entwicklung einer kritischen, d. h. einer auf die Veränderung einengender und diskriminierender Bedingungen gerichteten Handlungsfähigkeit gehen. Kritische Handlungsfähigkeit als Ziel schulischer Berufsorientierung, darunter verstehe ich die Motivation und Kompetenz der Mädchen,

  • eigene Erfahrungen und erworbene Orientierungen als vorläufige Interpretationen gesellschaftlicher Bedingungen auf befriedigendere Alternativen hin zu reflektieren;
  • die geschlechtliche Arbeitsteilung und die sie legitimierenden Ideologien und Geschlechtsstereotypen im Hinblick auf einengende und diskriminierende Handlungsbedingungen hin zu überprüfen;
  • Arbeitssituationen interessenbewusst, d. h. im Hinblick auf die Verringerung diskriminierender und inhumaner Restriktionen zu interpretieren und zu gestalten.

Einer solchen kritischen Handlungsfähigkeit stehen die vorherrschende Theorie und Praxis der Berufsorientierung in der Schule entgegen.

 

2. Theoretische, didaktische und organisatorische Defizite schulischer Berufsorientierung

Rein formal gilt auch in der schulischen Berufsorientierung Chancengleichheit. Berufswahlvorbereitung, Betriebserkundungen und Betriebspraktika gelten für Mädchen wie Jungen gleichermaßen. Und auch die alte Trennung in Hauswirtschaft für Mädchen und [/S. 122:] Technik für Jungen ist längst ein alter Hut. Ein etwas genauerer Blick aber zeigt sehr schnell, dass in der schulischen Berufsorientierung weder die mit der geschlechtlichen Arbeitsteilung zusammenhängenden Widersprüche zur Sprache kommen, noch der Komplexität des weiblichen Berufsfindungsprozesses Rechnung getragen wird.

  1. Wie im Alltagsverständnis gilt auch für den berufsorientierenden Unterricht: Arbeit, das ist Erwerbsarbeit, berufsförmig organisierte, marktvermittelte Arbeit. Die andere, die nicht marktvermittelte, die unbezahlte, nach den Marktgesetzen "wertlose", für das Überleben der Menschheit aber notwendige Arbeit wird nicht thematisiert. Damit bleibt nicht nur ein wesentlicher Teil der von Frauen geleisteten Arbeit unberücksichtigt, sondern es werden auch die eigentlichen Ursachen für Widersprüche und Ambivalenzen im weiblichen Berufsfindungsprozess und für die ungleichen Situationen von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt nicht benannt: die hierarchischen Geschlechterverhältnisse und die geschlechtliche Arbeitsteilung.
  2. Schulische Berufsorientierung orientiert sich bisher einseitig an Erfahrungen und Perspektiven der männlichen Erwerbsbiografie und setzt diese als Norm. Dass es daneben auch eine andere "Normalität" gibt, die z. B. durch Berufsunterbrechungen, Teilzeitarbeit, Wiedereinstiegsprobleme und Versorgung von Kindern neben der Erwerbsarbeit - möglicherweise aber auch durch andere Interessen und Lebensentwürfe - gekennzeichnet ist, wird selten angesprochen. Dadurch bleiben die spezifischen Berufs- und Lebensperspektiven, Sichtweisen und Erfahrungen des weiblichen Geschlechts ausgeblendet.
  3. Seit einigen Jahren steht zwar in Schulbüchern und berufsorientierenden Materialien die Lohntabelle der Frauen neben der der Männer, wird darauf hingewiesen, dass Frauen auf wenige "frauenspezifische Berufe" konzentriert und häufiger erwerbslos sind als Männer. Damit aber wird lediglich eine schlechte [/S. 123:] Wirklichkeit registriert, nicht aber nach Ursachen und Erklärungszusammenhängen gefragt. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass Frauen selber schuld oder eben unzureichend qualifiziert seien, wenn sie in den "Frauenberufen", den unteren Lohngruppen und Positionen verbleiben.
  4. Ein wichtiger Bestandteil schulischer Berufsorientierung sind Betriebserkundungen und Betriebspraktika. Sie werden mit Mädchen und Jungen gleichermaßen und zunehmend in allen Schulformen durchgeführt. Vielfach erwarten Eltern, SchülerInnen und Lehrerinnen von Praxiserkundungen und mehr noch vom Betriebspraktikum, dass sich darüber Eignung und Neigung für einen Beruf feststellen lassen, dass die Wirklichkeit der Arbeitswelt unmittelbar erfahren und damit die Berufswahl auf eine rationalere Grundlage gestellt werden kann. An dieser SteIle kann nicht ausführlich darauf eingegangen werden, warum derartig hohe Erwartungen unrealistisch sind und welche didaktischen Probleme mit einem Betriebspraktikum verbunden sind; ich möchte nur kurz auf zwei Gefahren hinweisen, die ein unreflektierter Umgang mit Praxiskontakten mit sich bringt:

    Erstens auf die Gefahr der affirmativen Wirkung des Betriebspraktikums: Praktikantinnen und Praktikanten ordnen sich im Praktikum notwendigerweise in eine ihnen fremde und von ihnen nicht zu verändernde Situation ein. Der Ausbildungsplatzmangel der vergangenen Jahre verstärkte eine unreflektierte Anpassung an betrieblich vorgegebene Anforderungen. Zugleich wird der Betrieb als ein Ort wahrgenommen, der durch technisch-funktionale Erfordernisse geprägt ist und der sachgesetzlichen Notwendigkeiten folgt. PraktikantInnen können zwar beobachten, wie ein Betrieb organisiert ist, wo weibliche und männliche Arbeitskräfte eingesetzt, welche Anforderungen gestellt und welche technischen Mittel verwendet werden, aber sie können nicht ohne weiteres erkennen, warum das so ist, welche Entscheidungen dahinter stehen und wer diese [/S. 124:] Entscheidungen mit welchem Interesse getroffen hat. Wesentliche Merkmale der Arbeitssituationen, ihre Interessenbestimmtheit und die gesellschaftliche Überformung oder Veränderungstendenzen sind der bloßen "Anschauung grundsätzlich unzugänglich und können nur auf der Grundlage von Vergleich, Verallgemeinerung und theoretischen Überlegungen erschlossen werden" (Feldhoff u. a. 1985, S. 54).

    Ein zweites Problem liegt in der Gefahr falscher Schlussfolgerungen und falscher Verallgemeinerungen. Froh darüber, endlich einmal etwas anderes machen zu können als in der oft als kopflastig empfundenen Schularbeit, beurteilen die meisten SchülerInnen die Arbeit im Betriebspraktikum danach, in welchem Ausmaß sie praktisch tätig sein können und ob sie sozial, d. h. als Erwachsene anerkannt werden. Diese Kriterien sind für eine Beurteilung des Betriebspraktikums durchaus sinnvoll. Werden aber aus den positiven oder negativen Erfahrungen hinsichtlich dieser Kriterien Schlussfolgerungen für den Beruf gezogen, so handelt es sich um unzulässige und falsche Verallgemeinerungen. Was die PraktikantInnen kennen gelernt haben, sind Hilfstätigkeiten am Rande von Berufen, einfache Arbeiten, deren konstitutives Merkmal es gerade ist, dass sie keine berufliche Qualifizierung verlangen. Was aus der Perspektive des Praktikanten als soziale Anerkennung erfahren wird, sieht aus der Arbeitskraftperspektive möglicherweise ganz anders aus.
  5. Diese Gefahren und die bereits genannten didaktischen Defizite werden noch verschärft durch organisatorische Defizite: Schulunterricht ist, wie wir alle wissen, nach Fächern differenziert. Schon dadurch werden disziplinübergreifendes und problemorientiertes Arbeiten, wie es angesichts der Komplexität [/S. 125:] des weiblichen Berufsfindungsprozesses dringend notwendig wäre, weitgehend verhindert. Wenn Haus-/ Familienarbeit der Hauswirtschaft zugeordnet wird und Erwerbsarbeit der Wirtschaftslehre, wird dadurch gerade getrennt, was unmittelbar zusammengehört.

    Die Aufgabe der Berufsorientierung ist in den Bundesländern unterschiedlichen Fächern, zum Teil aber auch gar nicht fachlich zugeordnet. Dies macht sich insbesondere bei den Betriebspraktika bemerkbar. Da bereitet der in der Regel männliche Wirtschaftslehrer vor, da betreuen KlassenlehrerInnen das Praktikum, und da wertet die in der Regel weibliche Deutschlehrerin die Berichte nach Kriterien aus, die eben für Berichte gelten. Durch eine solche Organisation bleiben die falschen Schlussfolgerungen unbemerkt und das, was über eigene Arbeit, Beobachtungen und Fragen im Betriebspraktikum gelernt werden kann, ungeprüft.

Was ist diesen didaktischen und organisatorischen Defiziten entgegenzusetzen?

 

3. Konsequenzen für ein didaktisches Konzept oder: Möglichkeiten eines Perspektivenwechsels (2)

  1. Im Berufsfindungsprozess werden Mädchen nicht nur mit dem Wandel der Berufe, der Qualifikationsanforderungen und beruflichen Perspektiven konfrontiert, sondern auch mit geschlechtlicher Arbeitsteilung, mit einengenden Geschlechtsstereotypen sowie mit widersprüchlichen Verhaltensanforderungen. Gerade weil traditionelle Geschlechtsrollenbilder und sie tragende kollektive Normen [/S. 126:] an Bedeutung verlieren, gerade weil Frauen heute vielfältigere Möglichkeiten haben, ihr (Arbeits-)Leben zu gestalten, gerade weil Mädchen heute "Männerberufe" angeboten werden, ohne dass andererseits die geschlechtliche Arbeitsteilung in und außerhalb der Erwerbsarbeit generell in Frage steht, ist ein didaktisches Konzept notwendig, das sie darin unterstützt, die Chancen und Risiken ihrer (Berufs-)Entscheidungen zu sehen, um den eigenen Weg zwischen Anpassung und Widerstand zu finden.
  2. Die ungleichen Situationen von Mädchen und Jungen, von Frauen und Männern beim Übergang von der Schule in die Arbeitswelt, von der Ausbildung in den Beruf lassen sich nur angemessen erklären, wenn die Geschlechterverhältnisse in den theoretischen Bezugsrahmen schulischer Berufsorientierung einbezogen werden. Die Geschlechterverhältnisse manifestieren sich zum einen in Arbeitsteilungen: Da sind die einen, das weibliche Geschlecht, vorrangig zuständig für den "privaten" Bereich, für die Reproduktion der Menschen, deren Bedürfnisse, Erziehung und Erhaltung, für all das, was nach den Marktgesetzen als "wert"los gilt und daher nicht bezahlt wird. Und da sind die anderen, das männliche Geschlecht, vorrangig zuständig für die Produktion von Gütern und Dienstleistungen, für Bereiche, die gesellschaftlich als zentral gelten, die Einkommen und Profit, Macht und Herrschaft versprechen.

    Die Geschlechterverhältnisse manifestieren sich auch in den sozialen Konstrukten, in Stereotypen, über die dem jeweiligen Geschlecht - unabhängig davon, was die Einzelnen jeweils wollen oder können - bestimmte Fähigkeiten und Eigenschaften zugeschrieben werden. Während z. B. technische Kompetenz immer noch - ungeprüft - als männlich gilt, scheint sie mit dem vorherrschenden Weiblichkeitsbild nur schwer vereinbar. Von den Geschlechterverhältnissen auszugehen heißt für die schulische Berufsorientierung konkret, dass die Schülerinnen und Schüler bei allen Problemen, die sie erforschen, die Frage nach dem Verhältnis der Geschlechter stellen, nach deren Positionen im [/S. 127:] öffentlichen und privaten Bereich, nach den Bildern von Frauen und Männern und den Ideologien, mit denen ungleiche Positionen legitimiert werden, nach weiblichen und männlichen Interessen, Handlungsbedingungen und Utopien. Über ein in dieser Weise problemorientieres Vorgehen könnte sichtbar werden, dass die Zuordnung nach Geschlecht nicht biologisch determiniert ist, sondern sozial konstruiert und deshalb veränderbar. So könnten die scheinbar natürlichen Zuweisungen - z. B. zu "Frauenberufen" und "Männerberufen", zu "Technikbedienerinnen" und "Technikgestaltern", zu "Hausarbeiterinnen" und "Erwerbsarbeitern" - als soziale Konstruktionen sichtbar werden, bei denen rationalisierungsbedingte und geschlechtsspezifische Arbeitsteilungen ineinander greifen.
  3. Die gegenwärtige Organisation der Erwerbsarbeit einerseits und die für ein gleichberechtigtes Geschlechterverhältnis notwendigen Veränderungen der gesellschaftlichen Arbeit andererseits können nur angemessen erkannt werden, wenn der berufsorientierende Unterricht seine einseitige Orientierung auf die Erwerbsarbeit aufgibt und von einem erweiterten Arbeitsbegriff ausgeht, der Haus-/ Familien- und Erwerbsarbeit als komplementäre und zugleich widersprüchliche Einheit erfasst. Bezogen auf die Berufsorientierung ließe sich zwar argumentieren, dass Arbeit, deren Kennzeichen gerade die nicht berufsförmige Organisation ist und für die keine Berufsausbildung gebraucht wird, in der schulischen Berufsorientierung keinen Platz hat. Gegen eine solche Argumentation sprechen jedoch mehrere Gründe:
    • Ohne die Reproduktion der Arbeitskraft wäre die Arbeit in der Produktion nicht möglich. Auch wenn in den modernen Industriegesellschaften die Arbeitssituationen in Produktion und Reproduktion räumlich getrennt und von ihrer Funktion, Formbestimmtheit und Struktur her unterschiedlich sind, so sind sie eng aufeinander bezogen und voneinander abhängig. Reproduktion ist auf die Einkommen aus der Erwerbsarbeit angewiesen und umgekehrt die Arbeit in der Produktion auf die [/S. 128:] Erzeugung, Versorgung und Erziehung der Arbeitskräfte.
    • Die volle Konzentration auf die Erwerbsarbeit, wie sie in der männlichen Normalbiografie vorherrscht, die Anforderungen des gegenwärtigen Berufssystems, beruflicher Aufstieg und Karriere setzen die weitgehende Entlastung von Reproduktionsarbeit im privaten Bereich voraus. Umgekehrt wird die Stellung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt über die ihnen zugewiesene Verantwortlichkeit für den privaten Bereich bestimmt und legitimiert. Die Arbeitssituationen von Frauen und Männern in der Erwerbsarbeit lassen sich ohne Kenntnis des zur Erwerbsarbeit komplementären Reproduktionsbereichs nicht angemessen erfassen.
    • Ein Verschweigen des zum Überleben der Menschen notwendigen Bereichs der Reproduktion unterstützt - im Gegensatz zu der Erkenntnis der Frauenbewegung "das Private ist politisch" - den Schein des Privaten und verdeckt, dass die Trennung beider Bereiche selbst Teil der Produktionsverhältnisse ist.

    Auch ohne aus der Sicht von Frauen zu argumentieren, zeigt sich, dass mit dem auf Erwerbsarbeit reduzierten Begriff von Arbeit auch berufliche Arbeitssituationen nicht angemessen erfasst werden.
    Ein Vergleich der Strukturen und Funktionen beider Bereiche im berufsorientierenden Unterricht kann Einsicht in die ungleiche Verteilung und Bewertung gesellschaftlich notwendiger Arbeit vermitteln und durch eine kritische Sichtweise der Belastungen und Entfaltungsmöglichkeiten des jeweils anderen Bereichs emanzipatorische Impulse setzen und Widerstandspotenziale wecken.
  4. Als veränderbar lassen sich die Geschlechterverhältnisse sowie die Verteilung und Bewertung gesellschaftlich notwendiger Arbeit erst durch die historische Analyse des Entwicklungsprozesses der geschlechtlichen Arbeitsteilung erkennen. Sie kann aufzeigen, dass die heute vorfindlichen Bedingungen kein natürliches oder zwangsläufiges Ergebnis historischer Gesetzmäßigkeiten sind, sondern Resultat von interessenbesetzten Entscheidungsprozessen, [/S. 129:] in denen auch Alternativen offen standen, gedacht und versucht wurden, sich aber in je spezifischen Machtkonstellationen nicht durchsetzen konnten. So kann z. B. durch die Geschichte der Erfindung der "modernen Hausfrau" die scheinbare Selbstverständlichkeit der Zuweisung der Haus- und Familienarbeit an Frauen in Frage gestellt und als Ausdruck ökonomischer und patriarchaler Interessen sichtbar werden. Ein Vergleich früherer und heutiger Lebensplanungen, Berufs- und Lebensverläufe von Frauen und Männern kann Einblick geben in Veränderungen der Geschlechterverhältnisse und Differenzierungen zwischen den Geschlechtern und die Einsicht vermitteln, dass die Geschlechterverhältnisse prinzipiell gestaltbar sind.

Der in den Punkten 2, 3 und 4 benannte theoretische Bezugsrahmen betrifft die Berufsorientierung von Mädchen und Jungen gleichermaßen. Zugleich wird von diesem Erklärungszusammenhang her aber auch deutlich, dass über die vorherrschenden Geschlechterverhältnisse als Herrschaftsverhältnisse Mädchen wie Jungen unterschiedliche Positionen in der Arbeits- und Lebenswelt zugewiesen werden, sie deshalb auch unterschiedliche Erfahrungen machen, die Wirklichkeit unterschiedlich wahrnehmen, interpretieren und sich aneignen. Sie müssen deshalb auch Unterschiedliches lernen. Vor diesem Hintergrund kann auch, was ohne ein umfassendes Verständnis des Berufsfindungsprozesses als "natürlich", als traditionell und rollenspezifisch erscheint und oft abwertend als "typisch Mädchen" bezeichnet wird, angemessen interpretiert werden.

  1. Die widersprüchlichen Erfahrungen der Mädchen im Berufsfindungsprozess, ihre unter den vorherrschenden gesellschaftlichen Bedingungen ambivalenten Orientierungen auf Beruf und Familie dürfen nicht negiert, sondern müssen zum Ausgangspunkt schulischer Lernprozesse gemacht werden. In diesen widersprüchlichen Orientierungen liegen einerseits die Gefahr der Anpassung und der Zwang zum Kompromiss, wenn das Vorgefundene als unveränderbar, [/S. 130:] Widersprüche als individuell überwindbar wahrgenommen werden, Alternativen nicht sichtbar sind oder unrealisierbar erscheinen. Andererseits liegt darin aber auch die Chance, sich mit widersprüchlichen Anforderungen und eigenen Orientierungen kritisch auseinander zu setzen und dadurch neue Sichtweisen und eine erweiterte Handlungsfähigkeit zu gewinnen. (3)

Die genannten Bezugspunkte waren neben der Analyse der Orientierungsprobleme von Mädchen beim Übergang von der Schule in die Arbeitswelt und ihrer Sichtweisen auf Arbeit, Beruf und den Zusammenhang von Beruf und Familie maßgeblich für die Auswahl der inhaltlichen Schwerpunkte und der Anlage der Themeneinheiten im Projekt "Mädchen und Berufsfindung".

Den aufgezeigten Gefahren des Betriebspraktikums versuchen wir dadurch zu begegnen, dass wir in Anlehnung an Feldhoff u. a. (1985) Vorbereitung, Durchführung und Auswertung der Betriebspraktika als didaktische Einheit konzipieren. Vorbereitung und Auswertung erfolgen in Projekttagen direkt vor bzw. nach der Praxisphase durch eine Lehrperson bzw. durch ein Team, das auch die Praktikantinnen in der Praxisphase betreut. Um inhaltlich die Überprüfung der Praxiserfahrungen zu gewährleisten, schlagen wir vor, nach folgendem Erkundungskonzept vorzugehen:

Erster Schritt: Problemwahrnehmung

Über Vorinformationen, Beispiele aus der Erfahrungswelt der SchülerInnen oder anhand von Fallbeispielen wird die Arbeitswelt bzw. ein Aspekt der Arbeitswelt als Problem bewusst (z. B. Frauen und Männer arbeiten in der Regel an unterschiedlichen Arbeitsplätzen). Was als Problem wahrgenommen wird, regt auch dazu an, Fragen nach den Ursachen zu stellen.

Zweiter Schritt: Formulierung von Vermutungen/ Annahmen [/S. 131:]

Die Schülerinnen äußern ihr Vorverständnis zum Problem, z. B. Vermutungen, warum Frauen und Männer an verschiedenen Arbeitsplätzen zu finden sind. Dadurch werden ihre Vorannahmen bzw. Vorurteile bewusst und überprüfbar. Diese aus dem Vorverständnis gewonnenen Annahmen können ergänzt werden durch allgemeine Informationen über den zu erkundenden Aspekt, die zu einer weiteren Annahmenbildung im Hinblick auf die Situation im Betrieb anregen, z. B. Informationen über die unterschiedlichen Berufsbildungen und Arbeitssituationen von Frauen und Männern.

Dritter Schritt: Umsetzung in Fragestellungen und Beobachtungsaufgaben:

Nicht alle Annahmen lassen sich im Betrieb durch Beobachtung überprüfen, nicht jede Frage ist geeignet, die Annahmen wirklich zu bestätigen oder zu widerlegen. Deshalb müssen SchülerInnen genau überlegen, was beobachtet werden kann, welche Fragen gestellt werden müssen und wem sie sinnvollerweise gestellt werden.

Vierter Schritt: Überprüfung der Annahmen

Die Annahmen selbst werden bei der Erkundung im Betrieb durch Beobachtung, Kommunikation vor allem auch mit älteren Arbeitnehmerlnnen, die auch Entwicklungen miterlebt haben, durch eigene Arbeit im Praktikum und durch Zusatzinformationen überprüft. Zugleich wirft die Erkundung bzw. die Mitarbeit im Praktikum neue Fragen und Probleme auf, die wieder Anlass zur Annahmenbildung sind.

Fünfter Schritt: Auswertung und Erarbeitung verallgemeinerbarer Erkenntnisse

Die über Erkundungen und Praktika gewonnenen Antworten werden diskutiert, mit den Ergebnissen anderer Erkundungen verglichen, mit empirischen Daten und Fakten konfrontiert und/ oder mit ExpertInnen besprochen. Auch damit lässt sich nicht "die Wahrheit" über die Arbeitswelt oder die "Wirklichkeit" von Berufen [/S. 132:] erkennen, wohl aber eine realistische Einschätzung gewinnen, an der anders lautende Informationen überprüft werden können.

Derartig vorbereitete und ausgewertete Erkundungen und Praktika garantieren zwar nicht, ermöglichen aber eine angemessene Einschätzung der Arbeitswelt und eine realistischere Berufsfindung.

 

4. Zu Erfreulichem und Unerfreulichem bei der Umsetzung in der Praxis

Wir haben im Projekt das didaktische Konzept und die Themeneinheiten nicht nur entwickelt, sondern auch in verschiedenen Schulformen erprobt. Trotz gleicher Vorbereitung und überwiegend gleicher Materialien verlief die Umsetzung in jeder Klasse anders. Je nach Lerngruppe und Lernsituation wurde gekürzt, erweitert, geändert, umgestellt. Was an einer Schule möglich war - die Durchführung von Projektwochen, die Arbeit in geschlechtshomogenen Gruppen, die Verlagerung von Unterricht in außerschulische Bildungsstätten -, war in anderen Schulen nur reduziert, in Dritten überhaupt nicht möglich. Während an einigen Schulen männliche Kollegen - angeregt durch das "Mädchenprojekt" - über antisexistische Jungenarbeit nachzudenken begannen, mussten sich an anderen Schulen die Lehrerinnen gegen Ausgrenzung ob der von ihnen eingebrachten provozierenden Perspektiven und Organisationsformen von Unterricht wehren.

Möglicherweise waren diese Schulen Ausnahmen. Wodurch die Unterstützung der Mädchen im Berufsfindungsprozess konkret begrenzt wurde, zeigte sich deutlich bei Schul- und Fachkonferenzen, bei Fortbildungen und in Gesprächen in einzelnen Klassen. [/S. 133:]

  1. Nicht nur im Forschungsschwerpunkt "Arbeit und Bildung" in Bremen (vgl. Alheit u. a., 1990) ist der um Haus-/ Familienarbeit erweiterte Arbeitsbegriff erheblich umstritten, sondern auch in der Schule. Was den Lehrerinnen aufgrund ihrer Erfahrungen unmittelbar einleuchtet, wird von der Mehrzahl der männlichen Kollegen abgewehrt, weil lange gehegte Theorie- und Traditionsbestände ins Wanken geraten und - beziehen wir die Handlungsdimension mit ein - nicht nur ein Umdenken, sondern ein "Umhandeln" gefordert wird. Da in der Regel der berufsorientierende Unterricht in der Hand der männlichen Kollegen liegt - sie vertreten mehrheitlich die Fächer Wirtschaftslehre, Politik und Technik -, wird es noch erheblicher Anstrengungen bedürfen, um den erweiterten Arbeitsbegriff in der Schule zu etablieren.
  2. Durch die Entspannung auf dem Ausbildungsstellenmarkt einerseits und die medienwirksame Werbung von Industrie und Handwerk um Mädchen in gewerblich-technischen Berufen andererseits entsteht auch bei vielen Lehrern und Lehrerinnen der Eindruck, die quantitativen Engpässe der 70er und 80er Jahre sowie geschlechtsspezifische Benachteiligungen beim Übergang von der Schule in die Arbeitswelt gehörten der Vergangenheit an. Auch unter dem Deckmantel der Chancengleichheit bei einer koedukativen Erziehung erscheint ein die besonderen Probleme der weiblichen Jugendlichen berücksichtigendes Konzept überflüssig, wenn nicht gar rückschrittlich. Das eingeschränkte Berufsspektrum der Mädchen wird zwar durchaus registriert, aber auf ein Problem der Technikdistanz von Mädchen reduziert. Tatsächlich wird damit aber allenfalls eine Dimension angesprochen. Wie unsere empirische Untersuchung zeigt, ist für die Zurückhaltung der Mädchen gegenüber gewerblich-technischen Berufen mindestens ebenso entscheidend die Angst, alleine in einem männerdominierten Bereich zu arbeiten, die eigene die Geschlechtergrenzen überschreitende Leistungsfähigkeit [/S. 134:] immer wieder unter Beweis stellen zu müssen und sexuellen Belästigungen ausgesetzt zu sein. Technikkurse allein - so notwendig sie sind - verdecken diese Ängste und werden den Mädchen nicht gerecht.
  3. Die heute in den Schulen tätigen Lehrerinnen und Lehrer haben in der Regel ihr Examen vor 20 Jahren gemacht, d. h., weit bevor erste Frauenforschungslehrstühle an den Universitäten eingerichtet und frauen- bzw. geschlechtsspezifische Themen im Lehramtsstudium angeboten wurden. Nicht nur Lehrern, sondern auch Lehrerinnen sind frauenspezifische Sichtweisen fremd und nicht wenige auch der weiblichen Kollegen stehen ihnen ablehnend gegenüber.
  4. Auch bei den Schülerinnen stößt die Thematisierung ihrer Probleme nicht nur auf Gegenliebe. Ein nach Geschlechtern getrennter Unterricht weckt nicht nur bei den Mitschülern Protest, sondern es entsteht bei den Mädchen häufig der Eindruck, bei ihnen müssten Defizite ausgeglichen werden. Dagegen wehren sie sich zu Recht. In ihrer widersprüchlichen Situation zwischen Individualisierungsansprüchen und Anpassungszwängen setzen sie auf Chancengleichheit und darauf, Benachteiligungen durch individuelle Leistungen ausgleichen zu können und zu müssen. Unterricht, der strukturelle Bedingungen der Geschlechterungleichheit aufzeigt, stört dieses harmonisierende Verständnis.

Angesichts der hier aufgezeigten Probleme zeigt sich, dass die Entwicklung eines didaktischen Konzepts und thematischer Einheiten zur Berufsorientierung allenfalls ein Schritt auf dem Weg zu einer Veränderung des Unterrichts ist. Der Möglichkeit nach könnte Unterricht durchaus ein Ort kritischer weiblicher Selbstreflexion und Selbstbewusstwerdung sein (vgl. Rabe-Kleberg 1990) und die Schülerinnen bei ihrer Suche nach neuen, eigenen Wegen jenseits der traditionellen weiblichen oder männlichen Biografien [/S. 135:] unterstützen. Damit aber schulische Berufsorientierung zu diesem Ort wird, bedarf es vor allem organisatorischer Veränderungen und einer gezielten und systematischen Fort- und Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern.

 

Anmerkungen

1) Vgl. hierzu ausführlicher: Lemmermöhle-Thüsing, Doris (1990): "Meine Zukunft? Naja, heiraten, Kinder haben und trotzdem berufstätig bleiben, aber das ist fast unmöglich." Über die Notwendigkeit, die Geschlechterverhältnisse in der Schule zu thematisieren: das Beispiel Berufsorientierung. In Rabe-Kleberg, U. (Hg.): Besser gebildet und doch nicht gleich! Frauen und Bildung in der Arbeitsgesellschaft. Bielefeld 1990.

2) Vgl. hierzu ausführlicher: Lemmermöhle-Thüsing, Doris (1990): "Meine Zukunft? Naja, heiraten, Kinder haben und trotzdem berufstätig bleiben, aber das ist fast unmöglich." Über die Notwendigkeit, die Geschlechterverhältnisse in der Schule zu thematisieren: das Beispiel Berufsorientierung. In Rabe-Kleberg, U. (Hg.): Besser gebildet und doch nicht gleich! Frauen und Bildung in der Arbeitsgesellschaft. Bielefeld 1990.

3) Zu Ambivalenzen als kritisches Lernpotenzial siehe Becker-Schmidt/ Knapp 1987, S. 8 und 68 ff.

 

Literatur

Ahlheit, P./ Körber, K. / Rabe-Kleberg, U. (Hrsg.) (1990): Abschied von der Lohnarbeit? Diskussionsbeiträge zu einem erweiterten Arbeitsbegriff, Bremen.

Becker-Schmidt, R./ Knapp, G.-A. (1987): Geschlechtertrennung - Geschlechterdifferenz. Suchbewegungen sozialen Lernens, Bonn.

Feldhoff, J./ Otto, K. A. u. a. (1985): Projekt Betriebspraktikum. Berufsorientierung im Problemzusammenhang von Rationalisierung und Humanisierung der Arbeit, Düsseldorf.

Lemmermöhle-Thüsing, D. (1990): "Meine Zukunft? Naja, heiraten, Kinder haben und trotzdem berufstätig bleiben, aber das ist ja fast unmöglich." Über die Notwendigkeit, die Geschlechterverhältnisse in der Schule zu thematisieren: das Beispiel Berufsorientierung. In: Rabe-Kleberg, U. (Hrsg.): Besser gebildet und doch nicht gleich! Frauen und Bildung in der Arbeitsgesellschaft, Bielefeld.

Lemmermöhle-Thüsing, D. (1993): "Wir werden, was wir wollen". Schulische Berufsorientierung (nicht nur) für Mädchen. Schriftenreihe des Ministeriums für die Gleichstellung von Frau und Mann Nordrhein-Westfalen, 6 Bde., Düsseldorf.

Rabe-Kleberg, U. (Hrsg.) (1990): Besser gebildet und doch nicht gleich! Frauen und Bildung in der Arbeitsgesellschaft, Bielefeld.

 

Lumpe, Alfred (2002): Gestaltungswille, Selbständigkeit und Eigeninitiative als wichtige Zielperspektiven schulischer Berufsorientierung.

In: Schudy, J. (Hrsg.): Berufsorientierung in der Schule. Grundlagen und Praxisbeispiele. Bad Heilbrunn/ Obb. 2002, S. 51 - 68.

 

1. Berufsorientierung in der Wissensgesellschaft

[/S. 107:] Wir leben in einer dynamischen Zeit. Die Veränderungen im Bereich der Berufs- und Arbeitswelt in den letzten Jahren sind mit Begriffen wie z. B. Kundenorientierung, Reorganisation der Wertschöpfungsprozesse und Globalisierung vielfältig beschrieben worden. Organisationsentwicklung und Veränderungen der Arbeitsabläufe, die Einführung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien haben das Arbeitsleben verändert, aus Arbeitnehmern sind Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit erweiterten Kompetenzen und neuer Verantwortung geworden. Unternehmen werden zu lernenden Unternehmen, schnelles Lernen aus Veränderungen ist Voraussetzung für erfolgreiche Unternehmenskonzepte und die Gestaltung der Märkte und - falls erforderlich - schnelle Anpassung an die Märkte.

Mit der Veränderung der Berufs- und Arbeitswelt verändern sich auch die Fragestellungen und Problemlagen jungen Menschen am Übergang von der Schule in die Berufs- und Arbeitswelt. Die Schulen antworten auf die veränderten Bedingungen und erweitern ihre Berufsorientierungskonzepte. Sie antworten auf Veränderungen und nutzen die mit den neuen Möglichkeiten gegebenen Chancen für die Bildungsprozesse der Schülerinnen und Schüler.

Die Bundesanstalt für Arbeit identifiziert sieben dominante Trends für die Zukunft der Erwerbsarbeit (vgl. Schober 2001). Mit diesen Trends wird ein Bezugssystem beschrieben, das meines Erachtens für die Weiterentwicklung der curricularen Rahmenbedingungen einer schulischen Berufsorientierung richtungsweisend ist. Diese Trends sollen hier kurz benannt werden.

Informatisierung: Bereits heute benutzen mehr als die Hälfte aller Erwerbstätigen programmgesteuerte Arbeitsmittel und erstellen, sammeln und verarbeiten Informationen mit Computern. Diese Entwicklung wird sich fortsetzen. Für immer mehr Arbeitsplätze werden Kenntnisse und Fähigkeiten im [/S. 108:] Einsatz der modernen Kommunikationsmittel erforderlich. Berufsorientierung wird künftig noch mehr als heute auch einen Beitrag dafür leisten müssen, dass die Schülerinnen und Schüler ihre Medienkompetenz weiterentwickeln.

Globalisierung: Arbeitsorte und Arbeitsbedingungen sind nicht mehr regional bestimmt. Mit der Globalisierung verändern sich die Konkurrenzsituationen und die Zumutbarkeiten an regionale Mobilität. Fremdsprachenkompetenzen, kulturelle Kompetenzen und Mobilität gewinnen im Berufsleben an Bedeutung. Berufsorientierung wird auch dazu beitragen, dass die Schülerinnen und Schüler Kompetenzen entwickeln können, um unter den Bedingungen der Globalisierung ihre beruflichen Wege gestalten zu können.

Entkoppelung: Erwerbsarbeit und Normalarbeitsverhältnisse, Berufsausbildung sowie soziale Sicherung werden entkoppelt. Die Wirtschaft wird die Berufsausbildung und Weiterbildung zunehmend vor allem für die Kernbelegschaft übernehmen. Die Aus- und Weiterbildung der Randbelegschaften oder der im Rahmen von Projekten eingebundenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wird für viele Unternehmen nicht mehr erforderlich sein, wenn am Arbeitsmarkt qualifizierte Kräfte zur Verfügung stehen. Die künftig Beschäftigten müssen zunehmend bereit sein, ihre Weiterbildung eigenverantwortlich zu gestalten. Der Auftrag der Berufsorientierung umfasst damit auch die Entwicklung der Fähigkeit, die individuelle Bildungsbiografie zu gestalten.

Erwerbsformen: Verbunden mit der Entkoppelung entstehen neue Erwerbsformen. Selbstständigkeit, Projektarbeit, Telearbeit, Leiharbeit kennzeichnen die neuen Erwerbsformen, deren Verbreitung mit weiteren Deregulierungen am Arbeitsmarkt zunehmen wird. Die Erwerbstätigen müssen in größerem Maße zu Unternehmern der eigenen Arbeitskraft, zu den Managern der eigenen Potenziale werden. Berufsorientierung hat damit auch die Aufgabe, die Schülerinnen und Schüler zu unterstützen, die eigenen Fähigkeiten, Kompetenzen und Potenziale bewusst wahrzunehmen, zu überprüfen und weiter zu entwickeln. Sie muss dazu beitragen, dass die Schülerinnen und Schüler ihren Fähigkeiten und Kompetenzen entsprechende Berufswege zielorientiert gestalten können.

Entstandardisierung von Berufsbiografien: Berufsnormalbiografien, d. h. die früher typischen Wege von der Schule in eine Berufsausbildung und anschließende Berufstätigkeit in diesem Beruf bis zur Rente, werden seltener. Unterschiedliche Tätigkeiten und unterschiedlich lange Zeitabschnitte der einzelnen Phasen werden die Berufsbiografie bestimmen. Nicht immer frei gewählt werden Arbeiten, Lernen, Freizeit und Eigenarbeit sich abwechseln. Veränderungen werden nicht automatisch als Scheitern interpretiert, Um- und Quereinsteigen werden Teile der neuen "Normalbiografien" [/S. 109:] werden. Bereits am Eintritt in die Berufswelt verläuft der Weg nicht mehr typisch geradlinig. Der Übergang von der Schule in die Berufsausbildung erweist sich als zunehmend verzweigter: vorher noch eine weitere schulische Ausbildung oder erst mal jobben, ein Praktikum oder ein Auslandsaufenthalt, dann vielleicht erst studieren. Berufsorientierung muss Schülerinnen und Schüler unterstützen, auch angesichts der verschiedenen Möglichkeiten schon beim Einstieg in die Berufswelt entscheidungsfähig zu sein, berufliche Orientierung als permanente Aufgabe wahrzunehmen und Veränderungen nicht zwangsläufig als Brüche zu verstehen. Berufsorientierung trägt zur Stärkung der Persönlichkeit bei.

Entberuflichung: In Anzeigen am Arbeitsmarkt wird der Trend deutlich sichtbar. Die Anzeigen nicht nur für neue Berufe oder besonders außerordentliche Beschäftigungen enthalten heute oftmals wenig Hinweise auf formale Qualifikationen und Abschlüsse. Der Beruf behält nur für einen Teil der Erwerbstätigen und einen Teil der Arbeitsplätze seine Bedeutung. Für die Berufsorientierung verändert sich damit das Zentrum der Orientierung.

Qualifizierung: Die Anforderungen in der Berufsausbildung sind in den letzten Jahren quer durch alle Berufe gestiegen, der Trend zur Höherqualifizierung, verbunden mit der Bereitschaft und Fähigkeit, das fachliche Wissen ständig zu aktualisieren, ist nach wie vor zu beobachten und schließt extrafunktionale Qualifikationen wie die Bereitschaft und Fähigkeit zum lebenslangen Lernen ein. Berufsorientierung muss dazu beitragen, dass sich die Schülerinnen und Schüler auf diese Aufgaben vorbereiten und das eigene Lernen in unterschiedlichen Kontexten organisieren und professionalisieren können.

Die Trends beschreiben Veränderungen in der Arbeitswelt und kennzeichnen, was Berufsorientierung leisten muss. Sie verdeutlichen, dass die Anforderungen an die Schülerinnen und Schüler beim Übergang von der Schule in die Berufswelt differenzierter werden. Die Schülerinnen und Schüler müssen sich heute beim Übergang von der Schule in die Berufs- und Arbeitswelt angesichts der Unvorhersehbarkeiten und Unübersichtlichkeiten orientieren und stabilisieren. Die meisten Jugendlichen, die heute eine Ausbildung beginnen, werden im Laufe ihrer Erwerbstätigkeit den Beruf wechseln und in verschiedenen Beschäftigungsformen tätig sein.

Welche Kompetenzen müssen die Jugendlichen erwerben, damit sie sich unter diesen Bedingungen in der Berufswelt orientieren und ihre Potenziale und Fähigkeiten entfalten können? Welche Kompetenzen müssen sie bereits in der Schule erwerben bzw. welche Fähigkeiten müssen sie als Voraussetzungen für das Weiterlernen außerhalb und nach der Schule erwerben, damit sie die eigene Berufsbiografie erfolgreich aufbauen und gestalten können? [/S. 110:]

 

2. Eckpunkte einer zeitgemäßen Berufsorientierung

Im Kontext dieser Veränderungen und Herausforderungen werden Ziele und Aufgaben der schulischen Berufsorientierung neu bestimmt. Ziele und Aufgaben gehen weit über Berufsorientierung als "Berufswahlhilfe und Bewerbungstraining" hinaus. Weil Lernen in der Schule nicht nur eine Frage der Inhalte ist, muss auch gefragt werden, ob die Arbeitsformen noch den Möglichkeiten entsprechen, die z. B. mit den neuen Medien gegeben sind. In den Lernorganisationen einer zeitgemäßen Berufsorientierung müssen Aufgabenverteilung, die Steuerung der Lernprozesse und die entsprechenden Erwartungen und Verpflichtungen auf Seiten der Lernenden und Lehrenden neu bestimmt werden. Eine zeitgemäße schulische Berufsorientierung sollte deshalb insbesondere folgende vier Grundsätze berücksichtigen:

 

2.1 Von der Abschlussorientierung zur Anschlussorientierung

Wenn Handlungspraktiken, Funktionen und Strukturen schulischen Lernens auf ein möglichst gutes Abschlusszeugnis ausgerichtet sind, werden Maßnahmen getroffen und Konzepte umgesetzt, die den Abschluss in den Blick nehmen und darauf bezogen zu bestmöglichen Ergebnissen führen. Die Lehrerinnen und Lehrer werden ihre Kreativität und Energien diesem Ziel entsprechend einsetzen. Die Schülerinnen und Schüler bereiten sich vor allem auf den Abschluss vor. Dabei werden sie zweifelsohne Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben. Von der Abschlussorientierung zur Anschlussorientierung heißt nicht, diese Qualität aufzugeben. Die Entwicklung der Qualifikationsanforderungen zeigt, dass ein hohes Niveau dieser Abschlussleistungen unabdingbar ist. Aber der Abschluss allein reicht nicht aus.

Für den Anschluss stärken ist mehr als auf den Abschluss hinarbeiten. Lernen in der Perspektive der Anschlussfähigkeit heißt den Schwerpunkt verlagern und im Abschluss einen Zwischenschritt zu sehen. Der Abschluss ist ein Meilenstein, aber kein Schlusspunkt. Der Anschluss ist das Ziel und muss gelingen. Damit wird die Wahrnehmung umfassender. Die Vorbereitung der nächsten an die Schule anschließenden Schritte, der erfolgreiche Einstieg und die Bewährung in Ausbildung und Beruf wird handlungsleitend. Rückmeldungen über den erfolgreichen Anschluss der Absolventen werden bei der Arbeit für den Abschluss einbezogen. Berufsorientierung in der Perspektive der Anschlussorientierung unterstützt die Schülerinnen und Schüler bei der Steuerung und Planung des ersten Übergangs (Grundlage für die folgenden Übergänge) und des Weiterlernens. Sie nimmt die Organisation des Übergangs explizit als ihre Aufgabe wahr. [/S. 111:]

Berufsorientierung in der Perspektive der Anschlussorientierung fördert selbst gesteuertes Weiterlernen. Weiterlernen und Integration des an verschiedenen Orten erworbenen Wissens werden entscheidende Grundlagen für die individuelle Berufsbiografie. Bereits heute werden im Rahmen personalorientierter Unternehmensentwicklung neue Arbeitszeitmodelle und Lernzeitkonzepte erprobt. Lernen und Arbeiten gehen neue Verbindungen ein. Qualifizierungsvorteile erzielt, wer auch den Arbeitsplatz als Lernort nutzen kann. Berufsorientierung muss die Schülerinnen und Schüler deshalb mit der Aufgabe konfrontieren, die alltägliche Berufswelt auch als Lernort zu nutzen und Alltagserfahrungen systematisch auszuwerten.

Anschlussorientierung umfasst Anschlussplanung und -steuerung. Ein Anschluss ergibt sich zwar auch deshalb, weil es irgendwie immer weitergeht. Dies ist mit Anschlussplanung und -steuerung jedoch nicht gemeint. Es geht vielmehr darum, die nächsten Schritte bewusst zu planen und deren Realisierung zu sichern. Die Förderung und Entwicklung dieser Planungskompetenz ist explizit Aufgabe einer zeitgemäßen Berufsorientierung. Anschlussplanung und -steuerung werden explizit Lerngegenstand.

Berufsorientierung in der Perspektive der Anschlussorientierung bietet Lernsituationen, in denen die Schülerinnen und Schüler entsprechend ihrer Potenziale und Ziele Umsetzungsschritte planen und den Erfolg auswerten. Sie werden unterstützt, ihr Selbstbild zu klären und ihre Persönlichkeit zu stärken: Was will ich? Was kann ich? Was sind meine Stärken? Wie entwickle ich mein Qualifizierungsprofil? Wie plane ich meine Kompetenzentwicklung?

 

2.2 Eigeninitiative und Selbstverantwortung

Die Schülerinnen und Schüler führen in ihrem Berufsorientierungsprozess selbst Regie. Dies muss ermöglicht und immer wieder verdeutlicht werden. Sie werden dabei jedoch nicht alleine gelassen, sondern von den Lehrerinnen und Lehrern in vielerlei Hinsicht unterstützt und begleitet. Aber sie übernehmen zunehmend mehr Verantwortung für ihren Lernweg und ihr Orientierungssystem. Sie werden als individuell und aktiv Lernende ernst genommen und mit der eigenen bewussten und unbewussten Lernorganisation konfrontiert. Die individuelle Lernorganisation wird zum Gegenstand des Lernens.

Wer Selbstverantwortung übernimmt, muss sich selbst kennen. Berufsorientierung unterstützt die Schülerinnen und Schüler bei der Klärung ihres Selbstbildes, ihrer Interessen, Potenziale und Ziele. In entsprechenden Lernsituationen vergleichen die Schülerinnen und Schüler ihre Selbstwahrnehmung mit der Wahrnehmung der eigenen Person durch andere (Mitschüler, Lehrende, Eltern) und werten den Unterschied aus. Sie reflektieren und korrigieren ihr Selbstbild. Dieser Prozess wird im Rahmen der [/S. 112:] Berufsorientierung mehrmals wiederholt und die Veränderungen werden wahrgenommen. Das Zur-Kenntnis-Nehmen verdeutlicht Entwicklungen. Die Veränderungen und die Wahrnehmung der Veränderung sind wichtige Informationen und Motivation für die Entwicklung der Orientierungskompetenz.

Schülerinnen und Schüler müssen Eigeninitiative entwickeln. Die Lernsituationen müssen dafür Freiraum bieten. Eigeninitiative entwickeln und Lernprozesse selbst steuern bedeutet nicht, unabhängig von den Lehrenden über Inhalte und Lernwege zu entscheiden. Auch für selbst gesteuertes Lernen gelten Rahmenbedingungen, die die Lehrenden setzen und verantworten (vgl. Schiersmann 2001). Diese Rahmenbedingungen sind es aber, die den Unterschied zum traditionellen Lernen ausmachen. Sie werden von den Lehrenden bestimmt und definieren den Raum, in dem die Lernenden ihren Lernprozess selbst planen und realisieren und schließlich Prozess und Ergebnisse auswerten.

Es reicht heute angesichts der dominanten Trends für die Zukunft der Erwerbsarbeit nicht aus, nur lebenslang zu lernen. Das wäre weder neu noch eine Antwort auf die Herausforderungen. Neu an der Forderung nach lebenslangem Lernen ist die Professionalität, mit der der Einzelne sein Lernen organisieren muss und die Verantwortung für die Initiierung des Lernens - beides wird durch selbst gesteuertes Lernen gefördert und gilt für formales wie auch informelles Lernen gleichermaßen. Vorteile im Wettbewerb um Ausbildung und Arbeitsplätze wird erzielen, wer gelernt hat, das eigene Lernen zu optimieren und Lernanlässe, egal an welchen Orten, für sich zu nutzen, d. h. wer

  • seine Stärken erforscht und Ziele entwickelt, die mit den Stärken korrespondieren,
  • seinen Lernprozess organisieren kann, Lernvereinbarungen aufstellt, Lernschritte festlegt und Lernberatung abrufen kann, wer die Zielerreichung überprüft und den Lernprozess und die Lernergebnisse auswertet und schließlich
  • sich seinen individuellen Lern- und Bildungsplan bewusst macht und an den eigenen Zielen orientiert fortschreibt.

Im Rahmen der Berufsorientierung kann in verschiedener Weise selbst gesteuertes Lernen ermöglicht werden, von der selbst geplanten Betriebserkundung mit Präsentation der Ergebnisse bis hin zur Bearbeitung einer besonderen (betrieblichen) Lernaufgabe, die die Schülerinnen und Schüler selbst konzipieren, mit den Lehrenden vereinbaren und am außerschulischen Lernort erstellen. Derartige "besondere Lernaufgaben" werden im Hamburger Schulversuch "Lernen und Arbeiten in Schule und Betrieb" seit dem Schuljahr 2000/01 entwickelt und erprobt (vgl. BSJB 2001a). An zwei Tagen in der Woche lernen und arbeiten die Schülerinnen und Schüler der letzten [S. 113:] beiden Schuljahre der Hauptschule bzw. im letzten Jahr der Realschule an außerschulischen Lernorten. Sie arbeiten jeweils ein halbes Jahr an einem Lernort, erkunden also vier bzw. zwei verschiedene Ausschnitte betrieblicher Wirklichkeit. Innerhalb der ersten vier Wochen im Betrieb entwickeln die Schülerinnen und Schüler entsprechend ihrer besonderen Interessen und Fähigkeiten eine Lernaufgabe, die mit dem Betrieb in einem Zusammenhang stehen muss. Die besondere Lernaufgabe wird mit den Lehrenden und den betrieblichen Anleitern abgestimmt und schriftlich vereinbart. Die Schülerinnen und Schüler bearbeiten die Lernaufgabe eigenverantwortlich und selbstständig. Dabei werden sie durch die betrieblichen Anleiter und die Lehrkräfte beraten und unterstützt. Die Lernaufgabe wird während der Praktikumszeit angefertigt, schriftlich dokumentiert und präsentiert. Die Lernleistung wird bewertet und geht als eigenständige Note in das Zeugnis ein. Lernaufgaben wie z. B. "Beschreibung des Baus unterschiedlicher Koffer (Cases) für spezifische Anforderungen der Kunden und Fertigung eines eigenen Cases" oder "Eigenständiges Einrichten eines Systems zum Sortieren von Normteilen in einer kleinen Metallwerkstatt" wurden erstellt. Die Schülerinnen und Schüler haben die Erwartungen übererfüllt. Auch leistungsschwache Schülerinnen und Schüler arbeiteten intensiv und erfolgreich an ihren Lernaufgaben. Die erste Auswertung zeigt, dass die Leistungen der Schülerinnen und Schüler insgesamt deutlich gestiegen sind. Selbst gesteuertes Lernen, eingebunden in einen dem jeweiligen Grad der Selbstständigkeit entsprechenden Rahmen, durch den die Anforderungen und Verpflichtungen klar geregelt sind und Bearbeitungsschritte vereinbart werden, motiviert zum Lernen und ermöglicht Erfolg. Die Schülerinnen und Schüler nehmen ihre erbrachte Leistung mit Stolz zur Kenntnis. Diese Erfahrungen unterstützen die Entwicklung der Lernfähigkeit und fördern individuelle Bildungsplanung. Eigeninitiative und Erfolg schaffen Lust auf Zukunft.

Zur Unterstützung der Schülerinnen und Schüler auf diesem Weg haben Hamburg und sechs weitere Bundesländer im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gemeinsam mit den Bundesländern gestalteten Programms "Schule - Wirtschaft/Arbeitsleben" den Berufswahlpass (vgl. Lumpe 2002) entwickelt. Der Berufswahlpass ist ein DIN A4-Ordner und wird den Schülerinnen und Schülern im Jahrgang 7 überreicht. Jeder Schüler und jede Schülerin verwendet den Berufswahlpass eigenverantwortlich zur Gestaltung des Orientierungsprozesses. Der Berufswahlpass unterstützt sie dabei in dreifacher [/S. 114:] Hinsicht: Im ersten Teil stellt die jeweilige Schule ihr Programm zur Berufsorientierung dar und erhöht damit die Transparenz der berufsorientierenden Angebote. Selbstverständlich werden auch Informationen über die Berufsberatung der Arbeitsverwaltung und über die mit der Schule kooperierenden Partner aufgenommen. Die Schülerinnen und Schüler wissen rechtzeitig, was ihre Schule anbietet, wer weitere Angebote zur Verfügung stellen kann und welche Schritte sie individuell planen können. Mit dem ersten Teil des Berufswahlpasses erhalten die Schülerinnen und Schüler Informationen zur eigenverantwortlichen Planung ihrer beruflichen Orientierung. Im zweiten Teil bietet der Berufswahlpass Hinweise und Vorschläge zur Organisation des Lernens. Mit den Hinweisen wird der Berufsorientierungsprozess strukturiert und überschaubar. Die Schülerinnen und Schüler erhalten Anregungen, wann sie welche Schritte planen sollten, wo sie Unterstützung erhalten und wie sie Ergebnisse auswerten können. Erst der dritte Teil ist ein Pass im eigentlichen Sinne und dient der Dokumentation der Leistungen, die für den Übergang in die Berufswelt von besonderer Relevanz sind. Auch hier wird den Schülerinnen und Schülern nur vorgeschlagen, welche erbrachten Leistungen sie selbst beschreiben und dokumentieren sollten und welche Leistungen sie sich bestätigen lassen sollten. Unter anderem wird angeregt, Beschreibungen von besonderen Arbeiten im berufsorientierenden Unterricht oder in Projekten einzuheften. Damit wird Schülerinnen und Schülern auch empfohlen, darüber nachzudenken, mit welchen schulischen Lernereignissen sie die eigene Qualifikation für einen Ausbildungsplatz in besonderer Weise nachweisen können. Darüber hinaus wird empfohlen, Bescheinigungen über ehrenamtliche Tätigkeiten, Jugendgruppenleitungstätigkeiten, über die Teilnahme an Volkshochschulkursen, Auslandsaufenthalten, Zertifikate über Kenntnisse im Bereich der neuen Medien und Bescheinigungen über Jobs aller Art und geleistete Betriebspraktika einzuheften. Die Schülerinnen und Schüler erhalten eine Übersicht, was bedeutsam sein kann und entscheiden selbst, welche Anregung sie aufnehmen oder nicht. Der Berufswahlpass ist noch in der Entwicklungsphase. Die ersten Rückmeldungen bestätigen die Annahme, dass mit diesem Instrument der Berufswahlprozess strukturiert und die Selbstverantwortung der Schülerinnen und Schüler gefördert werden kann.

 

2.3 Vernetzung nach innen und außen

Berufsorientierung nutzt die vorhandenen Potenziale innerhalb und außerhalb der Schule für die Optimierung des Übergangs in den Beruf. Dies gelingt um so mehr, wenn die Ziele allen Beteiligten transparent sind, die einzelnen Aufgaben benannt sind, die Zusammenarbeit geregelt ist, die Erwartungen und Verpflichtungen der Beteiligten klar sind und die Verantwortung für die Aufgabenerfüllung abgesprochen ist. [/S. 115:]

Grundlage einer zeitgemäßen Berufsorientierung ist eine Vernetzung nach innen, d. h. entsprechende Kommunikations- und Kooperationsstrukturen innerhalb der Schule müssen vorhanden sein. Die Beteiligten sind nicht nur die Klassenlehrerinnen und -lehrer und die für Berufsorientierung zuständige Lehrerin bzw. der zuständige Lehrer. Eingebunden sind alle Lehrenden, die Schulleitung und auch die Lernenden selbst. Die für die Berufsorientierung verantwortlichen Personen sichern den Informationsfluss und sind Ansprechpartner für die außerschulischen Kooperationspartner. Sie unterstützen Lehrerinnen und Lehrer und Schülerinnen und Schüler, sie koordinieren einzelne Projekte und übernehmen Verantwortung für die Weiterentwicklung der schuleigenen Konzepte, einschließlich der Planung geeigneter Fortbildungsbedarfe. Die Vernetzung nach innen ist Voraussetzung dafür, dass Berufsorientierung nicht als Aufgabe des Klassenlehrers oder der Klassenlehrerin oder einzelner Fachlehrkräfte missverstanden, sondern als gemeinsame Bildungs- und Erziehungsaufgabe der Schule wahrgenommen werden kann.

Die Vernetzung nach außen ist Grundlage für die Einbeziehung der außerschulischen Partner in die schulische Arbeit. Dabei ist zu bedenken, dass Kooperationen mit Schulen bei vielen Partnern nicht zum Kerngeschäft gehören. Dennoch sind sie bereit, einen Beitrag zu leisten, wenn die Zusammenarbeit erleichtert wird.

Schulen und Unternehmen sind sich näher gekommen und arbeiten in Hamburg in vielfältiger Weise erfolgreich zusammen. Die Zusammenarbeit reicht von gemeinsam vorbereiteten Betriebserkundungen, Angeboten von Praktikumsplätzen für Schülerinnen und Schüler und auch für Lehrerinnen und Lehrer, der Einbeziehung betrieblicher Expertinnen und Experten in den Unterricht, gemeinsamen Arbeitsprojekten, Patenschaften zwischen Auszubildenden und Schülerinnen und Schülern, alljährlich wiederkehrenden Aktionen wie Ausbildungs- und Berufebörsen bis hin zu systematisch organisierter und langfristig angelegter Zusammenarbeit mit Zielvereinbarung und Ergebniskontrolle.

Von besonderer Bedeutung sind in Hamburg kontinuierlich arbeitende Kooperationspartnerschaften. In diesen Kooperationspartnerschaften schließen sich Schulen und Unternehmen zusammen und erarbeiten gemeinsam ein ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen entsprechendes Konzept. In Schule und Betrieb sind die für die Kooperation verantwortlichen Personen benannt und Unternehmensleitung und Schulleitung unterstützen die Partnerschaft. Die unterschiedlichen Bedingungen der Schulen und Betriebe gehen in die Kooperationsvereinbarung ein. Die abgesprochenen Vorhaben werden zu Beginn des Schuljahres vereinbart und am Ende ausgewertet. Dies führt zu Verlässlichkeit und zielgerichtetem Handeln. Die [/S. 116:] Kooperationsvereinbarungen unterscheiden sich. Das ist jedoch kein Nachteil, sondern Ausdruck des flexiblen Verfahrens.

Hamburger Schulen haben sich für die Mitwirkung des schulischen Umfelds an der Bildungs- und Erziehungsarbeit geöffnet. Sie werben dafür, dass neben den Betrieben Vereine und Organisationen im Stadtteil an der Gestaltung und Entwicklung des Lernens in der Schule teilhaben (vgl. BSJB 2001b). Die Öffnung ist eine Herausforderung an alle Beteiligten, ihr Verhältnis und ihr Selbstverständnis gegenüber der Schule neu zu bestimmen. In der Kooperation lernen alle Beteiligten von- und miteinander. Die Schulen und ihre Partner werden dabei von vielen Seiten unterstützt: einzelne Unternehmen, Unternehmensverbände, die Landesarbeitsgemeinschaft Schule-Wirtschaft, das Institut für Lehrerfortbildung, die Handelskammer und die Handwerkskammer, die Wirtschaftsbehörde und auch die Eltern-, SchülerInnen- und Lehrerkammer.

In mehreren Netzwerken arbeiten Unternehmen mit Schulen zusammen. Mit dem Verband "Deutscher Maschinen und Anlagenbau e.V." (VDMA) wurden Kooperationspartnerschaften zwischen Schulen, Unternehmen und Hochschulen gegründet, mit dem "Hamburger Industriebverband e.V." wurde das "Netzwerk Schule-Industrie" gegründet, in dem 20 Kooperationspartnerschaften vernetzt sind und die "Initiative für Beschäftigung - Netzwerk Hamburg" betreut seit Sommer 2000 das jüngste Netzwerk mit zehn Kooperationspartnerschaften zwischen Unternehmen und Haupt-, Real- und Gesamtschulen zur Stärkung der Hauptschülerinnen und Hauptschüler. In jedem Netzwerk arbeiten die Kooperationsgemeinschaften unter einem bestimmten Schwerpunktthema zusammen (vgl. BSJB 2001a).

Im Netzwerk Schule-Industrie arbeiten jeweils eine Schule und ein Unternehmen zusammen und entwickeln gemeinsam das schulische Berufsorientierungskonzept weiter. Einbezogen sind dabei Patenschaften zwischen Schülerinnen und Schülern und Auszubildenden, die Vermittlung spezifischer Praktika für Lernende und Lehrende bis hin zum gegenseitigen Angebot der Teilnahme an Fortbildungsveranstaltungen.

Im Netzwerk Hamburg der Initiative für Beschäftigung arbeiten Schulen, Berufsberatung und Personalverantwortliche sowie Fachkräfte der Unternehmen nach einem gemeinsam entwickelten Konzept zusammen, das die jeweiligen Kompetenzen der Partner verlässlich in den Berufsorientierungsprozess einbezieht. In dem 3-Säulen-Modell übernimmt jeder Partner Aufgaben entsprechend seiner Kompetenz. Die Schule trägt insbesondere zur Klärung der Interessen und Stärken der Schülerinnen und Schüler bei, die Berufsberatung sorgt für die Beratung und eine den Stärken entsprechende Vermittlung und die Personalfachleute der Partnerunternehmen beraten die [/S. 117:] Schülerinnen und Schüler, geben ihr Feedback zum Stand der Ausbildungsfähigkeit und bescheinigen aus Sicht der Personalfachkraft Chancen und Eignung für den gewünschten Ausbildungsberuf. Die einzelnen Schritte der drei Partner sind abgestimmt, jeder übernimmt einen Part auf dem Weg in die Berufsausbildung. Sie werden dabei unterstützt durch eine Koordinierungsstelle, die die einzelnen Beratungsschritte koordiniert, den Informationsaustausch sicherstellt und über ein Controllingsystem die Anschlussprozesse steuert. Die Schülerinnen und Schüler werden bei der Suche eines Ausbildungsplatzes von den Partnern unterstützt und je nach individuellem Betreuungsbedarf begleitet und gefördert. Die beteiligten Unternehmen haben sich öffentlich verpflichtet, jährlich mindestens 200 Ausbildungsplätze für die Hauptschulabsolventinnen und Absolventen der Partnerschulen zur Verfügung zu stellen. Nach der erfolgreichen Erprobungsphase wird das Modell im Schuljahr 2001/02 auf 30 Partnerschaften und - so die Planung - in den folgenden beiden Jahren um weitere 30 Partnerschaften erweitert.

Im Netzwerk TRANS-JOB (vgl. BSJB 2001a, S. 6 ff.) arbeiten Schulen und Unternehmen ebenfalls langfristig und kontinuierlich zusammen. Auch hier vereinbaren die Schulen und das Partnerunternehmen konkrete Schritte und werten den Erfolg aus. TRANS-JOB ist bundesweit vernetzt und Teil des Programms des Bundesministeriums für Bildung und Forschung "Schule - Wirtschaft/Arbeitsleben" und wird von der Stiftung der deutschen Wirtschaft durchgeführt. In diesem Netzwerk kooperieren Schulen und Unternehmen vor allem mit dem Ziel, Konzepte zur ökonomischen Allgemeinbildung zu entwickeln und zu erproben.

Im "Service-Netzwerk-Beratung" (vgl. BSJB 2001a, S. 22 f.), ein Netzwerk, in das auch die Hochschulen eingebunden sind, arbeiten Teams, bestehend aus jeweils einer Schule, einer Hochschule und einem Unternehmen, bildungsbereichsübergreifend und kontinuierlich zusammen. Die Teams entwickeln Lernarrangements zur Förderung selbst gesteuerten Lernens. Schülerinnen und Schüler, Auszubildende und Studierende bearbeiten gemeinsam komplexe Aufgabenstellungen, lernen dabei die jeweils andere Arbeitsumgebung und das Berufsfeld kennen und optimieren in der Zusammenarbeit die eigenen Lernstrategien. Das Projekt ist in das BLK-Programm "Lebenslanges Lernen" eingebunden und beginnt im Schuljahr 2001/02 mit der Umsetzungsphase.

Die beschriebenen Partnerschaften sind Beispiele für Vernetzungen und verdeutlichen den an eine Vernetzung gestellten Anspruch. Grundlage der Vernetzung sind die jeweils verfügbaren Leistungen der Partner. Diese werden nicht als einmalige Aktionen in das schulische Curriculum einbezogen, sondern systematisch und langfristig. Die konkreten Handlungsschritte werden gemeinsam geplant, vereinbart und ausgewertet. [/S. 118:]

Die Erfahrungen der Kooperationspartnerschaften bestätigen das Konzept der Kontinuität und Verlässlichkeit. Die Verantwortlichen im Unternehmen und in der Schule treffen sich rechtzeitig. Die Schule trägt vor, wobei sie Unterstützung durch das Unternehmen benötigt. Das Unternehmen berichtet über die bestehenden Möglichkeiten. Oft ergeben sich schon bei diesem Gespräch Kooperationsmöglichkeiten, die keiner der Partner vorhergesehen hatte. Die vorgetragenen Wünsche werden zu konkreten Vereinbarungen mit festen Zeitplänen. Mit der Vereinbarung verpflichten sich die Partner nicht im rechtlichen Sinne, sondern dokumentieren und kommunizieren den jeweiligen Einsatz und die Erwartungen. Mit ihr wird die Ernsthaftigkeit ausgewiesen und sie dient als Maßstab für die Bewertung der Zielerreichung am Ende des Schuljahres. Erfolgreiche Kooperationen werten den Erfolg aus. Sie überprüfen die Planung, nehmen die Ergebnisse ihrer Arbeit zur Kenntnis und freuen sich auch über den gemeinsamen Erfolg.

In den verschiedenen Netzwerken ist die Berufsberatung der Arbeitsverwaltung in unterschiedlichen Formen Kooperationspartner. Berufsorientierung in der Schule ist ohne Kooperation mit den Berufsberaterinnen und Berufsberatern nicht denkbar. Ihre Arbeit an den Schulen ist unentbehrlich (vgl. Strijewski 2002a, 2002b). Im Rahmen der Berufsorientierung übernimmt die Berufsberatung die zentrale Aufgabe der allgemeinen Berufsorientierung und der individuellen Beratung.

Die wichtigsten Partner der Jugendlichen bei ihrer beruflichen Orientierung sind die Eltern. Untersuchungen zeigen, dass die Berufswahl der Jugendlichen zu einem großen Teil auf dem Einfluss der Eltern und des häuslichen Umfeldes beruht (vgl. Hoose/ Vorholt 1996). Eine Schule, die ihr Angebot zur beruflichen Orientierung optimieren möchte, widmet daher der Zusammenarbeit mit den Eltern ganz besondere Aufmerksamkeit (vgl. Buck/ Nastaly 2002). Die Entwicklung neuer Konzepte zur Zusammenarbeit mit den Eltern und dem häuslichen Umfeld unterstützt die Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung mit besonderen Projekten. Einzelne Schulen erarbeiten und erproben gemeinsam mit den Eltern verschiedene Modelle von Elterntreffen zu berufsorientierenden Themen über besondere Elternabende, Fortbildung für Elternvertreter und -vertreterinnen, Mitwirkung der Eltern im Unterricht oder bei besonderen Veranstaltungen bis hin zum Aufbau einer Datenbank durch Eltern, Lehrerinnen und Lehrer und Schülerinnen und Schüler zu Fragen der Berufsorientierung.

 

2.4 Systemenergien nutzen, Lernchancen erhöhen

Weiterentwicklung beginnt meist mit der Bilanzierung der Praxis, mit der Auswertung der Ergebnisse. Was weiß eine Schule aber systematisch über [/S. 119:] das Ergebnis, d. h. den Verbleib ihrer Schülerinnen und Schüler? Mit welchen systematisch erhobenen Informationen verschaffen sich die Lehrerinnen und Lehrer ein Bild über den Stand der Anschlussplanung ihres Schülers oder ihrer Schülerin? Sind die Informationen für alle Lehrerinnen und Lehrer des Schülers bzw. der Schülerin zugänglich? Welche Informationen haben die Schulen über Ausbildungsabbrüche und deren Gründe und welche Informationen haben die Schulen über die Entwicklung dieser Größen? Diese Fragen führen zur dahinter liegenden Frage nach den Chancen der Lehrerinnen und Lehrer, aus diesen Informationen lernen und Konsequenzen für die Weiterentwicklung der Lernsituationen ziehen zu können. Fehlende Informationen verhindern Lernmöglichkeiten. Solange die einzelnen Lehrerinnen und Lehrer einer Lerngruppe über keine Informationen zum Stand der Anschlussplanung der einzelnen Schülerinnen und Schüler verfügen, können sie nicht zur Optimierung des Anschlusses beitragen. Der Schüler oder die Schülerin entwickelt in diesem Falle seine bzw. ihre Orientierungskompetenz in Lernkontexten, die nicht auf die Entwicklung der Orientierungskompetenz abgestimmt sind.

Damit die Schule ihr Konzept an der Realität orientiert weiterentwickeln kann, muss sie Informationen über den Verbleib ihrer Schülerinnen und Schüler erheben und die Lehrerinnen und Lehrer einer Klasse müssen über den jeweiligen Stand der individuellen Anschlussplanung ihrer Schülerinnen und Schüler informiert sein. Dies ist Voraussetzung, um den Schüler bzw. die Schülerin zielgerichtet und abgestimmt auf den individuellen Bedarf beraten und ihn bzw. sie bei der Entwicklung der Orientierungskompetenz unterstützen zu können.

Über den Stand der jeweiligen Anschlussplanung können sich die Lehrerinnen und Lehrer durch verschiedene Instrumente, vom einfachen Planungsbogen über ein individuell mit dem Schüler oder der Schülerin aufgestelltes Lernprogramm mit Lernvereinbarung bis hin zu einem speziellen Lerntagebuch, in dem der Prozess der Berufsorientierung vorstrukturiert sein kann, informieren. Gemeinsam ist den verschiedenen Instrumenten, dass mit ihrer Hilfe die Anschlussplanung zum Thema des Unterrichts wird. Mit den Instrumenten kann auf die konkreten individuellen Bedürfnisse des einzelnen Schülers bzw. der einzelnen Schülerin bezogen die Anschlussplanung strukturiert und je nach dem Grad der Selbstständigkeit von den Lehrenden gesteuert und kontrolliert werden. Der Berufswahlpass unterstützt diese Anschlussplanung. Die Lehrenden können darin ihr Begleitkonzept (systematisierte Ablaufplanung mit definierten Meilensteinen, Hinweise auf schulische und außerschulische Unterstützungssysteme, Angebote besonderer Lernbausteine zum Abbau individueller Lerndefizite, Anschlussplanung unter Einbeziehung der Eltern, Lernvereinbarung zur Anschlusssteuerung u. a. m.) [/S. 120:] vorstellen und gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern geeignete Wege entwickeln.

 

3. Berufsorientierung in Hamburg - ein Aufgabengebiet der Schule

Im "Hamburgischen Schulgesetz" vom 16. April 1997 ist in § 2 Absatz 3 der Bezug des schulischen Lernens zur Arbeits- und Berufswelt ausgeweitet: "Auf allen Schulstufen und in allen Schulformen der allgemein bildenden Schulen ist in altersgemäßer Form in die Arbeits- und Berufswelt einzuführen und eine umfassende berufliche Orientierung zu gewährleisten. Dabei sind den Schülerinnen und Schülern grundlegende Kenntnisse über die Struktur der Berufs- und Arbeitswelt und die Bedingungen ihres Wandels zu vermitteln." Berufsorientierung ist für alle Schülerinnen und Schüler Gegenstand des schulischen Lernens.

Im Hamburgischen Schulgesetz werden besondere Bildungs- und Erziehungsaufgaben zu Aufgabengebieten zusammengefasst, die im Rahmen des Unterrichts in verschiedenen Fächern und Jahrgangsstufen, in fächerverbindenden Lernsituationen, in Projekten und im Schulalltag Gegenstand des Lernens werden. Berufsorientierung ist ein Aufgabengebiet (vgl. HambSG, § 5 Absatz 3) und damit Auftrag aller Lehrerinnen und Lehrer einer Schule. Mit der "Verordnung über die Stundentafeln für die Sekundarstufe I" vom 1. August 1999 wird Berufsorientierung darüber hinaus in allen Schulformen als Unterrichtsinhalt in einem Fach im Pflichtbereich aufgenommen. Das Fach Arbeitslehre wird zu Arbeitslehre/ Berufsorientierung (Haupt-, Real- und Gesamtschulen) und das Fach Sozialkunde zu Sozialkunde/ Berufsorientierung (Gymnasien) erweitert. Darüber hinaus haben die Schulen die Möglichkeit, Berufsorientierung im Wahlpflichtbereich anzubieten.

Mit der "Verordnung über die Stundentafeln für die Sekundarstufe I" wurden für jede Schulform so genannte Flexibilisierungsstundentafeln eingeführt. Jede Schule kann innerhalb festgelegter Grenzen die Stundenverteilung entsprechend ihres besonderen Schwerpunkts in der Bildungs- und Erziehungsarbeit selbst bestimmen und das Stundenvolumen z. B. für das Fach Arbeitslehre/ Berufsorientierung erhöhen. Eine Schule kann vor dem Hintergrund der besonderen Situation der Schülerinnen und Schüler die Unterrichtsverteilung gestalten. Sie hat z. B. den Spielraum, einen Tag je Woche als Projekt- bzw. Praktikumstag anzubieten, an dem die Schülerinnen und Schüler entweder in der Schule oder an außerschulischen Lernorten arbeiten und lernen können. [/S. 121:]

Jede Hamburger Schule legt in ihrem Schulprogramm die besonderen Ziele, Schwerpunkte und Organisationsformen ihrer pädagogischen Arbeit sowie Kriterien für die Zielerreichung fest (vgl. HamSG, § 51). Sie konkretisiert darin den allgemeinen Bildungs- und Erziehungsauftrag im Hinblick auf die spezifischen Voraussetzungen und Merkmale ihrer Schülerschaft und die spezifischen Gegebenheiten der Schule und ihres regionalen Umfelds. Viele Hamburger Schulen haben Berufsorientierung als Schwerpunkt ihrer Schulentwicklung ausgewiesen.

Der inhaltliche Rahmen für die Bildungs- und Erziehungsaufgaben ist in Bildungsplänen für die einzelnen Schulformen festgelegt. Die Bildungspläne werden derzeit entwickelt. Die Lehrpläne der Fächer werden überarbeitet und im Bildungsplan der jeweiligen Schulform zusammengefasst. Die Bildungsplanentwürfe für die Sekundarstufe I liegen zum Teil bereits vor, sie enthalten jeweils einen allgemeinen Teil und die Rahmenpläne der Fächer und Aufgabengebiete. In den Rahmenplänen der Fächer wird Berufsorientierung als Aufgabe des jeweiligen Faches ausgewiesen. Darüber hinaus wird erstmals für das Aufgabengebiet Berufsorientierung ein eigener Rahmenplan erstellt. Darin wird der Auftrag des berufsorientierenden Unterrichts beschrieben und es werden Ziele, Grundsätze für die Gestaltung der Lernsituationen, verpflichtende Themen und Anforderungen festgelegt. Die Bildungspläne für die Sekundarstufe I werden ab dem Schuljahr 2002/03 an den Schulen erprobt.

Die Schulen erhalten mit den Rahmenplänen einerseits einen festen curricularen Rahmen, andererseits erhalten sie die Möglichkeit, ein spezifisches Lernangebot umzusetzen, das den Anforderungen ihrer Schülerschaft und ihres Umfeldes gerecht wird. Der mit den Bildungsplänen gesetzte Rahmen wird von den Schulen durch schulinterne Planungen gefüllt. Die Bildungspläne erfordern somit eine gemeinsame Absprache innerhalb des Kollegiums. Durch die gemeinsame Festlegung wird die Zusammenarbeit im Schuljahr erleichtert und das Unterrichtsgeschehen für alle Beteiligten, für die Lehrkräfte, die Schülerinnen und Schüler, deren Eltern und für die externen Partner, transparent.

Jede Schule geht den eigenen Weg, entscheidet über Konzept und konkrete Ausgestaltung der Angebote zur beruflichen Orientierung. Die schulischen Konzepte zur Berufsorientierung sind deshalb nicht nur schulformbezogen unterschiedlich. Sie unterscheiden sich auch innerhalb der Schulformen und berücksichtigen regionale Besonderheiten. Dennoch hat sich in der Praxis ein alle Schulformen umfassender Konsens über zentrale Elemente der Berufsorientierung entwickelt. An allen Hamburger Schulen ist Berufsorientierung Gegenstand des Fachunterrichts und vielfältiger Veranstaltungen im Schulleben, alle Schulen führen ein bis zwei Betriebspraktika durch, binden [/S. 122:] die Angebote der Berufsberatung der Arbeitsämter und des Berufsinformationszentrums ein, kooperieren mit Betrieben und Eltern. Darüber hinaus bieten die Schulen verschiedene Bausteine zur Berufsorientierung von Betriebsbesichtigungen, Projektwochen zu bestimmten Themen, Sprechstunden für Kolleginnen und Kollegen zu berufsorientierenden Fragen, Bewerbungstraining und Lebensplanungsseminare über Uni-Tage und Berufemessen bis hin zur Bearbeitung von Realaufträgen, die die Schülerinnen und Schüler oft gemeinsam mit Auszubildenden bearbeiten (vgl. BSJB 2001a).

Mit den Rahmenbedingungen wird ein Kerncurriculum Berufsorientierung gesichert und der erforderliche Freiraum für spezifische Gestaltungserfordernisse gegeben.

 

4. Weiterentwicklung und Ausblick

Berufswahl ist subjektiv, ist rational und arbeitsmarktorientiert, ist aber auch emotional bestimmt und den Betroffenen sind die Entscheidungsgrundlagen oft auch nicht bewusst. Viele Faktoren außerhalb der Schule, insbesondere das familiäre Umfeld und der Freundeskreis beeinflussen die Berufsorientierung und die Berufswahl. Der Einfluss der schulischen Berufsorientierung ist nicht eindeutig bestimmbar. Dies im Blick zu behalten schützt vor Überschätzung, fordert aber auch heraus, durch neues Lernen im Rahmen der schulischen Berufsorientierung die Schülerinnen und Schülern bei der Gestaltung ihres Übergangs in die Berufs- und Arbeitswelt bestmöglich zu unterstützen.

Das neue Lernen in einer zeitgemäßen Berufsorientierung kann durch folgende Aufgaben bzw. Forderungen zusammengefasst werden:

  • Lehren und Lernen an der Anschlussorientierung ausrichten: Weil die Wege nicht vorbestimmt sind, können und müssen sie gestaltet werden. Die Schulen entwickeln hierzu spezifische Lernangebote zur Entwicklung der Orientierungskompetenz der Schülerinnen und Schüler.
  • Strukturierung der Berufsorientierungsangebote und Erhöhung der Transparenz: Es mangelt nicht an Angeboten, aber an der Übersicht, damit die Schülerinnen und Schüler zielorientiert wählen und ihr Programm für den Übergang gestalten können.
  • Systematisierung des Orientierungsprozesses: Berufliche Orientierung ist ein komplexer Vorgang und bedarf einer zielgerichteten Planung und Steuerung. Das Ziel, der Übergang in den Beruf oder in eine weiterführende Schule oder andere Varianten, ist offen, die Aufgabe, die eigenen Ziele zu entwickeln, ist nicht disponibel. Berufsorientierung ist kein [/S. 122:] Lehrkonzept, sondern ein Lernkonzept zur Stärkung der Selbstverantwortung und Entwicklung der Orientierungskompetenz.
  • Selbstorganisation und Eigenaktivität: Die Lernenden können die Selbstverantwortung für ihr Lernen übernehmen, wenn Strukturvorgaben den Handlungsraum bestimmen. Lernen mit Zielvereinbarungen, individuelle Qualifizierungs- und Lernpläne, komplexe Lernaufgaben, Lerntagebücher und Selbstlernmaterialien sind Beispiele für strukturierende Instrumente, die Selbstorganisation zulassen, Eigenaktivität unterstützen und Selbstverantwortung anerkennen.
  • Flexibilisierung des Übergangs durch zusätzliche bedarfsorientierte Lernangebote: Nicht alle Schüler und Schülerinnen benötigen die gleiche Unterstützung. Berufsorientierung muss neben den für alle geltenden Angeboten besondere schulische und außerschulische Angebote für individuelle Bedarfslagen einbeziehen.
  • Kontinuierliche Kooperationspartnerschaften und Vernetzung: Unternehmen, Verbände und Institutionen sind Partner bei der Vorbereitung auf den Übergang in den Beruf und über regionale Vernetzung werden deren Potenziale eingebunden.
 

Literatur

BSJB (Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung) (2001a): Berufsorientierung in Hamburg. Projekte, Beispiele und Ideen zum neuen Lernen in der Berufsorientierung, Hamburg

BSJB (Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung) (2001b): Schule und Stadtteil (Handreichung), Hamburg

Buck, A.; Nastaly, R. (2002): "Manche Dinge gehen nur gemeinsam". Integrative Mitarbeit der Eltern im Prozess der Berufswahlvorbereitung, in Schudy, J.: Berufsorientierung in der Schule, Grundlagen und Praxisbeispiele, Bad Heilbronn, S. 261 - 268

Hoose, D.; Vorholt, D. (1996): Sicher sind wir wichtig - irgendwie!? Der Einfluss von Eltern auf das Berufswahlverhalten von Mädchen", Eine Untersuchung im Auftrag des Senatsamtes für die Gleichstellung, Hamburg

Lumpe, A. (2002): Der Berufswahlpass. Ein Instrument zum selbstorganisierten und eigenverantwortlichen Lernen, in: Schudy, J. (Hrsg.): Berufsorientierung in der Schule. Grundlagen und Praxisbeispiele, Bad Heilbrunn/ Obb., S. 253 - 260

Schiersmann, C. (2001): Selbststeuerung als Leitbild für die Weiterbildung, in: Forum Bildung: Bildungs- und Qualifikationsziele von morgen. Vorläufige Leitsätze und Expertenbericht, Band 5

Schober, K. (2001): Berufsorientierung - Vorbereitung auf eine veränderte Arbeitswelt, in:
Wissenschaftliche Begleitung des Programms "Schule - Wirtschaft/ Arbeitsleben" (Hrsg.): "Schule - Wirtschaft/ Arbeitsleben". Dokumentation 2. Fachtagung Bielefeld 30.05.2001 - 31.05.2001. SWA-Materialien Nr. 7, Bielefeld 2001, S. 7 - 38

Strijewski, C. (2002a): Berufsorientierung in der Zusammenarbeit von Schule und Berufsberatung. Der Beitrag der Arbeitsämter, in: Schudy, J.: Berufsorientierung in der Schule, Grundlagen und Praxisbeispiele, Bad Heilbronn, S. 85 - 106

Strijewski, C. (2002b): Medien der Bundesanstalt für Arbeit zur Berufsorientierung und zur Selbstinformation, in: Schudy, J.: Berufsorientierung in der Schule, Grundlagen und Praxisbeispiele, Bad Heilbronn, S. 323 - 327