Die Gesamtschulen in Hessen und NW, ursprünglich als Schulversuch deklariert, können längst nicht mehr als pädagogische Experimente gelten - sie sind nach den Aussagen der verantwortlichen Kultusminister und ihrer Mitarbeiter die Regelschulen der Zukunft. Mit ihnen wurden nach eigenem Anspruch nicht etwa nur Reformen in die Wege geleitet, sondern "schrittweise durchzuführende ,Innovationen' an der Gesamtstruktur des Bildungswesens" (NW. Vorwort, S. 2).
Ein Kernstück der Innovation ist die Erneuerung der Lehrpläne von Grund auf (NW. Vorwort, S. 3); in ihrem Zentrum steht die Integration der bisher selbständigen bzw. kooperierenden Schulfächer Geschichte, Sozialkunde, Geographie und Arbeitslehre zu einem einheitlichen Lernbereich "Gesellschaftslehre" (Hessen) oder "Gesellschaft/Politik" (NW), mit dem die generell intendierte Befähigung der Schüler zur "Teilnahme an der produktiven Gestaltung gesellschaftlicher Realität" in erster Linie erreicht werden soll (H. S. 7; NW. S. 1).
Die folgende Untersuchung fragt nach dem Stellenwert der Geschichte in diesem zentralen Lernbereich der künfti- [/S. 30:] gen Regelschule. Die Antwort auf diese Frage ist für unsere Schule und unsere Gesellschaft von höchster Bedeutung. Mit der Analyse wird jedoch, das sei gegenüber möglichen Missverständnissen ausdrücklich gesagt, keineswegs das Konzept der Gesamtschule als solcher mit ihrer fundamentalen Zielsetzung des "Abbaus bestehender Chancenungleichheit der Schüler" und der "Vermittlung sozialintegrativer Lerninhalte und eines entsprechenden Verhaltens" (NW. Vorwort, S. 9/10) infrage gestellt.
Vorweg sei ebenfalls erklärt, dass die Integration der Geschichte in ein mehrere sozialwissenschaftliche Teilbereiche umfassendes allgemeines Unterrichtsfeld Gesellschaft/Politik als ein notwendiger Versuch zur didaktischen Zusammenführung von einander korrespondierenden Wissenschaften begrüßt wird. Eine unerlässliche Forderung an jede Art von Integration bleibt jedoch, die Integrationsfaktoren in ihrem je spezifischen Potential nicht auszulöschen, sondern interdependent zur Entfaltung kommen zu lassen, was u. a. auch bedeutet, das Interaktions- und Spannungsfeld der zugehörigen Wissenschaften zu erhalten. Es sei ausdrücklich vermerkt, dass die "Rahmenrichtlinien" (Hessen) wie auch die "Rahmenlehrpläne" (NW) angesichts der schwierigen theoretischen und praktischen Probleme der intendierten Integration den beteiligten Lehrern aus wohlbegründetem Pragmatismus eine Schonfrist, einen Lernprozess zubilligen und "Koordination" dort gestatten (H. S. 41; NW. S. V), wo das Maximalprogramm der Integration organisatorisch und personell noch nicht durchführbar ist. Die Begründung für die didaktische Notwendigkeit der Integration sowie ihrer zeitweiligen Suspendierung erfolgt in den hessischen Richtlinien in auffälligem Unterschied zum lapidaren Befehlston der NW-Lehrpläne in einer vorsichtigen, differenzierten und verbindlichen (demokratischen) Sprechweise. Gegenüber der im hessischen Plan vorgenommenen Wortwahl "Verschränkung", "gemeinsamer Bezugsrahmen" (H. S. 11), "Unmöglichkeit jeden Versuchs, Gesellschaftslehre auf der Systematik einer der beteiligten Fachdisziplinen zu begründen" (H. S.13), dekretiert der NW-Plan: "Unterricht im Lernbereich G/P ist grundsätzlich auf Voll- [/S. 31:] integration ausgerichtet und auszurichten" (NW. S. IV).
Die mit diesem dubiosen Begriff "Vollintegration" sich beim Leser sofort herstellende Assoziation eines totalen Zugriffs verfehlt nicht etwa den gemeinten Sachverhalt, sondern trifft, wie sich in der Begriffserläuterung (und später im unterrichtspraktischen Teil) zeigt, das Gemeinte leider nur zu genau: "Damit [mit der "Vollintegration"] ist weder die Addition eines Nacheinander oder Nebeneinander noch eine Kooperation von im Prinzip selbständigen Einheiten gemeint, sondern eine spezielle Qualität: das einheitliche, ungeteilte Ganze" (NW. S. IV). Aus dieser Setzung der Gesellschaftslehre und also auch der Gesellschaft als eines solchen "ungeteilten Ganzen" folgt zwangsläufig das Postulat der Eliminierung fachspezifischer Elemente oder Teilbereiche und ihre Reduktion auf "Aspekte". Die Zulassung von "Koordination" als Surrogat von "Integration" wird im NW-Plan wiederum im lakonischen Kommandoton verkündet - ohne weitere Kommentierung und vor allem ohne nähere pädagogische Dispositionen, wie sie der Hessen-Plan in Rücksicht auf eben nur langsam zu verändernde Vorgegebenheiten vornimmt. Was in den hessischen Richtlinien eher verhüllt und indirekt spürbar ist, das offenbart der Sprechstil der NW-Planer dagegen als Missbilligung einer verkehrten Welt.
In der Mystifikation einer "Vollintegration", eines "einheitlichen, ungeteilten Ganzen" liegt die Verschmelzung der unterschiedlichen Elemente der Gesellschaft und der Ebenen ihrer Analyse. Darin gehen die NW-Rahmenpläne weit über die hessischen Richtlinien hinaus: "Unterricht im Lernbereich Gesellschaft/Politik ist ein Unterricht, der politologische, sozialpsychologische, anthropologische, juristische ökonomische, geographische, historische und andere Aspekte gesellschaftlicher Realität und Möglichkeit in ihrer Komplexität und Interdependenz aufgreifen, einsichtig machen und handlungsrelevant erarbeiten will" (NW. S. I). Dieser voluminöse Satz mit seinem Universalanspruch wäre in den Formulierungen der hessischen Richtlinien so noch nicht vorstellbar. Die NW-Rahmenpläne, die die Rahmenrichtlinien Hessens im übrigen als Modell zu kopieren vorgeben [/S. 32:] (NW. S. III), haben, das lässt sich also schon jetzt sagen, Tendenzen ihres Vorbilds in einem Maximalsinn zu einer Aspekt-Didaktik ausgezogen. Was ist nun die Integrationsmitte, auf die fachspezifische Aspekte hingeordnet werden? Als "oberstes Lernziel" ist dem integrierten Lernbereich Gesellschaftslehre bzw. Gesellschaft/Politik aufgegeben: "Die Befähigung zur Selbst- und Mitbestimmung" (H. S. 7 f.; NW. S. 1 f.). Dieses Ziel ist kein aus Wissenschaft abgeleitetes und auch nicht ableitbares Postulat, sondern eine (wie die hessischen Planer im Unterschied zu den nordrhein-westfälischen ausdrücklich hervorheben) politische, am Demokratiegebot des Grundgesetzes orientierte Setzung. Mit der, politisch-legitim, letztlich auf der Vernunftfähigkeit aller Menschen gegründeten Zielsetzung der "optimale(n) Teilhabe des einzelnen an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen" als "an die Aufhebung ungleicher Lebenschancen geknüpft(e)" (NW. S. 1) Aufgabe ist die politisch-pädagogische Einstellung des Leitziels in den von weither kommenden geschichtlichen Emanzipationsprozess gegeben. Ob dies den Planern bewusst ist, muss freilich bezweifelt werden; sie sprechen den Zusammenhang weder hier noch später an. Im Gegenteil, wo von Geschichte im allgemeinen und geschichtlicher Situation im besonderen die Rede ist, da werden anstelle der emanzipatorischen Potenzen die negativen Erscheinungen in den Vordergrund gerückt: Geschichte als Ansammlung abgelebter Strukturen, Geschichtswissenschaft und Geschichtsbewusstsein als ideologisches Weltbewusstsein, das von der Soziologie destruiert werden muss, das ist - trotz mancher Gegenbeteuerungen - der Grundtenor der Aussagen insgesamt. Eindeutig ist die Dominanz einer unhistorischen Soziologie, deren Provenienz im Diffusen bleibt.
Im Diffusen bleibt nun aber vor allem das "oberste Lernziel", "die Befähigung zur Selbst- und Mitbestimmung". Die Verfasser wissen das selbst und konzedieren, dass die jeweilig mit diesem Lernziel verbundenen Inhalte nur in Beziehung zu konkreten "Anwendungssituationen" deutlich werden. Was aber in bestimmten und nicht vorwegnehmbaren Situationen "Selbstbestimmung oder soziale Gerechtig- [/S. 33:] keit" (zwei Begriffe, die hier fast synonym gebraucht werden, aber in Opposition stehen können) jeweils bedeuten, ist nicht festlegbar. So geraten die Verfasser beim Versuch, das oberste Lernziel zu differenzieren, notwendig in das Dilemma jeder normativen Didaktik. Sie geben sich so, als ob die Unterrichtsentscheidungen aus den obersten Setzungen ableitbar wären. "Tatsächlich aber sind die didaktisch-methodischen Entscheidungsgründe durch viele Faktoren mitbedingt, die nicht aus Sinnormen, wie sie als philosophisch explizierte Vernunftpostulate, als religiös-theologisch ausgelegte Offenbarungswahrheiten oder als Weltanschauungen mit politisch-gesellschaftlichen Zielen auftreten, abgeleitet werden können" (1). Innerhalb des Spielraums der "Sinnormen" sind aber nicht nur verschiedene didaktische Konzeptionen möglich, vielmehr sind hier die Sinnormen so vage, dass sie sogleich ambivalent und kontrovers auslegbar sind. Auch die Verfasser dieser Richtlinien sind der Deduktionsproblematik (2) insofern erlegen, als ihre einzelnen Lernziele keineswegs durch Berufung auf die oberste Setzung gerechtfertigt werden können, sondern jeweils selbst wieder ganz bestimmten Auslegungen dieser Setzung verpflichtet sind, die nun aber nicht mehr begründet, sondern unterschwellig eingeführt werden. Ließen die alten normativen Didaktikmodelle unter dem weiten Deckmantel des obersten "Bildungszieles" dem Lehrer Freiheit, die Stoffpläne hinsichtlich der an den Unterrichtsgegenständen zu gewinnenden Einsichten variabel auszulegen, so ist hier, in einer "lernzielorientierten" normativen Didaktik der Lehrer sehr viel strenger an die Einsicht der Richtlinienverfasser und an ihre Auslegung der obersten Norm gebunden - bis in die untersten Lernziele, bis in die empfohlenen oder vorgeschriebenen und zugelieferten Materialien hinein. Auf diese Weise entsteht eine scheinbar wissenschaftlich abgeleitete, in Wahrheit aber irrationale - d. h. im Entscheidenden der Diskussion und Offenlegung entzogene - Diktatur gesetzter Lernzielketten (3).
Eine so angesetzte politisch-normative Didaktik könnte nun kritisiert werden von den politischen Grundentscheidungen her - nicht von der allerobersten Norm, die min- [/S. 34:] destens verbal wohl in den meisten politischen Systemen der Welt Applaus findet -, sondern von den in den einzelnen Ausführungen, Frageansätzen, Blickausrichtungen, Lernzielformulierungen, Vorbehalten, Materialhinweisen usw. versteckten konkreten politischen Entscheidungen. Es wäre zu fragen, ob hier nicht eine Sicht vom Zustand wie von Veränderungstendenzen der Gesellschaft zugrunde liegt, die sich sehr viel genauer ausweisen müsste, ehe sie in Form von ministeriellen Richtlinien allen Schulen auferlegt werden dürfte. Es hat bisweilen den Anschein, als ob hier ein dialektisches Denkmuster durchschlägt, das die Schüler in der Gegenwart die Gesellschaft als ein schichten-/ klassen-/gruppenantagonistisches Modell sehen lehrt, in dem alles Denken nur Mittel im Kampf aller gegen alle ist - dass aber mit dem Zauberwort "Veränderung" die Richtung auf ein Harmoniemodell des Ausgleichs aller Ungleichheit, der sozialen Gerechtigkeit wie der Selbst- und Mitbestimmung zugleich eingeschlagen wird.
Aber hier geht es nicht um die Auseinandersetzung mit den nur diffus erkennbaren Konturen der Ausfüllung der obersten Norm, des "Demokratiegebotes". Gewiss ist richtig, dass eine politisch normative Didaktik zunächst in ihren politischen Setzungen zu kritisieren ist; hier geht es sehr viel bescheidener lediglich um die Untersuchung der didaktischen Dignität, also der Frage, ob die Entwürfe, gemessen an ihren eigenen Intentionen, stichhaltig sind. Die Frage nach der "Parteilichkeit" bleibt also aus dem Spiel.
In diesem Zusammenhang lässt sich hier schon die Hauptfrage umreißen, die sich immer wieder herandrängt: Ist die Zurückweisung der fachwissenschaftlichen Aspekte hinter eine politisch-didaktische Setzung nicht ein vielleicht unbewusst gebrauchtes Mittel, Instanzen der Kritik an einem im einzelnen voluntaristisch gesetzten Unterrichtsmodell auszuschalten? Denn die Reduzierung der Gesellschaftsvorstellung auf die konfliktträchtigen Antagonismen (ein allenfalls historisch verständlicher Gegenschlag gegen die "Institutionenkunde") und die Destruktion der Geschichte zum Instrumentarium für Orientierung oder Legitimierung von Gegenwartsaktionen findet in den systematischen wie hi- [/S. 35:] storischen Sozialwissenschaften ein Widerstandspotential gegen verzerrende Einseitigkeiten. Die Erfahrung, dass in der neueren Geschichte "Veränderungen" immer dann regressive, reaktionäre Veränderungen waren, wenn sie die Wissenschaften mediatisierten - unter welchen politischen Vorentscheidungen immer -, zwingt zu einer kritischen Untersuchung von Richtlinien und Lehrplänen, die sich ausdrücklich als Ableitungen aus einer politischen Norm zu erkennen geben. Hier geschieht das unter Begrenzung auf die Funktion, die der Geschichtswissenschaft und dem Geschichtsunterricht in dem neuen politischen Rahmenfach zugewiesen wird.
Das Geschichtsverständnis und die in ihm begründete gesellschaftliche Rollenzuweisung für Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht innerhalb der Gesellschaftslehre artikulieren sich programmatisch in den allgemeinen Ausführungen zum "Arbeitsschwerpunkt Geschichte" (H. S. 18-30) bzw. zum "Historischen Aspekt" (NW. S. 15-20) und in der unterrichtspraktischen "Strukturierung der Lernfelder" (H. S. 47-311) bzw. "Unterrichtsorganisation" (NW. S. 29-131) (4).
Die "Integration" bislang selbständig unterrichteter Fächer, die hinsichtlich ihrer Methoden, Kategorien und Aussagen auf eine Fachwissenschaft rückbeziehbar blieben, in einen Gesamtlernbereich, der nunmehr von einer politisch-didaktischen Vorentscheidung her strukturiert wird, bezeichnet das Kernproblem dieser Richtlinien: die Frage, ob rationale, am Wissenschaftsstand kontrollierbare Lerninhalte und -methoden politische Vorentscheidungen differenzierter reflektierbar machen können oder nicht.
Der Ansatz ist eindeutig geprägt vom Primat einer politischen Zielvorstellung; Didaktik ist die Fortsetzung der Poli- [/S. 36:] tik mit pädagogischen Mitteln. Nun ist gegen die Beziehung der "Gesellschaftslehre" auf die "Gesellschaft", der Erziehung auf die Verfassung grundsätzlich nichts einzuwenden: der Zusammenhang beider gehört seit Aristoteles zur immer wieder formulierten politischen Grunderkenntnis (5). Aber entscheidend ist die Art, in der dieser Zusammenhang hergestellt wird. Man erkennt das Problem deutlicher, wenn man es - das kann hier nur andeutend geschehen - in seinen historischen Zusammenhang rückt.
Das didaktische Modell der direkten politischen Funktion der Erziehung, wie es in der Bundesrepublik wieder vorzudringen scheint, wird am deutlichsten in den Jakobinischen Erziehungsplänen der französischen Revolution. Das "Demokratiegebot" der neu geschaffenen Verfassung soll aus den Gesetzen in die Gemüter getragen werden, und zwar unmittelbar. Ziel aller Erziehung soll sein das "richtige" politische Verhalten und Handeln. Wissen und Einsicht bleiben dem normativ vorgesetzten Handeln untergeordnet, d. h. sind nicht Voraussetzung oder Kritik politischer Entscheidungen sondern deren Legitimation. Die "eigentümliche Wissenschaftsfeindlichkeit" (6) dieses didaktischen Modells ist Konsequenz des Misstrauens in die Freiheit - nicht nur des Individuums, sondern auch der kommenden Entwicklung; die eigene Doktrin darf daher nicht der freien und unberechenbaren wissenschaftlichen Untersuchung ausgesetzt werden, die Heranwachsenden müssen zur Gewissheit und Sicherheit ihres Tuns, nicht zur kritischen und zweifelnden Prüfung erzogen werden. "Der Staat will nicht, dass die Geister und Gemüter irre gehen; darum führt und leitet er sie, indem er sie mit seinen Lehren panzert. Der Mensch bedarf einer Kräftigung des Zusammengehörigkeitsgedankens, er bedarf einer Theorie, die ihm Ursprung und Beschaffenheit der Wesen erklärt, ihm seinen Platz und seine Rolle in der Welt anweist" (7).
Unverkennbar, dass in diesem Modell das ältere, religiös fundierte, dogmatische Sozialisationsprinzip säkularisiert wieder aufgenommen wurde. Deshalb eignete es sich auch nicht nur für den demokratischen Zentralismus jakobinischer Prägung, sondern gleichermaßen für konträre Inhalte: [/S. 37:] der napoleonische Cäsarismus konnte es ebenso übernehmen wie die deutsche Pädagogik der Restauration oder des nationalen Staates mit imperialistischer Sendungsidee; dass es heute unter den verschiedensten Etiketten kräftig weiterlebt, braucht nicht erst gezeigt zu werden.
Diesem Typus stand aber ebenfalls schon in der Französischen Revolution ein anderer gegenüber. Es gehört zum europäischen Demokratiebegriff - und das ist sein Widerstandspotential gegen den despotischen Demokratismus - nicht nur das Postulat der Gleichheit, sondern als Basis dieses Postulats der Begriff der Autonomie, der Mündigkeit, der Selbstverantwortlichkeit des Menschen, und zwar jedes einzelnen. Selbstbestimmung aber ist nur denkbar als eigene Tätigkeit; eigene Tätigkeit kann nur Folge eigener Entscheidung und also eigener Denkfähigkeit sein. Von diesem Ansatz her versteht sich ein Erziehungsmodell, das auf Entwicklung der Urteilsfähigkeit abzielt. Entwicklung der Urteilsfähigkeit aber ist nicht anders mehr möglich als durch Rückgriff auf wissenschaftliche Methoden des Denkens. So durchbricht dieses Modell den Kurzschluss zwischen Theorie und Praxis und baut wissenschaftliche Bildung als den Weg zur Selbstbefreiung des Menschen an zentraler Stelle in den Unterricht ein. Condorcets Erziehungsplan ist dafür das deutlichste Beispiel (8). Kant und Humboldt versuchten - vergeblich - diese Erziehungsvorstellung zu realisieren. Sie unterlagen der direkten politisch-pädagogischen Aktion der Restauration, so wie Condorcet den Jakobinern und diese wiederum dem imperialen Cäsarismus.
Dieses zweite Modell ist nun keineswegs unpolitisch. Aber es ist nur möglich in einer freien Demokratie - d. h. bei einer Gesellschaftsverfassung, die sich nicht auf ein geschlossenes System einer politischen Theorie stützen muss, sondern die es vermag, unterschiedlichen Positionen Spielraum zu geben - nicht notgedrungen, sondern als Quintessenz der Auffassung, dass nur Vielfalt und Selbsttätigkeit den Prozess der Humanisierung vorwärtstreiben können; eine Gesellschaftsverfassung, die sich selbst in Frage zu stellen bereit ist und gerade zu diesem Zweck der freien Wissenschaft bedarf; die es zulässt, geradezu verlangt, dass der zur [/S. 38:] Selbstbestimmung gebildete Mensch die Verfassung an sich prüft (9); eine Verfassung, die nur an einer Grenze politischer "Veränderung" Halt gebieten muss: dort, wo dieser Grundsatz der Selbstverantwortlichkeit, der Selbstbestimmung, der Freiheit der Prüfung und Kritik selbst zugunsten einer normativen politischen Dogmatik aufgehoben werden soll.
Diese hier extrem vereinfachten Positionen zeigen den Antagonismus aller Konzeptionen der öffentlichen Erziehung seit dem späten 18. Jahrhundert. Auf der breiten Skala der Zwischen- und Mischformen ordnet sich bewusst oder unbewusst jeder didaktische Ansatz ein.
Wo stehen die hessischen Richtlinien?
Grob gesagt: sie reflektieren diesen Antagonismus nicht und schwanken zwischen beiden Positionen im einzelnen hin und her, haben im ganzen aber eine deutliche Schlagseite zur "Überzeugungsdidaktik", der Verpflichtung aller auf ein vorinterpretiertes Gesellschaftsbild. Das zeigt sich schon im Ansatz der Aufgliederung: Von einer politischen Maxime, aus der das oberste Lernziel in seinen drei Dimensionen: Erkennen - Urteilen - Handeln (H. S. 9) mit ausgesprochener Priorität des Handelns gewonnen wird, gehen sie über zu einer Aufgliederung des Gesamtgebietes in "Lernfelder". Wenn man die etwas unklaren Ausführungen richtig versteht, strukturieren diese "Lernfelder" den Unterricht, indem sie als vorgebliche Sektoren der Gesellschaftserfahrung den Rahmen für die Einordnung von Lernsituationen geben. Denn die Wissenschaftssystematik ist als didaktisch ungeeignete Struktur deklariert. So hatte schon Eduard Spranger im Leiden an der modernen, wissenschaftsorientierten Welt seine "Heimatkunde" (10) gegen die Wissenschaftssystematik konzipiert als das "einheitliche, ungeteilte Ganze" (NW. S. IV). Aber das ist nur die eine Seite. Im politischen Ansatz der Rückbeziehung auf das Grundgesetz steckt ja notwendig das Prinzip der Selbstbestimmung, und man sieht es immer wieder an verschiedenen Stellen durchbrechen, aber rudimentär und nicht klar ausgewiesen (H. S. 7). Die Wissenschaftsfeindlichkeit des Ansatzes wird durchkreuzt von einer nicht näher reflektierten, selektiven Aus- [/S. 39:] geliefertheit an Wissenschaft. Die Lernfelder sind ja keineswegs Erfahrungszentren; sie sind im Grunde selbst Wissenschaftsdisziplinen, die das komplexe Erfahrungsfeld bereits abstrahieren: Sozialisationsforschung - Wirtschaftswissenschaften - und zwei Disziplinen der Politikwissenschaft: Innere Politik und Internationale Beziehungen. So stellt sich heraus, dass im Grunde unter dem Anspruch des Primats politischer Didaktik der Begründung entzogene und willkürlich aus dem Bewusstseinsstand der Verfasser zitierte Wissenschaftssegmente soziologischer und teilweise wirtschaftswissenschaftlicher und politikwissenschaftlicher Provenienz sich hervordrängen. Steckt hinter dem Zurückdrängen der "Fächer" und der ihnen zugeordneten Wissenschaften also nichts als ein neuer "Streit der Fakultäten"?
Die Verfasser meinen es wohl nicht so. Sie unterwerfen die wirkliche oder die verlangte Erfahrung einer Vierteilung, die als Erkenntniszusammenhang deklariert das neue Einheitsfach strukturiert. Erst innerhalb dieser Vierteilung werden dann jeweils die Wissenschaften - Sozialwissenschaften, Geschichtswissenschaft, Geographie - nach ihrem möglichen didaktischen Wert befragt, sie werden zu "Arbeitsbereichen" oder zu "Aspekten". Ob sie selbst lernzielbestimmend sein dürfen, wird im Hessenplan nicht ganz deutlich (H. S. 13); in NW wird es strikt abgelehnt, ganz im Sinne der unten zu zeigenden Tendenzverschiebung (NW. S. 11).
So anspruchsvoll also diese Richtlinien mit einem scheinbar ganz neuen Ansatz daherkommen - so hilflos verwirrt ist die Grundkonzeption.
Wie nimmt sich nun in diesem Rahmen der "didaktischen" Vorentscheidungen der "Arbeitsschwerpunkt Geschichte" aus?
Die Lektüre der Ausführungen zum Arbeitsschwerpunkt Geschichte hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Der Sprachgestus reklamiert einen erheblichen Anspruch der Selbstgewissheit über das, was Geschichtsunterricht und [/S. 40:] Geschichtswissenschaft sein müssen und nicht sein dürfen; diesem Anspruch kontrastiert merkwürdig die verworrene Gedankenführung und die strukturelle Unklarheit der Aussagen sowie die offensichtlich weithin fehlende Sachkompetenz der Verfasser hinsichtlich des wissenschaftlichen und theoretischen Hintergrunds ihrer Behauptungen. Es muss wohl in der Tat eine rein "politische" Entscheidung des Kultusministeriums gewesen sein, Fachwissenschaftler und Fachdidaktiker von der Erarbeitung auszuschließen (s. u. Anm. 20). Politisch deuten könnte man auch die Ambivalenz der Formulierungen, die sich genauer Festlegung durch einen assoziativ reihenden Stil entzieht ("nicht allein", "darüber hinaus", "auch"). Die Wichtigkeit eines solchen Papiers verlangt eigentlich eine Satz für Satz fortschreitende genaue Analyse von Inhalt und Sprache: das aber wäre ein Kommentar, der den Umfang der Richtlinien übertreffen würde. Hier können nur einige Bemerkungen zu wesentlichen Punkten gemacht werden.
Volle Zustimmung kann die Formulierung der "zentralen Aufgabe" finden, "ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein aufzubauen" (H. S. 21); nur ist diese Formulierung für sich eine Leerformel und besagt nicht viel anderes als etwa die ältere Zielforderung des "historischen Verständnisses". Es kommt also alles darauf an, wie diese begründet und wie sie nach diesem Ansatz angegriffen werden soll.
Wie sieht ein solches Geschichtsbewusstsein aus? Wie kommt es zustande? Da sind zunächst die Abgrenzungen: der Angriff gegen eine antiquarische Geschichtsauffassung, die meint, "objektiv gesicherte Daten und Tatsachen, die unabhängig von unserem Bewusstsein, von unserer jeweiligen gesellschaftlichen Interessenlage existieren", als abgeschlossene Vergangenheit repräsentieren zu können (H. S. 19). Das hier angesprochene, sehr komplizierte erkenntnistheoretische Problem, das seit dem Nominalismus-Realis- [/S. 41:] mus-Streit des Mittelalters geführt wird, ist für die Verfasser gelöst. "Die in letzter Zeit intensiv geführte erkenntnistheoretische Diskussion" habe eine solche Vorstellung als "objektivistischen Irrtum" erwiesen. Diese Bemerkung ist angesichts der differenzierten und keineswegs abgeschlossenen Auseinandersetzung mindestens spaßig (11). Offenbar kennen die Vf. das Problem nicht, sonst könnten sie nicht Banalitäten als Erkenntnisstand ausgeben. Da waren alte Didaktiker kenntnis- und gedankenreicher. Sie unterschieden sehr wohl zwischen der Geschichte selbst, die ohne unser Zutun existiert und von der wir nicht nur in bestimmter Absicht geschriebene, ideologieverdächtige Quellen ("Tradition"), sondern auch "Überreste" haben - und unserem Wissen von Geschichte, das in einem schwer zu analysierenden Oszillationsprozess zwischen der Überlieferung und ihrer Deutung entsteht (12). Auf einen salto mortale vom "objektivistischen Irrtum" in eine präsentistische Instrumentalisierung von Geschichtsbewusstsein lässt sich die anspruchsvolle zentrale Aufgabe nicht begründen. Das Muster der Ideologiekritik schlägt hier überall durch, und zwar in seiner vulgären Form, die sich der Untersuchungen der Wissenssoziologie oder der Arbeiten über das Problem der "Ideologie" nicht mehr versichert. So ist Geschichte als Bewusstsein stets nur Geschichte für uns, klassen- oder schichtenspezifisch, interessegebunden verstanden, im Dienste irgendeiner Absicht, Legitimierungsmaterial (H. S. 27).
Nun bleibt nicht aus, dass die Verfasser bei dieser Sicht auf das alte Problem des Relativismus stoßen. Gibt es denn überhaupt keine mindestens relativ gültigen Aussagen über die Vergangenheit? Bezeichnend ist nun, dass nicht dieses Problem an sich ernst genommen wird, sondern nur die Tatsache oder die Vermutung zählt, dass die Schüler bei einer solchen Geschichtssicht jedes Interesse an der Geschichte verlören. Da das aber nun nicht sein darf, weil ja Aussagen über Geschichte politische Kampfmittel sind, muss also ein Ausweg gefunden werden. Und nun bietet sich die Geschichtswissenschaft an: mit Hilfe ihrer wissenschaftlichen Methoden ist eine Überwindung der Beliebigkeit möglich; Aussagen müssen der wissenschaftlichen Quellenkritik standhalten (H. S. 20). [/S. 42:] Zwar bleibt unerfindlich, wieso die wissenschaftliche Quellenkritik unter den sonst hier gemachten Voraussetzungen in der Lage sein soll, die allgemeine Ideologiegebundenheit zu durchbrechen. Hier springt man aus dem einen theoretischen Zusammenhang in den anderen. Nachdem man zunächst einen halb rezipierten Habermas vorstellte und die generelle Interessegebundenheit der Erkenntnis nachdrücklich vor Augen rückte, greift man nun zurück auf das Prinzip der Wertfreiheit der Wissenschaft und bietet ein Stückchen Max Weberschen Gedankengutes: Geschichtliche Reflexion kann keineswegs Entscheidungen vorwegnehmen, aus ihr sind nicht Handlungsanweisungen abzuleiten; sie kann aber, indem sie die Bedingungen gegenwärtiger Verhältnisse erhellt, zur Rationalität der Entscheidungen beitragen (H. S. 20).
Der Leser, der auch dieser Meinung ist, fragt sich verwundert, was denn nun gilt und wie eins zusammen mit dem anderen gelten soll. Einerseits wird die Wissenschaft dem Interesse nachgeordnet, andererseits als Kritikinstanz davon getrennt. Ist es einfach eine unklare Position, die nicht konsequent auf das Denkmuster setzt, dass jede Wissenschaft letztlich nichts anderes sei als Politik? Von dieser Denkform her ließe sich ja das "Jakobinische" Didaktikmodell "rechtfertigen". Oder ist es so, dass lediglich die für sich und in ihrer Begrenzung richtige Erkenntnis der Standortgebundenheit und Instrumentalisierbarkeit historischer Aussagen hier als didaktisches Prinzip verabsolutiert wird?
Man wird das letztere annehmen dürfen. Aber es hat fatale Konsequenzen. Denn nach der Feststellung, dass die Geschichtswissenschaft die Verfahren liefere, die interessengebundene Beliebigkeit von Aussagen auf ihre Berechtigung zurückzuführen, müsste konsequenterweise nun entwickelt werden, wie es möglich ist, Schüler die Grundelemente dieses kritischen Verfahrens handhaben zu lehren, damit sie instrumentalisierten Geschichtsaussagen gegenüber nicht hilflos bleiben. Denn was sonst wäre Befähigung zu "reflektiertem Geschichtsbewusstsein", als die Mittel der Reflexion anwenden zu lehren? Genau das geschieht aber nicht. Die Aussage über die Geschichtswissenschaft als kritisches Verfahren [/S. 43:] bleibt folgenlos. Der Gedankengang pendelt um diese Konsequenz herum und gerät wieder in das Gleis der unausweichlichen Ideologiegebundenheit aller Erkenntnis. So kann man auch nirgends sehen, wie nach diesem Konzept ein didaktischer Weg zu finden sein soll, der zur "zentralen Aufgabe" hinführt. Statt dessen werden dann fragwürdige Vermutungen über Erwartungshaltungen der Schüler geboten, die als didaktische Ausgangspunkte dienen sollen: nun gut, aber wozu Ausgangspunkte, wenn kein Weg zum Ziel führt?
Ganz deutlich muss eingewandt werden: ein didaktischer Ansatz, der versäumt, Fähigkeiten zu entwickeln, die es erlauben, historische Verhältnisse überhaupt erst einmal soweit wie möglich objektiv - d. h. quellen- und standortkritisch - für sich zu untersuchen und aufzunehmen, kann nicht zur Rationalisierung politischer Entscheidungen beitragen. Die zusammenfassend formulierten Aufgaben am Schluss hängen in der Luft (H. S. 30).
Man geht wohl nicht fehl, wenn man das Entfremdungsverhältnis, in dem die Verfasser zur Wissenschaft stehen, für diese eigentümlich unklaren Verwirrungen des didaktischen Ansatzes verantwortlich macht - warum sonst scheuen sie im Arbeitsbereich Geschichte vor den Folgerungen zurück, die sich aus der eigenen Behauptung ergeben, die im Arbeitsbereich Sozialwissenschaften wenigstens annähernd anerkannt sind: nämlich die Wissenschaft zu befragen, was sie "zur Vermittlung von erschließenden Kategorien und grundlegenden Erkenntnissen beizutragen" habe- wenngleich auch hier diese Kategorien "einer didaktischen Überprüfung" unterzogen werden sollen. Ein seltsamer Gedanke: Didaktik als Metawissenschaft, die wissenschaftliche Kategorien an "Erfahrungen der Schüler" prüfen will (H. S. 13)!
Es ist eine wichtige und im Lernprozess zu thematisierende Einsicht, dass die Gegenwart und ihre Verhältnisse nichts unabänderlich Gegebenes sind, sondern im historischen [/S. 44:] Prozess von Menschen herbeigeführt und also nur ein Moment dieses Prozesses sind. Zu Recht wird dem Arbeitsbereich Geschichte zugewiesen, "Veränderung erfahrbar zu machen" (H. S. 23). Wenn in den gesamten Richtlinien nun immer wieder das Prinzip Veränderung sehr stark betont wird, man also annehmen darf, dass unter dem Primat des politischen Ansatzes ein Verhalten bewirkt werden soll, das die Gegenwart überwindet, so wäre nun dringend erforderlich - unter dem Lernziel der Rationalisierung von Entscheidungen durch geschichtliche Reflexion -, dass dieser zentrale Begriff nicht einfach immer wieder formal wiederholt würde. Veränderungen in der Geschichte können vielfältiger Art sein. Nicht immer ist von vornherein zu sagen, inwieweit sie Progression (unter dem Postulat des Demokratie- und Selbstbestimmungsgebots), inwieweit sie Regression sind. Veränderung an sich kann fragwürdig sein. Diese Ambivalenz von Veränderung, von der die Geschichte so ausdrücklich zu sagen weiß, kommt nirgends in den Blick. Zwar heißt es richtig, man dürfe keine "isolierte Erfahrung von Veränderung" vermitteln - aber was heißt das genau? Man kann vermuten, dass die an anderer Stelle ausdrücklich erwähnte historische Komplexität, "die Vielschichtigkeit der Bedingungen", Veränderungen als Gesamtphänomene verständlich machen soll (H. S. 24), dass die Vielschichtigkeit es verbietet, durch Vereinfachungen eine "unwandelbare Gesetzmäßigkeit" vorzutäuschen, die von der "vielschichtigen historischen Analyse" befreie (H. S. 24). Wenn das ernst gemeint ist, müssten wiederum die Instrumente solcher Analyse didaktisch thematisiert werden. Aber die folgenden Fragestellungen gehen über die Grundanalyse hinweg und bezeichnen wieder genau die Interessegebundenheit von Veränderungen allein: ihre Bedingungen, Möglichkeiten, Richtungen - der Bestand gesellschaftlicher Wirklichkeit, in den sie eingreifen - werden an sich nicht ernst genommen. Man hat den Verdacht, dass der Begriff "Veränderung" von vornherein positiv im Sinne "gesellschaftlicher Weiterentwicklung" interpretiert wird.
Er verstärkt sich durch die Art, wie der Begriff Kontinuität verwendet ist. Er sei mitgesetzt mit dem Begriff Verän- [/S. 45:] derung - aber wie? "Im Unterricht" stelle sich Kontinuität her, "indem nach Bedingungen für Veränderung gefragt wird" (H. S. 23). Das bleibt Behauptung. Der Lehrer möge sie verstehen und auf seine Weise lehren, wie solche Bedingungen fassbar sind. Dass auch der Begriff Kontinuität ambivalent ist, dass Kontinuität ebenso sehr Antrieb wie Hemmnis von Veränderung sein kann - das ist gar nicht im Blick. Wie soll aber bei so unklaren Schlüsselbegriffen die hohe Forderung an Lehrer und Schüler eingelöst werden, die Kriterien der Stoffauswahl selbst zu "thematisieren" - ein richtiger Anspruch; nur, wenn er mit unzulänglichen Mitteln erfüllt werden soll, wird er schlimmere Wirkungen zeigen als das als "ahistorisch" beschriebene Kontinuitätsbewusstsein, das aus einem chronologischen Durchgang erwachsen soll (H. S. 23).
Die Ablehnung des "chronologischen Durchgangs" ist inzwischen eine allgemein verbreitete Forderung; man kann sie unterstützen; nur muss man wissen, dass damit ein dem Prinzip der Veränderung querlaufender Ansatz gewählt wird. Und so geht es auch gar nicht um Ablehnung der Chronologie schlechthin: Alle Unterrichtsthemen dieses Plans folgen dem Prinzip der "relativen Chronologie", was wohl heißen soll, dass der Unterricht Schwerpunkte setzt und Zwischenräume auslässt. Nur, das tat der Geschichtsunterricht schon immer. Und dass chronologisches Vorgehen Gegenwartsbezug nicht ausschließt, dass Gegenwartsbezug eine Sache der Fragestellung ist, wissen die Verfasser an anderer Stelle selbst. Verwechselten sie vielleicht den Aufbau mancher Schulbücher mit dem Unterricht?
Der Angriff gegen den personalisierenden Geschichtsunterricht ist ein Scheibenschießen auf Pappkameraden. Wenn ein Lehrer heute noch so verfährt, helfen auch keine neuen Richtlinien. Aber die Begründung für diese Ablehnung ist nun wieder bezeichnend für den gesamten Ansatz: Nicht weil ein solcher Unterricht den geschichtlichen Sach- [/S. 46:] verhalten nicht gerecht wird, also objektiv falsch ist - oder besser: insofern er für bestimmte Zeiten in unterschiedlichem Grade objektiv falsch ist -, ist er abzulehnen; abzulehnen ist er, weil er dem politischen Erziehungsziel widerspricht, weil er "das Gefühl individueller Ohnmacht verstärkt" (H. S. 25). (Tut er das wirklich, gibt er nicht vielmehr eine falsche Vorstellung von individueller Macht?) Nicht das wissenschaftlich zu prüfende Wahrheitskriterium zählt, sondern die "Auswirkung" (H. S. 25). Heißt das auch, dass ein Geschichtsunterricht, der erwünschte politisch-didaktische Wirkungen hat, eben deshalb schon gerechtfertigt ist? Das passte vortrefflich zum instrumentalisierten Begriff des Geschichtsbewusstseins: es dient dazu, "Urteile und daraus folgende Entscheidungen abzusichern" (H. S. 27).
Die Ablehnung des "thematischen Längsschnittes" wird mit guten Gründen gerechtfertigt. Solche Längsschnitte isolieren in der Tat Einzelphänomene, die nur im "gesellschaftlichen Kontext" gesehen werden sollten. Wissen die Verfasser, wie schwer diese Forderung, wird sie ernst genommen, einzulösen ist? Sie müssten es spätestens bei der Konstruktion der eigenen Unterrichtseinheiten gemerkt haben. Was sie dort tun, ist das Musterbeispiel thematischer Längsschnitte unter den vier Lernfeldern; zwar wird im allgemeinen Teil das unbehagliche Gefühl, gegen eigene Prinzipien zu verstoßen, noch durch alibihafte Hinweise auf herzustellende Zusammenhänge verdrängt (H. S. 23, 28 f.). Dann schwindet es mehr und mehr. Man lese im 4. Lernfeld etwa die Hinweise zur Behandlung des Krieges oder der Stellung des Militärs (H. S. 295 f.). Und wie soll in der 5./6. und 7./8. Jahrgangsstufe zu den thematischen Längsschnitten zum Erziehungswesen der gesamte Kontext geliefert werden?
Richtlinien sind keine Theorie des Geschichtsunterrichts, keine Manifeste guter Meinung oder hübscher Vorstellungen. Sie haben die Pflicht des Realitätsbezuges. Sonst sind sie intellektuell unredlich, indem sie Wunschbilder gegen die Wirklichkeit ausspielen. Es muss die Frage nach der Stundenzahl erlaubt sein, die in diesem Fächerverbund für den historischen Arbeitsbereich zur Verfügung stehen soll. [/S. 47:] Solange, wie in NW, im Höchstfall insgesamt vier Wochenstunden in den Gesamtschulen, in Realschulen und Gymnasien eher weniger Stunden für das gesamte integrierte Fach Gesellschaftslehre angesetzt sind, wird allein aus pragmatischen Gründen über den didaktischen Ansatz und seine Ausführungen in Teil B nicht mehr zu reden sein - es sei denn, man habe gar nicht verstanden, was zur Erarbeitung der genannten Einsichten gehört. Die Materialhinweise in Teil B und die Ankündigung in der Vorbemerkung S. 5 lassen allerdings Schlimmes befürchten.
Hier herrscht zunächst eine fröhliche Selbstgewissheit: Beschäftigung mit Geschichte kann sich nur legitimieren (vor wem? dem gesunden Gesellschaftsverstand?) "durch einen Nachweis [!] ihrer Beziehung zu den jeweils relevanten politisch-gesellschaftlichen Problemen" (H. S. 19). Wer aber entscheidet darüber, was relevant ist? Die Schülererwartung? Die wirkliche oder die, die er haben sollte? Wo ist hier der Bezug auf eine eindeutige Gesellschaftsanalyse, die es erlauben würde, auf diese Weise gesichert in die Geschichte zurückzufragen? Angesichts der wissenschaftstheoretischen Diskussion über "Relevanz" kann man hier von bloßem Gerede sprechen, ohne unhöflich zu werden (13). Es herrscht hier ein krasser und unreflektierter Neopositivismus. So geht's, wenn man die Tradition der Wissenschaft für sich nicht ernst nimmt und nur noch als Maßnahmen zur Interessensicherung begreifen kann - weder die sog. "bürgerliche" noch die "marxistische" mit ihren Spielarten, die weiß, dass gegenwärtige Veränderung nur zu erkennen und zu beurteilen ist durch eine Positionsbestimmung der Gegenwart im Gesamtfeld der Geschichte. So kann nicht überzeugen, wenn von "wechselseitiger Verschränkung von Gegenwart und Geschichte" gesprochen wird (H. S. 21): ist doch auch hier Geschichte nicht als Geschichte, sondern nur als Wirkung auf die Gegenwartsfragen gemeint.
Wäre man nun konsequent, müsste man einen präsentisti- [/S. 48:] schen Zugriff entwickeln. Aber sogleich schlägt der Gedankengang wieder Haken. Die Ausführungen S. 21 sind geeignet, den Leser vollends zu verwirren. Nachdem man liest, was der Gegenwartsbezug nicht heißen kann, nachdem eine unverständliche didaktische Aporie konstruiert, der chronologische Durchgang sowie der thematische Längsschnitt abgelehnt sind, kommt dann die Erklärung: "unmittelbar erfahrene Verhältnisse in ihren historischen Bedingungen" müssten "fassbar" werden (H. S. 23). Da sind denn nun wieder die Lernfelder als Gebiete gesellschaftlicher Erfahrung zur Hand und definieren den Gegenwartsbezug: Der Schüler "erfährt" Erziehung, Wirtschaft, öffentliche Aufgaben und zwischengesellschaftliche Beziehungen. In dieser Vierteilung ist die Geschichte zu befragen, das gibt Gegenwartsbezug (H. S. 28)!
Im Grunde ist hier nichts anderes gesagt, als dass der historische Ansatz struktur- und sozialgeschichtlich aufzufassen ist - nur, dass nun die Vierteilung in die Lernfelder die Zusammenhänge zerschneidet, die man doch herstellen möchte. Eine sektorielle Typologie von Gesellschaften ist eigentlich gemeint - und die Ausführungen in Teil B bestätigen das.
Dieser Art von "Gegenwartsbezug" liegt ein soziologisch-systematischer Zugriff auf die Geschichte zugrunde: eine Erscheinung, die durchaus ihre partielle Berechtigung auch in der Wissenschaftsentwicklung hat. Nur kommt in der konkreten Ausfüllung dieses Ansatzes gerade das Prozesshafte der geschichtlichen Welt zu kurz. Nirgends sind die bedeutenden Wandlungen von Gesellschaft ausdrücklich thematisiert und in ihrer Vielschichtigkeit zum Unterrichtsgegenstand geworden; vielmehr reiht sich statisch Bild an Bild - zwar Andersartigkeit, aber nicht eigentlich Veränderung zeigend. Es ist eigenartig, dass die bedeutenden Revolutionen nirgendwo in ihrem ganzen Umfang zum Thema werden - mit einer Ausnahme: der industriellen Revolution in England, die aber auch nur sektoriell behandelt werden soll.
Damit bleibt ein Zentralbegriff der Richtlinien dort unabgedeckt, wo er allein auszufüllen wäre, im historischen [/S. 49:] Bereich. Die Lernfelder erweisen sich als ungeeignet, geradezu als hemmende Begrenzungen für die Aufarbeitung historischer Erfahrung von Veränderung ebenso wie für die historische Erkenntnis von Strukturen. Akzeptabel als vorläufige heuristische Aspekte bei der Erschließung von gesellschaftlichen Zusammenhängen, werden sie als unterrichtsorganisierende Grenzen zum Hindernis von Erkenntnis.
Diese Hinweise mögen genügen, um die Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten des grundsätzlichen Ansatzes der Richtlinien zu zeigen. Man muss fragen, in welche der sich kreuzenden Richtungen sich die Praxis bewegen wird, welche Dynamik in diesem Knäuel von Setzungen liegt. Der Blick auf die Rahmenlehrpläne für die Gesamtschulen in NW, die diese Richtlinien ab- und fortschreiben, zeigt eine bereits realisierte negative Möglichkeit der Veränderung und Interpretation dieses Ansatzes.
Das anfangs bereits konstatierte Gefälle von den Rahmenrichtlinien Hessens zu den das hessische Vorbild kopierenden Rahmenlehrplänen NW's hat, wie sich beim Detail-Vergleich zeigt, zu einer Erosion der differenzierten und auf die fachwissenschaftliche Diskussion wenigstens noch hinweisenden Aussagen des Hessen-Plans geführt. In diesem Erosionsprozess sind dabei mehr als nur Facetten abgeschliffen, Nuancen eingeebnet worden; an entscheidend wichtigen Stellen sind nicht nur Vergröberungen und Simplifikationen, sondern auch substantielle Veränderungen festzustellen. Freilich hat nicht allein die Widersprüchlichkeit der Hessen-Richtlinien sich einem radikalen Zugriff nur zu leicht dargeboten; es liegen außerdem Tendenzen in ihnen selbst, die im Maximalsinn auszuziehen geradezu provozieren mussten.
Wenn schon der "Differenzierung der allgemeinen Lern- [/S. 50:] ziele unter fachspezifischen Aspekten" im Hessen-Plan in der Hauptsache nur eine negative Funktion zugewiesen wird, nämlich dies, zu verhindern, "dass bei Unterricht in Einzelfächern die angestrebten Erkenntniszusammenhänge getrennt werden... .", dann braucht man sich nicht zu wundern, wenn die gröberen Planer in NW die fachspezifischen "Arbeitsschwerpunkte" Hessens überhaupt aufgeben und stattdessen nur noch "fachspezifische Aspekte" auf die soziologische Leitschiene projizieren. Die hessischen Aussagen zur Differenzierung verschärfend fügen sie hinzu: "die in den einzelnen fachspezifischen Aspekten formulierten, an der obersten Zielsetzung orientierten Ziele dürfen nicht als unterrichtsbezogene Lernziele missverstanden werden" (NW. S. 11). Was sind sie dann - versehentlich stehen gebliebene Reste eines Denkens, das sich erst auf dem Wege der Emanzipation von Wissenschaft befindet?
Die Minderung der spezifischen historischen Gewichte wird bereits an der im Vergleich mit dem hessischen Vorbild sofort ins Auge fallenden beträchtlichen Verkürzung der grundlegenden Ausführungen zum "Historischen Aspekt" erkennbar (NW S. 15-20, H., S. 18-30).
Dass die Geschichtswissenschaft im allgemeinen, ihr inzwischen fortgeschrittener wissenschaftstheoretischer Diskussionsstand im besonderen im Bewusstsein der NW-Planer keine Rolle spielen, wäre weniger auffallend, hätten sie sich bei der Beschreibung des "Historischen Aspekts" wenigstens in den Hauptzügen an das Hessische Modell gehalten. Die Defizienz eines eigenen reflektiert-geschichtlichen Bewusstseins hat sie bei ihrem Willen zur Verselbständigung, zur Originalität, zur "Verbesserung" der Vorlage dazu gebracht, die im hessischen Grundsatzteil wenigstens intentional proklamierte Grundfunktion geschichtlicher Unterweisung, den Aufbau eines reflektierten Geschichtsbewusstseins (14), gänzlich aus dem Auge zu verlieren.
Auf die im Hessenplan erst am Ende eines langen Gedankenganges deklarierte "Funktion" der Geschichte läuft man in NW gleich am Anfang schnurstracks zu. Das Omelett wird serviert, ohne dass man zuvor die Eier zerschlagen und umgerührt hätte: "Die in der obersten Zielsetzung erhobe- [/S. 51:] ne Forderung nach Verwirklichung von Selbst- und Mitbestimmung muss in Beziehung gesetzt werden zum Bewusstsein der Betroffenen, d. h. wie sie ihre Möglichkeiten, diese Forderung zu realisieren, einschätzen." "Zur angemessenen Einschätzung dieser Möglichkeiten muss ein G/P-Unterricht unter historischem Aspekt anstreben:
So einfach ist das: Es werde Licht, und es ward Licht. Entweder haben wir es hier mit dem Selbstbewusstsein von Demiurgen oder mit den Schöpfern von Plänen zu tun, die die Sache nicht ernst nehmen bzw. nicht ernst nehmen können, weil ihnen selbst ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein abgeht. Dass sie ohne Kontakt mit der modernen Geschichtswissenschaft, ohne eine Ahnung davon, dass sie es hier mit einer historisch-kritischen Sozialwissenschaft zu tun haben würden, nicht in der Lage waren, Kategorien zu entwickeln, zeigt sich in den folgenden Detailausführungen zum "Individuelle(n) Geschichtsbewusstsein" (NW. S.15-17), zur "Veränderbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse" (NW. S. 17-19) und zu den "Voraussetzungen politischen Handelns" (NW. S. 19-20) auf eine makabre Weise: Es finden sich keine argumentativen Bemühungen wie noch im Hessen-Plan, sondern nur noch Setzungen. Die Instrumentalisierung der Geschichte hat sich gegenüber den hessischen Richtlinien noch verschärft - hier im allgemeinen Teil im Dienste vage bezeichneter gesellschaftlicher Zwecke; im unterrichtspraktischen Teil, wie noch zu zeigen ist, im Dienste einer eindimensionalen, Alternativen ausblendenden Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Das politisch-pädagogische Überzeugungsmodell wird zur Katechismusdidaktik. [/S. 52:]
"Individuelles Geschichtsbewusstsein" erscheint nicht als vorwissenschaftliche Erfahrung, die im Geschichtsunterricht zu rationalisieren wäre, sondern allein als Ergebnis von "Vorurteilen, Normen und emotionalen Einstellungen", die nicht nach Wahrheit und Begründbarkeit befragt werden und also von vornherein als Negativ-Syndrom gelten. "Einstellungen" haben eine individuelle und soziale Absicherungs- und Rechtfertigungsfunktion, die "überprüft" (S. 17) - mit anderen Worten: entlarvt - werden muss. Der Unterricht G/P hat mit diesem sog. Historischen Aspekt permanent falsches Weltbewusstsein zu destruieren. "Prüfungs"-Kriterium ist ein nebuloser Praxisbegriff.
Selbstverständlich sind Geschichtserfahrung, Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht an "erkenntnisleitende Interessen" angekoppelt (Habermas). Aber die Rückkoppelung auf die Geschichte führt die "disziplinierte Wahrheitssuche" (Rothfels), woher sie auch immer ansetzen mag, in der Begegnung mit sperrigen, unbequemen Tatsachen zu Urteilskorrekturen, ggf. zur Transzendierung der aus der Gegenwart mitgebrachten Begrifflichkeit. So vermag auch der marxistische Historiker dem "bürgerlichen" die Erkenntnis von Teilwahrheiten durchaus zuzugestehen und vice versa dieser jenem. Auf den Unterschied zwischen Genese und Geltung wissenschaftlicher Aussagen hat unlängst Thomas Nipperdey eindrücklich verwiesen (15). Von der in dieser Hinsicht emanzipatorischen Funktion eines reflektierten Umgangs mit der Geschichte ist in den Ausführungen zum "Historischen Aspekt" nirgends die Rede.
Sollten die vom Diktat einer totalen Ideologieverfallenheit der Historie betroffenen Lehrer und Schüler bewegt worden sein, jegliches Zutrauen in eine wie auch immer relative Möglichkeit objektiver, wahrer, durch Geschichtswissenschaft vermittelter Einsichten aufzugeben, so werden sie einige Seiten später von den NW-Rahmenplänen (S. 20) ohne jede Begründung auf das Gegenteil verpflichtet: Im Kapitel [/S. 53:] "Voraussetzungen politischen Handelns" erscheinen plötzlich "objektive Entwicklungstendenzen", "objektive Bedingungen", die man kennen muss und auf die hin das "subjektive Handeln" auszurichten ist, weil "historische Veränderungen aus dem Einklang von subjektivem Handeln und objektiven Bedingungen bewirkt werden" (S. 20). Wie man zu dieser "Kenntnis" (so heißt es im Text statt: Erkenntnis) gelangen kann, dass es dafür fachspezifische Methoden gibt, welcher Art sie sind und wie sie in Lernzielbestimmungen umgesetzt werden können, davon ist im Rahmenlehrplan keine Rede. (In einen generellen Lernzielimperativ übertragen, würde der zweideutige Gedankengang des Rahmenplans sich so darstellen: Du sollst Dein Handeln an objektiven Bedingungen orientieren, die Du zwar nicht selbst erkennen kannst, die Dir aber zur Kenntnis gebracht werden!) Auch an dieser Stelle enthüllt sich also ein Dezisionismus, für den die Geschichte nichts weiter als ein abrufbares Sortiment von Stützmaterialien ist.
Mit der im zweiten Abschnitt der generellen Ausführungen im NW-Plan der historischen Analyse zugeschriebenen Leistung, ein "Bewusstsein der Veränderbarkeit aller gesellschaftlicher Verhältnisse" zu bewirken, ist ein richtiger Sachverhalt herausgestellt, der dann aber sofort wieder durch Verabsolutierung pervertiert wird. Die Veränderung wird zum Fetisch, die Frage nach ihrer Vernünftigkeit bzw. Unvernunft kommt nicht in den Blick. Geschichtliche Sensibilität, die in der Lage ist, die "neuen Schnittlinien progressiver und bewahrender Interessen zu erkennen", wie sie der geschichtsbewusste Bundeskanzler jüngst in seiner Regierungserklärung für die "neue Mitte" forderte, ist bei den Verfassern der Lehrpläne G/P nicht zu entdecken. Infolgedessen fehlen völlig Lernziele, die sich auf die Einsicht gründen, dass unsere Gesellschaft im Laufe langer Geschichte in Kämpfen und Leiden errungene Dinge - Freiheiten etwa - nicht wieder verlieren darf, also bewahren muss. Es fehlt eben das Bewusstsein der Dialektik von Tradition und Fortschritt, das dem modernen "bürgerlichen" Historiker ebenso selbstverständlich ist wie dem marxistischen.
Dem Defizit an wissenschaftlich begründeten Elementen, [/S. 54:] die den Aufbau eines reflektierten Geschichtsbewusstseins zum Zwecke einer rationalen Einschätzung gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse konstituieren könnten, steht eine Summe von universalen didaktischen Postulaten gegenüber, die den intellektuell redlichen Lehrer, der sie im Unterricht realisieren soll, frustrieren oder empören werden. Dafür abschließend als Beispiel folgender Schlusssatz aus dem zweiten Kapitel des "Historischen Aspekts": "An der Analyse verschiedener Situationen soll der Schüler auch die Fähigkeit entwickeln können, jede Form von Abhängigkeit auf ihre Rechtfertigung zu befragen und die Abhängigkeit, die tatsächlich besteht, von derjenigen zu unterscheiden, die notwendig ist, um auf dem jeweils erreichten Stand aller wissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Möglichkeiten Existenz und Entwicklung der Gesellschaft und ihrer Individuen zu sichern." In dem hier verkündeten Lernziel einer omnipotenten Kompetenz (für Schüler!) meldet sich ein Anspruch, der entweder hybrid oder läppisch zu nennen ist. Mit einer solchen Donquichotterie (16) politischer Bildung wird die notwendige Emanzipation schon im Ansatz verfehlt. Nach der Lektüre solcher Passagen ist man versucht, die Rahmenlehrpläne endgültig beiseite zu legen. Dennoch sei ihr Anspruch am unterrichtspraktischen Teil (S. 29-131) exemplarisch überprüft; vielleicht dass hier die stillschweigende Korrektur überhöhter didaktischer Programmatik erfolgt.
Im folgenden sollen zunächst einige Bemerkungen zu der Aufbereitung historischen Materials in den hessischen Richtlinien gemacht werden, die sich ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit auf die Lernfelder I, III und IV beziehen. Im Lernfeld II - Wirtschaft - liegt der stärkste historische Anspruch der Richtlinien. Deshalb wird an diesem Lernfeld in einem zweiten Abschnitt noch einmal ein Vergleich der hessischen Richtlinien mit den NW-Rahmenplänen skizziert. [/S. 55:]
Es ist den Verfassern wohl bewusst, dass Erziehung und Schule nur aus dem Kontext der gesellschaftlichen Gesamtverhältnisse verstehbar sind. Wenn dennoch unter dem Lernziel der Einsicht in die Veränderbarkeit heutiger Sozialisationsformen die Erziehung für sich thematisiert wird - und zwar in kleinen Querschnitten von der griechischen Antike bis ins 19. Jahrhundert -, so geschieht das, was im grundsätzlichen Teil abgelehnt wird: eine Isolierung von nur noch als kurios erscheinenden vergangenen Erziehungsformen. Zwar soll - das wird sogar durch eine Graphik (H. S. 29) verdeutlicht - irgendwann in den beiden Schuljahren 5/6 durch Aufarbeitung der anderen Lernfelder doch ein Gesamtzusammenhang hergestellt werden: aber das Auseinanderreißen des Themas "antike Gesellschaftsformen" lässt genau das nicht zu, was die Verfasser als vielschichtige historische Analyse fordern (17). Es gilt für dieses Vorgehen das gleiche, was sie dem chronologischen Durchgang vorwerfen: der Stoff, den man später braucht, ist längst vergessen (H. S. 22).
Dieser Einwand gilt nun nicht etwa nur für dieses Beispiel; er trifft die Anlage des Unterrichts überhaupt. Sie verhindert eine Gesamtanalyse und erschwert gerade den wichtigsten Lerneffekt des Geschichtsunterrichts: die Erkenntnis der Interdependenz von politischen, sozialen, ökonomischen, kulturellen Faktoren. Die vorweg entschiedene Vierteilung der Aspekte lässt das eigentliche Lernpotential der Geschichte nicht oder nur sehr gebrochen zur Geltung kommen. Das im allgemeinen Teil proklamierte Strukturprinzip als Kern von Gegenwartsbezug wird damit wieder in Frage gestellt, um so mehr, als es ausdrücklich heißt, dass die Beispiele nicht in den Zusammenhang ihrer Zeit gerückt werden sollen (H. S. 61 f.). Damit wird Geschichte zum großen Raritätenkasten; weder Struktur noch Prozess werden erfahrbar. Das wird im vierten Lernfeld am krassesten deutlich: dort ist z. B. unter dem Aspekt "Krieg" nur noch abrufbares [/S. 56:] Beispielmaterial aufgeführt. Die großen Revolutionen sind nur noch "Beispiele", die sich "anbieten", die Rolle des Militärs zu erkennen (H. S. 297).
Dieser erste grundsätzliche Einwand wird noch verstärkt durch die Diktatur der Lernziele, die hier nicht in Wechselwirkung mit dem historischen Potential und seiner Aussagekraft einerseits, mit den Methoden rationaler Befragung des Materials andererseits entwickelt werden, sondern die vorweg verordnet sind. Auf diese Weise ist "lernzielorientierter Unterricht" denaturiert.
Es ist schlechterdings nicht einzusehen, warum die hier vorgelegten Konstruktionen einem Geschichtsunterricht vorzuziehen sein sollen, der in sozial- und strukturgeschichtlichem Zugriff z. B. "die Ablösung der ersten Demokratie in Deutschland durch den Faschismus" (H. S. 237) (18) als ein Thema aufgreift und es in seinen wichtigsten Aspekten zusammenhängend erarbeitet: Dann erst gewinnen z. B. besondere Erziehungsformen in Bünden und Schule, die wirtschaftlichen Verhältnisse, die politischen Institutionen und die politische Psychologie der verschiedenen Gruppen sowie die institutionellen Regelungen miteinander Aussagekraft für die Erkenntnis eines Prozesses regressiver Veränderung von Gesellschaft. Nur in diesem Kontext sind die Problematisierungen möglich, von denen man sich den Transfer historischer Einsichten in politische Reflexionsfähigkeit erhoffen kann.
Zerschlagung der bedeutenden historischen Themen und der sie konstituierenden Zusammenhänge in Manipelformation öffnet die Tür zur Manipulation. Man könnte einwenden, dass dies durchaus nicht der Fall sein müsste; dass eine Unterrichtsorganisation möglich sei, die doch durch Zusammenschiebung der historischen Themenstichworte zur Strukturanalyse vorstößt. Wenn das so ist, dann liegt es jedenfalls nicht im Ansatz der Richtlinien. Dass es nicht so sein soll, zeigt die sorgfältige Aufsplitterung von Aspekten; die gelegentlichen Hinweise auf Rückgriffe haben Alibifunktion. Dass es nicht so sein kann, zeigen nun die zitierten Materialien, die "als Grundlage für die Arbeit der Gruppen" gedacht sind (H. S. 5). [/S. 57:]
Damit ist ein Punkt berührt, der in doppelter Weise die Diskrepanz zwischen Grundsatzformulierungen und praktischer Ausführung betrifft. Richtlinien müssen ja nicht Literaturhinweise, Verweise auf Arbeitsmaterialien geben. Wenn sie es trotzdem tun, dann zeigen diese Hinweise besser als die Erörterungen über Grundlegung oder Ausführung des Unterrichts, welcher Bewusstseinsstand und welche Tendenz eigentlich hinter solchen Richtlinien stehen. Die Hinweise zu den einzelnen Themenstichworten sind ein Sammelsurium von Titeln, die, ungenau und unterschiedlich zitiert, Konzeptlosigkeit und mangelnden Informationsstand offenbaren; für wissenschaftlich ausgebildete Lehrer sind sie, an so anspruchsvoller Stelle veröffentlicht, ein Skandalon. Nicht nur fehlt die wichtigste wissenschaftliche Literatur zu den Abschnitten; es wird am keiner Stelle der Angaben zu geschichtlichen Themen die Literatur für die unterschiedlichen Zwecke (Lehrervorbereitung, Schülerreferate usw.) gewichtet. Wenn auf dieser Basis - die die Verfasser ausdrücklich als ihren Informationsstand bezeichnen (H. S. 5) - Unterricht gegeben wird, kann von "vielschichtiger historischer Analyse", wie sie gefordert wird, nicht die Rede sein. Wir ersparen uns, die Defizite anzuführen. Nur als Beispiel sei hingewiesen auf die Materialien zum Themenstichwort "Schule als Institution in historischer Sicht". Die Verfasser kommen zu der seltsamen Bemerkung, dass "konkrete Materialhinweise schwer zugänglich" seien. Nur Bungerts Buch, "Die Odyssee der Lehrerschaft" fällt ihnen neben Wilhelm Buschs "Lehrer Lämpel" ein (H. S. 67). Nun ist offenkundig, dass gerade zur Erziehungsgeschichte eine Vielzahl von leicht zugänglichen Quellensammlungen und neuerer Literatur vorliegt (19). Man darf gespannt sein, welches Material in "Auszügen" vorgelegt werden wird.
Dies ist ein weiteres Zeichen der Wissenschaftsfremdheit und der Unterordnung historischen Materials unter politisch fixierte Ziele. Mit gleichem Ergebnis kann man alle Hinweise zu Themen durchgehen - und es ist schon fast zu harmlos anzunehmen, dass sich in den Materialangaben wirklich der Informationsstand der Bearbeiter spiegelt (H. S. 5). Es ist nicht auszudenken, welche Manipulationsmöglichkei- [/S. 58:] ten über festgelegte Lernziele und selektierte Information, durch Lieferung von Unterrichtsmaterial und durch wissenschaftlich nicht mehr reflektierte, trotz verhüllender Sprache sehr massive "Parteilichkeit" in Richtlinienformulierungen sich anbieten, wenn das wissenschaftliche Studium der Lehrer allgemein auf sechs Semester beschränkt werden würde.
Die aufgeführten Materialien zeigen aber noch ein anderes Charakteristikum, das den Widerspruch zwischen allgemeinen Ausführungen und unterrichtspraktischem Teil deutlich macht. Als Materialien werden z. B. Lykurg für die Erziehung in Sparta, Parzival für ritterliche Erziehung angegeben und Heinrich Manns Roman "Der Untertan" (nach der Häufigkeit der Zitierung wohl die Standardlektüre der Verfasser über das 2. Kaiserreich) für bürgerliche Erziehung. Da man nun nicht annehmen kann, dass in den Klassen 5/6 Plutarchs Kunstform, seine "Interessen" und sein Aussagewille über eine Zeit, die für ihn mehr als ein halbes Jahrtausend zurücklag, erarbeitet werden kann und soll, bleibt der Schluss, dass die Verfasser dem "objektivistischen Irrtum" erliegen und die jeweiligen Bedingungen der Aussage, sobald sie nicht mehr allgemein reden können, vergessen. Es soll doch wohl die "Erziehung" Dietrich Heßlings, wie sie im Roman H. Manns "Der Untertan" beschrieben wird, als Material für die Wirklichkeit ausgegeben werden - sonst wäre ja der Hinweis auf das erste Kapitel unsinnig. Diese bewusst und mit bestimmter politischer Absicht kunstvoll stilisierte Biographie naiv als Quelle zu nehmen für die Erziehung am Ende der Bismarckzeit - das zeugt nicht von einem reflektierten Geschichtsverständnis. Nach dem eigenen Anspruch müssten die Schüler in der Jahrgangsstufe 5/6 diesen Roman in seiner politischen Tendenz im Jahre 1918 vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs des monarchischen Staates als eine politische Satire und Kampfschrift begreifen; selbst hochfliegender pädagogischer Optimismus wird ihnen das nicht zutrauen. Es ist nun zu ahnen, warum man auf die didaktische Aufbereitung fachwissenschaftlicher Methoden verzichtet: man kennt sie entweder nicht oder will sie nicht verbreiten, weil es dann nicht mehr möglich ist, Dichtung [/S. 59:] für Wahrheit auszugeben, anders ausgedrückt: vorgesetzte Lernziele zu erreichen. So fällt man hinter die vergangenen zweihundert Jahre der Wissenschaftsgeschichte zurück. Aber es war ja eine "politische" Entscheidung, Fachverbände und Hochschulen nicht zu beteiligen (20).
Wie eine solche Entscheidung sich in Unterrichtssteuerung umsetzen kann, die den Rückbezug auf die Fachwissenschaft durchkreuzt, soll durch einen letzten Hinweis noch einmal verdeutlicht werden. Die Materialhinweise zum Themenstichwort "Militär und Innenpolitik" wissen an Literatur außer der von Wehler herausgegebenen Aufsatzsammlung Kehrs nichts anzugeben, soweit es die innenpolitische Rolle des Militärs in Deutschland vor 1914 betrifft. Aber den bekannten Passus aus der Rede Oldenburg-Januschaus, den weiß man wohl und zitiert ihn wörtlich - das einzige Quellenzitat überhaupt -, bringt ihn als Unterrichtsmaterial handlich an den Lehrer heran: ohne Zitatnachweis (man könnte ja weiterlesen!), ohne Hinweis auf die kritische Reflexion dieser extremen Aussage im Verfassungskontext. Sie wird zum repräsentativen Zeugnis der inneren Struktur des zweiten Reiches verfälscht.
So sieht der Beitrag der Geschichte zum politischen Ziel dieses didaktischen Entwurfs aus, wenn man auf die praktischen Anweisungen sieht. Allerdings - das alles wird ja nur zur "Diskussion" gestellt (H. S. 298). Wie die Rahmenlehrpläne in NW ihr Muster in dieser Hinsicht noch übertreffen, soll am Lernfeld II gezeigt werden.
Da die moderne Industriegesellschaft die geschichtlichste von allen Gesellschaften ist, kann sie nicht ohne geschichtliche Strukturvergleiche und ohne Hilfe langfristiger Konstellationsanalysen begriffen werden; in soziologischer Beschreibung allein ist sie keineswegs erfassbar. Daraus folgt, [/S. 60:] dass die Befähigung zur Beteiligung an der permanenten Aufgabe der Humanisierung dieser Industriegesellschaft ohne ein historisch fundiertes Problembewusstsein nicht möglich ist.
Beim Versuch der didaktischen Strukturierung des Arbeitsbereichs Wirtschaft haben denn auch die Rahmenrichtlinien (Hessen) und Rahmenlehrpläne (NW) geschichtliche Teilstücke eingebaut - so etwa: "Stände im Mittelalter" (H. S. 150, 5./6. Jahrgangsstufe), "Klassen und Schichten im 19. Jahrhundert" (H. S. 150, 5./6. JgSt.) "Grundherrschaft" (H. S. 157 f., 7./8. JgSt.), "Entwicklung des städtischen Gewerbes" (H. S. 159 f., 7./8. JgSt.), "Industrielle Revolution" (H. S. 162-165, 7./8. JgSt.), "Aufbauphase der Wirtschaft nach 1945" (H. S. 181 f., 9./10. JgSt.). Die NW-Rahmenlehrpläne enthalten in der Übersicht über die Jahrgänge 5-10 (S. 92-94) vergleichbare Themenstichworte; eine Ausfaltung in "Lernzielzusammenhänge" liegt vorerst nur für den 5./6. Jg. vor (NW-Plan, S. 95-103).
Bei näherem Zusehen zeigt sich freilich, dass die Lernziele im vorhinein geschichtsfern festgelegt wurden. Erst nachträglich wird dann das jeweils als passend erscheinende historische Material abgerufen, so daß es nur eine Demonstrations-, aber keine Korrektivfunktion mehr erfüllt. Im Grunde stehen also auch hier wieder alle Ergebnisse des Unterrichts bereits von vornherein fest, die Lernziele sind die Leitschienen eines "statischen" Lernablaufs. Um einen dynamischen Lernprozess in Gang zu bringen, bedürfte es einer historisch-politischen Didaktik, die sich in einer gemeinsamen Anstrengung von Lehrenden und Lernenden um die Aufhellung von Fragen bemüht, so dass Resultate nicht durch Lernzieldiktate, sondern durch Verschränkung soziologischer und historischer Arbeitsmethoden zustande kommen. "Aspekte", die nichts anderes sind als zu politisch-didaktischen Zwecken vorfabrizierte Sehschlitze, eröffnen keinen Blick auf den Horizont der Geschichte - sie bringen nur noch isolierte, unverbindliche und unverbindbare Stücke zu Gesicht. [/S. 61:]
Über diese allgemeinen Feststellungen hinaus ist nunmehr nach der Realisierung des obersten Lernziels im konkreten Lernfeld/Arbeitsbereich Wirtschaft zu fragen. Der hessische Plan bemüht sich auch in diesem Fall um eine differenziertere Bestandsaufnahme der komplexen Lernzielzusammenhänge. Mit Recht wird bei der Problemausfaltung die Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik Deutschland ausführlich erörtert. Ihre kritische Betrachtung - hier "übrigens einmal in enger Verschränkung mit der historischen Genese" - schließt wesentliche Kategorien auf, Reformen und Alternativen werden anvisiert, ohne dass den Schülern etwa eine "Systemüberwindung" suggeriert würde - das Leitziel der Befähigung zur Selbst- und Mitbestimmung wird hier ernstgenommen.
Ganz anders verhält es sich bei der Planungsgruppe NW. Hier wird massiv indoktriniert. Ein milderes Urteil würde den Sachverhalt beschönigen. An dieser Stelle kann man auch nicht mehr von einem von Hessen nach NW laufenden Erosionsprozess sprechen, hier ist das hessische Modell schlechthin verfälscht worden. Die behauptete "Übereinstimmung mit den Grundzügen der Vorlage", die Behauptung einer lediglich "sektoriell bzw. punktuell modifizierte(n) Fassung" (NW, Vorbemerkungen, S. III) kann danach nicht mehr aufrechterhalten werden.
Während die hessischen Planer die Marktwirtschaft durchaus ernsthaft zur Debatte stellen, haben die Verfasser der NW-Pläne sie bereits - sozial hin, sozial her - in aller Stille hingerichtet und beerdigt. Nicht dass sie keine Freunde dieser Wirtschaftsverfassung sind, ist ihnen vorzuwerfen, sondern dass sie der Axiomatik des Lernbereichs G/P entgegen dem Gegner - um im Bilde zu bleiben - nicht öffentlich (d. h. im Unterricht) einen fairen Prozess machen, wozu außer Anklägern auch Verteidiger gehören. Mit der Verfahrensweise der NW-Rahmenpläne ist eine Grenze überschritten, jenseits derer eine wissenschaftliche Auseinandersetzung kaum noch möglich ist.
In den hessischen Rahmenrichtlinien wird im Lernfeld [/S. 62:] Wirtschaft bei der Beschreibung des "Lernzielzusammenhangs 1: Voraussetzungen und Bedingungen der Produktion" die Frage der Bedürfnisbefriedigung und im Zusammenhang damit die der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel erörtert und folgende Aufgabe gestellt: "Bezogen auf die Wirtschaftsverfassung der BRD müsste dabei auch geprüft werden, inwieweit die soziale Marktwirtschaft in Theorie und Praxis gewährleistet, dass die Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse (z. B. im Infrastrukturbereich; Schulbau, Krankenhäuser, Kindergärten; Arbeitszeitverkürzung) zum Maßstab von Produktions- und Investitionsentscheidungen wird" (H. S. 134).
Dieser Satz wurde in den Rahmenlehrplänen von NW wie folgt geändert: "Bezogen auf die Wirtschaftsverfassung der BRD müsste dabei auch geprüft werden, inwieweit das Prinzip der Gewinnoptimierung in einer erwerbswirtschaftlich bestimmten Wirtschaftsordnung erschwert bzw. verhindert, dass die Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse (z. B. Schulbau, Krankenhäuser, Kindergärten) zum [als?] Maßstab bei Produktions- und Investitionsentscheidungen im notwendigen Umfange berücksichtigt wird (LZ. 1-14)" (NW. S. 81).
Die hier vorgenommene Umpolung bedarf keines weiteren Kommentars. Ihr Sinn ist eindeutig. Folgerichtig ist dann auch die völlige Eliminierung des im Hessen-Plan ausführlich erörterten Spannungsfeldes "Soziale Marktwirtschaft". Denn auf die Konkretisierung der oben geforderten "Prüfung" käme es nun an - gemäß der Selbstbestimmungsnorm, gemäß dem Gebot der Wissenschaftlichkeit, gemäß der Fundamentalforderung jeder rationalen Didaktik. Anstelle der in den hessischen Richtlinien auf zwei Druckseiten skizzierten historischen und ökonomischen Probleme der Marktwirtschaft (S. 136 und 137) enthält der NW-Rahmenplan nur noch acht Zeilen darüber, in denen der konkrete Gegenstand in leeren Redensarten verflüchtigt ist. Warum diese merkwürdige Zurückhaltung? Es gibt nur zwei mögliche Antworten: entweder weil die Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik nicht einmal mehr einer Debatte für wertgehalten wird oder aus Tarnungsgründen. [/S. 63:]
Die Prämissen und die Konsequenzen der Umpolung werden in Einschüben versteckt, die sich erst bei einem sorgfältigen Vergleich der Lehrpläne erkennen lassen. Dafür einige hervorstechende Beispiele:
Die hessischen Rahmenrichtlinien formulieren unter der Überschrift "Konflikte und Krisen" (Lernzielzusammenhang 3): "Die Beschreibung wirtschaftlicher Abläufe wird erst lernrelevant, wenn die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen miteinbezogen werden, durch welche die jetzige und spätere Stellung des Schülers im Wirtschaftsprozess bestimmt wird (Arbeit - Konsum - Freizeit). Da dieser Zusammenhang auf ein zentrales Moment gesellschaftlicher Interessenauseinandersetzung verweist, müssen Erklärungsmodelle für wirtschaftliche Vorgänge daraufhin untersucht werden, welche Vorstellungen sie über deren Voraussetzungen, Abläufe und Auswirkungen vermitteln" (H. S. 130).
Dieser Absatz ist in den NW-Plänen durch mehrere Einschübe (hier zwecks Kenntlichmachung kursiv gesetzt) in einen anderen Aggregatzustand gebracht worden. Der NW-Text lautet: "Die Beschreibung wirtschaftlicher Abläufe und ihrer widersprüchlichen Entwicklung wird erst lernrelevant, wenn... Da dieser Zusammenhang auf ein zentrales Moment gesellschaftlicher Interessenauseinandersetzung (Kapital - Arbeit) verweist, müssen die Erklärungsmodelle, die in diesem Bereich auftreten, auf ihren Rechtfertigungscharakter hin untersucht werden" (NW. S. 82).
Im Anschluss an den oben zitierten Hessen-Text werden dort Untersuchungsaufgaben formuliert, u. a. sollen untersucht werden: "monokausale Erklärungen sozioökonomischer Zusammenhänge (z. B. Schuld an inflationären Tendenzen ist allein die Währungspolitik der Regierung, Lohn-Preisspirale...)." Die NW-Planer formulieren die Untersuchungsaufgabe in folgender Weise um: "Erklärungsversuche; die sozioökonomische Zusammenhänge in voneinander isolierte Teilbereiche auflösen", um dann in einer in den hessischen Richtlinien nicht enthaltenen längeren Darstellung die Wettbewerbsthese ad absurdum zu führen und den Manipulationscharakter von Erklärungen aufzuweisen, durch [/S. 64:] welche "der Gegensatz zwischen Unternehmerinteressen und den Interessen der Arbeitnehmer ... verdeckt" wird (NW. S. 82 und S. 83).
Eingeschoben in die hessische Vorlage haben die NW-Planer weiterhin die folgenden Lernziele 5 und 6: "5. lernen, dass Geld und Sachvermögen nur durch Arbeit im Produktionsprozess entsteht und sich vermehrt; 6. lernen, dass ein untrennbarer Zusammenhang besteht zwischen den Formen der Produktion und der Verteilung bzw. Aneignung der wirtschaftlichen Güter."
Neben den Einschüben finden sich im NW-Plan charakteristische Auslassungen wie z. B. folgende: Das erste Lernziel in Hessen lautet: "erkennen, dass die Grundstrukturen gesellschaftlicher Wirklichkeit ökonomisch mitbedingt sind (auch unter Berücksichtigung der Mobilität sozialer Gruppen)" (H. S. 134). Im NW-Plan heißt es stattdessen: "erkennen, dass . . . ökonomisch bedingt sind" (NW. S. 85). Mit einem Federstrich ist die in Hessen vertretene Interdependenz der gesellschaftlichen Bereiche aus der Welt geschafft und an ihrer Stelle die Priorität der ökonomischen Faktoren gesetzt worden.
Die hessischen Richtlinien wollen im Lernzielzusammenhang 3 u. a. ausdrücklich untersucht wissen "die Behauptung, bei einer Sozialisierung der Verfügungsgewalt würde die Wirtschaft krisenfrei funktionieren" (H. S. 139). Diese Aufgabe fehlt im NW-Plan ebenso wie der im Lernfeld 3 des Hessen-Plans (Öffentliche Aufgaben) skizzierte kritische Ansatz, der nicht nur die gesellschaftlichen Binnenverhältnisse (BRD), sondern auch die gesellschaftlichen Gegenbilder unter die Lupe genommen haben und den Schülern bewusst machen will, was es bedeutet, "wenn in einer Gesellschaft die für die Schüler meist selbstverständlichen institutionellen und verfassungsrechtlichen Sicherungen zur Wahrnehmung unterschiedlicher Interessen fehlen (Pressefreiheit; Mehrparteiensystem; Gewerkschaften; unabhängige Rechtsprechung u. a.)" (H. S. 196).
Ausgelassen sind in den NW-Rahmenplänen. schließlich die hessischen Lernziele 17 und 18:
"17. lernen, die wirtschaftliche Entwicklung der BRD im [/S. 65:] Zusammenhang mit den binnen- und außenwirtschaftlichen Bedingungen nach 1945 zu sehen,
18. die besonderen Bedingungen der Aufbauphase unter Berücksichtigung der politischen Verhältnisse entwickeln zu können" (H. S. 138).
Die Aussparung dieser Lernziele in den NW-Plänen ist gemäß der unverkennbaren dogmatischen Intention logisch durchaus folgerichtig: wo das Urteil für Lehrer und Schüler von vornherein festzustehen hat, da bedarf es keiner differenzierten Erörterung des historischen Kontextes der sozialen Marktwirtschaft mehr; Geschichte als potentielle Ideologiekritik ist unerwünscht.
Die "Soziale Marktwirtschaft" ist sicherlich nicht sakrosankt, sie muss am Sozialstaatspostulat des Grundgesetzes gemessen werden. Man kann als Bürger dieses Staates Verfechter eines demokratischen Sozialismus sein und braucht als Lehrer keinen Hehl aus einer solchen Überzeugung zu machen. Unerträglich ist aber jede Art von Indoktrinierung, erst recht einer unterschwellig pädagogischen, wie sie der NW-Rahmenlehrplan Gesellschaft/Politik vornimmt.
Was wollen die NW-Planer an die Stelle der schlechten Wirklichkeit setzen? Wie sieht die bessere Gesellschaft, wie sieht der bessere Staat aus? Darüber ist nichts Genaues ausgesagt. Manche Indizien sprechen dafür, dass die NW-Lehrplaner eine klassen- und schichtenlose, konfliktfreie Gruppengesellschaft als Ziel im Auge haben, in der partikulare Interessenvertretungen nicht mehr möglich und notwendig sind. Mit dieser vagen Alternative stehen die NW-Rahmenpläne in der Linie einer traditionellen politischen Pädagogik in Deutschland, die in der Sehnsucht nach Harmonie der Idee der "gemeinschaftlichen Vergesellschaftung" verfallen bleibt (21) - mit einem spezifischen Qualitätsunterschied: sie ist anderswo bereits klarer und deutlicher vertreten worden. Wohin diese irrationale Doktrin der "Systemüberwindung" uns führen könnte, haben die Verfasser der Lehrpläne geradezu klassisch vorgeführt: zur Unterdrückung anderer Anschauungen, zur pädagogischen Annullierung des Rechts auf Autonomie. [/S. 66:]
Es ist unbestritten, dass Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht in der industriellen Gesellschaft mit neu zu organisierenden Ansätzen - in Lernzielen, Lernpotential, Lernverfahren - und in Kooperation mit anderen gesellschaftswissenschaftlichen Fächern eine bedeutsame Aufgabe zur Steigerung von Rationalität und Humanität als Voraussetzungen verantwortlicher Selbst- und Mitbestimmung zu leisten haben. Unbestritten ist auch, dass diese vorhandenen neuen Ansätze bislang noch nirgends in ein überzeugendes System gebracht sind. Noch fehlt eine Alternative zu den hier kritisierten Lehrplänen in gleich geschlossener Form.
Wenn diese Lehrpläne ein Verdienst haben, so dies, die Notwendigkeit der Alternative unübersehbar zu fordern. Denn sie machen das Potential, das in der Aufarbeitung der Geschichte zu dem oben genannten Ziel liegt, unwirksam.
Es ist ihnen zum Vorwurf zu machen die Eliminierung des kritischen Potentials wissenschaftlicher Reflexion zugunsten nichtdurchreflektierter Voreinstellungen und diffuser Ausgangs- und Zielpunkte hinsichtlich der Vorstellung von gegenwärtiger Gesellschaft und ihrer Veränderung. Sie lassen die Einsicht vermissen, dass es die Aufgabe der Schule in der demokratischen Gesellschaft ist, nicht die Heranwachsenden mit - wie immer begründeten - Meinungen und Sichtweisen zu umstellen und ihnen diese als die "wahre" Wirklichkeit auszugeben, sondern ihnen die Denkformen, Begriffe, Fragestellungen, Fertigkeiten und Kenntnisse zu vermitteln, die nötig sind, um selbst zu verantwortende Entscheidungen treffen zu können. Unterricht ist nicht Propaganda oder Agitation. Wo das vergessen oder wegdiskutiert wird, entsteht ein Unterrichtsmodell, das missbrauchbar ist von autoritären und totalitären - undemokratischen - Erziehungs- und Verfassungssystemen, mag es selbst sich auch als "demokratisch" missverstehen, Solche "demokratische" Erziehung kann Demokratie nicht erhalten oder hervorbringen. Erziehung für die Demokratie ist heute, in einer wissenschaftsgeleiteten und wissenschaftsbedürftigen Welt, nicht [/S. 67:] mehr denkbar durch Zurückdrängung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Fragestellungen hinter scheinbar vorrangige didaktisch-politische Entscheidungen, durch die Priorität direkter Verhaltensschulung über die Befähigung zu selbständiger Urteilsbildung.
Es kommt vielmehr darauf an, den zweifellos schwieriger gewordenen Prozess der Gewinnung und Verarbeitung von Informationen, der Urteilsfindung und Verhaltensbegründung durch die didaktisch verantwortete und überprüfte weitere Hineinnahme des in der Wissenschaft aufgearbeiteten Erkenntnis- und Problemstandes zu ermöglichen. Diese Anstrengung durch den Rückzug auf eine politisch-didaktisch vorweggedeutete Welt zu umgehen und nur passende Teilerkenntnisse zuzulassen, führt in eine didaktische und politische Sackgasse, ist Rückschritt, Regression, mag sie auch im progressivsten Vokabular auftreten. Das irrationale Element, in den hessischen Richtlinien schon greifbar, in den nordrhein-westfälischen Rahmenlehrplänen dominierend, ist eben dieser Rückzug vor der komplizierter werdenden, wissenschaftlich verantwortbaren Deutung der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in die großen, "einfachen" Schneisen politischer Sehnsucht - Nostalgie auf didaktisch (22). Regressiv ist die Weigerung, sich und die Schüler den großen Kontroversen, auch den Aporien der Gegenwart auszusetzen; regressiv ist die Selbstgewissheit und die Ungebrochenheit des eigenen Anspruchs, ist das verhüllt, aber zugleich penetrant sich vordrängende Sendungsbewusstsein einer Gruppe von neuen Praeceptores Germaniae; Regression zeigt schließlich das mit einem solchen Anspruch kontrastierende Niveau der Ausführungen wie des wissenschaftlichen Informationsstandes.
Autoritär und gerade nicht im Sinne der selbst in Anspruch genommenen Ziele aber ist die Methode, sehr eng führende und den Unterricht weithin vorprogrammierende Richtlinien zu erlassen. Wer auch nur ein wenig aus der Geschichte der Versuche zu Schulreformen gelernt hat, müsste wissen, dass es nur einen Weg gibt, in einem Staate, der nicht ein Staat des Gesinnungszwanges sein will, Reformen in diesem verflochtenen Gebiet erfolgreich anzusetzen: den [/S. 68:] Weg der Überzeugung, der vollen Mitbeteiligung der am Erziehungsprozess Beteiligten (23), der Diskussion und des Geltenslassens von unterschiedlichen Positionen und des gewiss nicht einfachen, aber durchaus möglichen Findens eines Consensus. Aber dazu gehört neben Geduld auch die Einsicht, dass man möglicherweise mit seiner eigenen Konzeption nur eine Teilwahrheit gefasst hat, die zur Unwahrheit wird, wenn sie sich absolutsetzt.
In der didaktischen Literatur wie in der Praxis des Unterrichts und der Lehrerausbildung gibt es eine Vielzahl von Modellen, Versuchen und Anregungen, die die Schwächen des alten Geschichtsunterrichts überwunden und neue Konzeptionen entwickelt haben. Eine gut beratene Unterrichtspolitik würde nicht auserlesene, geschlossene Zirkel mit der Erarbeitung von Programmen beauftragen, die dann als Erlasse erscheinen; sie würde vielmehr die Möglichkeiten vermehren, dass die im Gang befindliche vielfältige Reform im Bereich der Fächer der Gesellschaftslehre sich selbst weiter ausbreiten und durchsetzen kann. Nicht Klausuren von genehmen brain-trusts, sondern offene Tagungen, Fortbildungs- und Versuchsmöglichkeiten für alle Lehrer und an allen Schulen müsste eine Kultusbehörde, in dem Wissen, dass sie in paedagogigicis kein Mandat, keine innere Legitimation für Programme, sondern nur die Pflicht hat, für die Möglichkeit der Entwicklung aller Potenzen zu sorgen, die - im Rahmen unserer Verfassung - an der Verbesserung des Unterrichts arbeiten. Das ist unbequemer als der Umgang mit selbstberufenen Kommissionen, aber das eben wäre - nach unserem Verständnis - demokratisch.
Sehr nachdrücklich muss man fordern, dass diesen Konzeptionen eine wissenschaftsbezogene Didaktik für eine moderne, demokratische Schule entgegengesetzt wird. Gerade wenn man der Ansicht ist - wie die Verfasser -, dass unserer Gesellschaft eine integrierte und zugleich differenzierte Gesamtschule Not tut, ist die Art, in der in einer solchen allgemeinen Schule unterrichtet wird, von höchster Bedeutung.
Diesen Richtlinien muss ein Konzept entgegengesetzt werden, das jene verstreuten und unklaren Ansätze, die in den hessischen Richtlinien immerhin zu finden sind, auf- [/S. 69:] nimmt und ausbaut, die zur Rationalität des Denkens, Urteilens und Verhaltens durch Reflexion auf Geschichte beitragen könnten; die Rahmenlehrpläne von NW führen genau in die entgegengesetzte Richtung. Eine "Vollintegration", wie sie dort propagiert wird, ist nichts anderes als die Liquidation der Möglichkeit, aus aufgearbeiteter Vergangenheit zu lernen. Vor diesen Plänen ist nicht nur aus wissenschaftlicher und didaktischer, sondern auch aus politischer Verantwortung zu warnen. "Nur im Bewusstsein und im Horizont geschichtlicher Erfahrung kann gewonnene Wahrheit, erreichte Freiheit bewahrt und behütet werden, kann erkannt werden, was zu tun sei, dass sie nicht wieder verschwänden. So sicher wir nicht so frei sind, wie wir sollten, und also fortzuschreiten haben, so sicher haben wir Freiheiten zu verlieren, also zu verteidigen, zu verspielen, also zu bewahren. Wir sind von Rückfällen bedroht, und so ist dem Fortschritt geschichtliches Bewusstsein nicht entgegengesetzt, vielmehr gehört es konstitutiv zu ihm. Wir brauchen geschichtliches Bewusstsein nicht zur Legitimation von Privilegien, sondern zur Sensibilisierung gegen Regressionen, die ja stets unter dem Schein des Fortschritts auftreten" (24).
(*) Nachweise hinfort im Text zitiert als (H. S. ...) und (NW. S. ...). Die hessischen Rahmenrichtlinien liegen gedruckt vor (die Ausführungen zum "Arbeitsschwerpunkt Geschichte" siehe auch in GWU, 23 [1972] H. 10, S. 613-623); die Rahmenlehrpläne von NW sind erhältlich bei der "Informations- und Dokumentationsstelle für den Gesamtschulversuch NW", 46 Dortmund, Lindemannstraße 80 (Ausdrücklich sei darauf hingewiesen, dass es sich dabei nicht um die Entwürfe für ein eigenständiges Fach Politik handelt, wie sie im sog. "Schörken-Plan" vorgelegt wurden.)
(1) H. Blankertz: Theorien und Modelle der Didaktik, München 2. Aufl. 1969b, S. 19 f.
(2) Vgl. H. L. Meyer: Das ungelöste Deduktionsproblem in der Curriculumforschung. In: Curriculumrevision, Möglichkeiten und Grenzen. Hrsg. v. F. Achtenhagen und H. L. Meyer. München 1971, S. 107 ff. [/S. 70:]
(3) Man müsste einmal die Zahl der Lernziele aller Grade feststellen: in den NW-Plänen, die nur die Klassen 5/6 vollständig ausführen, sind es über 160, in den hessischen Richtlinien noch mehr. Demgegenüber verschlägt die Versicherung im NW-Rahmenlehrplan, er solle keine "Zwangsmaßnahme" sein (NW.S. VI) wenig. Auch gegen den subjektiven Willen der Verfasser gerät dieser Ansatz dazu und widerspricht in der Tat "der obersten Zielsetzung eben dieses Rahmenlehrplans, nämlich der Selbst- und Mitbestimmung" (NW. S. VI).
(4) Die Lehrplaner offenbaren allerdings freimütig (in Hessen in vorsichtiger Ausdrucksweise, S. 12; in NW massiver, S. 11), dass die "Differenzierung der allgemeinen Lernziele unter fachspezifischen Aspekten" lediglich als ein Zugeständnis an eine noch unzulängliche Schulwirklichkeit anzusehen ist, die, so lange die Optimallösung der vorgestellten Integration noch nicht möglich ist, verhindern soll, "dass bei Unterricht in Einzelfächern die angestrebten Erkenntniszusammenhänge getrennt werden ...". Die Fachwissenschaften behalten in diesem Zusammenhang nach den hessischen Aussagen noch eine wichtige Funktion. In NW sind sie von "nachgeordneter Bedeutung" (NW. S. I). Im Widerspruch dazu werden ein paar Seiten später im NW-Plan (S. 11) dann doch bei der Beschreibung des "Sozialwissenschaftlichen Aspekts" der "Politologie wie Soziologie eine entscheidende Rolle als Hintergrundwissenschaften [sic!] des G/P-Unterrichts" zugewiesen. Auch "Sozialwissenschaften wie Wirtschaftswissenschaft, Rechtswissenschaft, Sozialpsychologie usw.," dürfen "wesentliche Aspekte" beisteuern - die Geschichtswissenschaft wird nicht nur hier nicht, wo es ja auch kaum zu erwarten wäre, sondern auch an keiner anderen Stelle, selbst nicht im Kapitel "Historischer Aspekt", überhaupt nur erwähnt.
(5) Vgl. den Beginn des 8. Buches der "Politik"
(6) W. U. Drechsel: Erziehung und Schule in der Französischen Revolution (Frankfurter Beiträge zur Pädagogik) Frankfurt 1969, S. 40
(7) H. Taine: Die Entstehung des modernen Frankreichs. Deutsch von L. Katscher, 2. Bd., 3. Abt., Leipzig o. J., (3. Aufl.) S. 105
(8) "Bericht und Entwurf einer Verordnung über die allgemeine Organisation des öffentlichen Unterrichtswesens" (1792) - Mit einer Einleitung von H. H. Schepp. Hrsg. in "Kleine pädagogische Texte", Bd. 36, Weinheim 1966
(9) Vgl. W. v. Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1792). Werke in fünf Bänden. Hrsg. v. A. Flitner und K. Giel. Darmstadt 1960, Bd. I, S. 106
(10) E. Spranger: Der Bildungswert der Heimatkunde. (1923) Verlag Reclam, Stuttgart. 3. Aufl. 1962, S.16, S. 24 "Alles wird zur Hilfswissenschaft" einer "durchgängigen Lebensgemeinschaft" [/S. 71:]
(11) Nur drei Bücher seien genannt, deren Lektüre sehr schnell verdeutlicht, wie leichthin mit erkenntnistheoretischen Problemen umgegangen wird: A. Schaff: Geschichte und Wahrheit. Wien 1970; H. J. Marrou: De la connaissance historique. Paris 1959; K. G. Faber: Theorie der Geschichtswissenschaft. München 1971
(12) z. B. E. Wilmans: Geschichtsunterricht. Grundlegung seiner Methode. Stuttgart 1949, S. 11 ff.
(13) Vgl. Th. Nipperdey: über Relevanz; Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 23 (1972), S. 577-596
(14) Diese und alle folgenden Hervorhebungen von uns.
(15) s. o. Anm. 13
(16) Vgl. dazu die differenzierten Ausführungen von G. Thoma: "Zur Strukturierung der ,politischen Dimension' des Unterrichts im Teilbereich der allgemeinen Gesellschaftslehre an der Kollegstufe". In: Kollegstufe NW, Schriftenreihe des KM, Heft 17, Düsseldorf 1972, S. 161
(17) Die Skizze (S. 29) täuscht außerdem den Leser, denn in Teil B ist das im Lernfeld III ausgewiesene Thema nirgends vermerkt, und die Pfeile führen ins Leere.
(18) Vgl. für den Unterschied zwischen H. und NW. gerade an diesem Punkt die Veränderung zur unredlichen Großsprecherei: NW (S. 38) schlägt vor "eine umfassende Faschismustheorie (Adorno, Nolte, Bloch)"
(19) Wenn schon nichts anderes, hätten hier wenigstens angegeben werden müssen: H. Blankertz: Bildung im Zeitalter der großen Industrie. Hannover 1969a; die leicht zugänglichen Quellenausgaben des Beltz Verlages (Kl. pädagog. Texte); Quellen zur deutschen Schulgeschichte seit 1800, hrsg. von H. Giese, Berlin 1961; Quellen zur Geschichte der Erziehung, ausgew. von K. H. Günther u. a., Berlin 5. Aufl. 1968
(20) s. FAZ, 27. 2. 73, die Erklärung der an der Ausarbeitung der Richtlinien beteiligten OSchR Ingrid Haller: in der "Erstphase" der Diskussion seien Fachverbände und Hochschulen nicht beteiligt worden. "Das war eine politische Entscheidung". Man darf annehmen, dass die Erstphase bis in die Druckfassung hineinreichte.
(21) Zu diesem hier nur angedeuteten Sachverhalt siehe die soeben erschienene Untersuchung von Günter C. Behrmann: "Soziales System und politische Sozialisation. Eine Kritik der politischen Pädagogik". Stuttgart 1972. Vgl. dazu die Rezension von Christian Graf von Krockow: "Eine Grundlagen-Kritik der politischen Pädagogik". In: Gesellschaft - Staat - Erziehung, 17. Jg./1972, Heft 6/Dezember, S. 381-384
(22) Man darf sich durch das progressive Vokabular nicht täuschen lassen: In der Abwendung von der wissenschaftlichen Überprüfbarkeit und der Hinwendung zu einer politischen Mission besteht - ungeachtet des konträren Inhalts der politischen [/S. 72:] Zielvorstellungen und des umgekehrten Vorzeichens der bildungspolitischen Absichten - in der Grundfigur des Ansatzes offenbar eine Analogie zu dem Weg, den deutsche "Volkserzieher" schon einmal vor hundert Jahren eingeschlagen haben, als sie sich in Zivilisationskritik steigerten und der "verderbten", "zersplitterten", "falsches Wissen" verbreitenden Bildungsorganisation den Kampf für die völkische (gesellschaftliche) Erneuerung ansagten. Nicht nur die Strategie ist ähnlich: "Aufstellung überspannter Erwartungen und Ideale, eine(r) verzerrte(n), überkritische(n) Darlegung der bestehenden Zustände und eine(r) Ausarbeitung konkreter Reformen" (Fritz Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr. Bern, Stuttgart 1963, S. 101; über das Vorgehen Paul de Lagardes); auch substantielle Parallelen zeigen sich in der fortschreitenden Wissenschaftsfeindlichkeit und insbesondere einer Ablehnung der kritischen Aufarbeitung der Geschichte, einer die "Spontaneität" erstickenden Beschäftigung mit Vergangenheit, stattdessen die Instrumentalisierung von Geschichte im Dienst der eigenen Vision (a. a. O. zu Langbehn, S. 215 ff.)
(23) Am Schluss der Rahmenlehrpläne von NW zeigt sich, wie solche "Mitarbeit" aussehen darf; durch Vorgabe von Fragetabellen wird jede grundsätzliche Kritik abgebogen und zugleich eine Kontrolle eingebaut: In welcher Unterrichtsreihe, bei welchem Unterrichtsverfahren, mit welchen Materialien welche Lernziele erreicht oder nicht erreicht wurden, muss der Lehrer aufführen. Hat er vorgeschriebene Unterrichtsreihen nicht behandelt - oder andere besprochen - muss er Begründungen angeben. Erst nach solcher Disziplinierung möglicher Kritik sind auch "sonstige Bemerkungen", "zusammenfassende (was?) Stellungnahmen" erwünscht - alles in allem ein Beispiel für die arcana imperii autoritärer Verwaltungspraktiken, kaum noch verhüllt vom demokratischen Schafspelz.
(24) K. Gründer: Perspektiven für eine Theorie der Geschichtswissenschaft. In: Saeculum XXII, 1971/2-3, S. 112
Behrmann, Günter C. (1972): Soziales System und politische Sozialisation. Eine Kritik der politischen Pädagogik. Stuttgart: Kohlhammer.
Blankertz, Herwig (1969a): Bildung im Zeitalter der großen Industrie. Hannover: Schroedel.
Blankertz, Herwig (1969b): Theorien und Modelle der Didaktik, 2. Aufl. München: Juventa.
Drechsel, Wiltrud Ulrike (1969): Erziehung und Schule in der Französischen Revolution (Frankfurter Beiträge zur Pädagogik). Frankfurt am Main: Diesterweg.
Faber, Karl-Georg (1971): Theorie der Geschichtswissenschaft. München: Beck.
FAZ, 27. 2. 1973: Die Erklärung der an der Ausarbeitung der Richtlinien beteiligten OSchR Ingrid Haller.
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 23. 1972. (10), 613-623.
Giese, Gerhardt (1961): Quellen zur deutschen Schulgeschichte seit 1800. Berlin [u.a.]: Musterschmidt.
Gründer, Karlfried (1971): Perspektiven für eine Theorie der Geschichtswissenschaft. In: Saeculum XXII, (2-3), Seite 112.
Günther, Karl-Heinz (1968): Quellen zur Geschichte der Erziehung, Aufl. Berlin: Volk und Wissen.
Humboldt, Wilhelm von (1960): Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1792). Werke in fünf Bänden. In: Flitner, A.; Giel, K. (Hg.): Bd. I.. Darmstadt.
Kleine pädagogische Texte. Weinheim: Beltz.
Krockow, Christian von (1972): Eine Grundlagen-Kritik der politischen Pädagogik. In: Gesellschaft - Staat - Erziehung, Jg. 17 (6), Seiten 381 - 384.
Marrou, Henri Irénée (1959): De la connaissance historique. Paris: Ed. du Seuil.
Meyer, Hilbert L. (1971): Das ungelöste Deduktionsproblem in der Curriculumforschung. In: Achtenhagen, Frank; Meyer, Hilbert L. (Hg.): Curriculumrevision, Möglichkeiten und Grenzen. München: Koesel, Seiten 107 ff.
Nipperdey, Thomas (1972): In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 23, Seiten 577 - 596.
Schaff, Adam (1970): Geschichte und Wahrheit. Wien: Europa.
Schepp, Heinz -Hermann (1966): Bericht und Entwurf einer Verordnung über die allgemeine Organisation des öffentlichen Unterrichtswesens (1792). In: Kleine pädagogische Texte, Bd. 36. Weinheim: Beltz.
Spranger, Eduard (1962): Der Bildungswert der Heimatkunde. 3. Aufl. Stuttgart: Reclam.
Stern, Fritz (1963): Kulturpessimismus als politische Gefahr. Bern, Stuttgart: Scherz.
Taine, Hippolyte: Die Entstehung des modernen Frankreichs. Deutsch von L. Katscher, 2. Bd., 3. Abt., Leipzig o. J., (3. Aufl.).
Thoma, G. (1972): Zur Strukturierung der ‘politischen Dimension’ des Unterrichts im Teilbereich der allgemeinen Gesellschaftslehre an der Kollegstufe. In: Kollegstufe NW, Schriftenreihe des KM (17), Düsseldorf , Seite 161.
Wilmans, E. (1949): Geschichtsunterricht. Grundlegung seiner Methode. Stuttgart: Klett.