Bergmann, Klaus (1988): Gesellschaftslehre – aus der Sicht des Geschichtsunterrichts

Niemand wird es einem Geschichtsdidaktiker verdenken, wenn er auch historisch denkt, wenngleich seine eigentliche Betätigung das systematische Nachdenken über historisches Lernen und die Bildung von Geschichtsbewusstsein ist. Ich muss noch einmal zurück zur Ausgangsposition den kulturkampfähnlichen Auseinandersetzungen, die 1972 mit der ersten Vorlage der HRRL GL aufgebrochen sind. Wenige Begriffe haben damals die Gemüter der Gegner der RRL mehr bewegt und erregt als der des Gegenwartsbezuges der Geschichte.

Es ginge offenkundig darum, so die Gegner wörtlich, "die historische Bildung auf das Bereitstellen von Argumenten für gesellschaftliche Probleme der Gegenwart einzuschränken". Dies entspreche – so wörtlich – "totalitärem Denken". Um so mehr müsse – so wörtlich – "darauf hingewiesen werden, dass es eine typische Methode politischer Diktatursysteme ist, die Geschichtsbetrachtung auf das Herauspräparieren von historischen Belegstücken zu beschränken, die zur Untermauerung der eigenen Legende oder Weltanschauung dienen" (1).

Geschichte werde dadurch – so wörtlich – "zum Belegmaterial für Gegenwartsbezüge denaturiert" (2).

Oder die Geschichte – so wörtlich – "wird ebenso wie die Geographie zu einem Steinbruch der politischen Argumentation, aus dem man sich je nach Bedarf Belege für die eigene Gegenwartsdeutung holt" (3).

Es steht zu erwarten, besser: zu hoffen, dass die Verfasser solcher Vorwürfe heute anders über diesen zentralen Begriff der Geschichtstheorie und der Geschichtsdidaktik denken. An diesem Begriff kommt niemand, der über Geschichtsunterricht und über den Beitrag des Geschichtsunterrichts zur historisch politischen Bildung nachdenkt, vorbei. Und es kommt nach der intensiven erkenntnistheoretischen und geschichtsdidaktischen Diskussion, die in den letzten Jahren geführt worden ist, niemand daran vorbei, differenzierter die in diesem Begriff enthaltenen Implikationen und Konsequenzen zu sehen und zu beurteilen, als das 1972 und in den folgenden Jahren zum Zwecke politischer Argumentation und Agitation geschehen ist.

Ich stelle diesen Begriff, diese geschichtstheoretische und geschichtsdidaktische Kategorie in den Mittelpunkt meiner Überlegungen. Sie ist der Schlüsselbegriff, der eine geschichtsdidaktische Antwort auf die Frage nach der Vereinbarkeit der Selbständigkeit der Fächer mit der Forderung nach fächerübergreifendem Unterricht allererst ermöglicht.

  1. Ich werde diese Kategorie in einem ersten Teil aus geschichtstheoretischer Sicht besprechen. Geschichtstheorie ist diejenige Disziplin der Geschichtswissenschaft, die nach den Grundlagen, Voraussetzungen, Möglichkeiten historischer Erkenntnis fragt.
  2. In einem zweiten Teil werde ich die Kategorie Gegenwartsbezug aus der Sicht der Geschichtsdidaktik befragen. Geschichtsdidaktik ist diejenige Disziplin, die nach den Grundlagen, Voraussetzungen und Möglichkeiten von Bildungs und Selbstbildungsprozessen an und durch Geschichte fragt und sich der Frage nach der Bildung von Geschichtsbewusstsein widmet.
  3. Im dritten Teil werde ich mich der Frage zuwenden, welche Konsequenzen sich aus den Bestimmungen der geschichtstheoretischen und der geschichtsdidaktischen Kategorie für die historisch politische Bildung ergeben, um schließlich im
  4. vierten Teil Fragen zu stellen, die auf eine Zusammenarbeit der an historisch politischer Bildung beteiligten Fächer gerichtet sind.
 

1. Gegenwartsbezug aus geschichtstheoretischer Sicht

Geschichte ist gegenwärtiges Nachdenken über vergangenes menschliches Handeln und Leiden. Oder vielleicht deutlicher: Geschichte ist je und je gegenwärtiges Nachdenken über vergangenes menschliches Handeln und Leiden. Die Erforschung und Reflexion des Geschehenen erfolgen unter dem Einfluss von Traditionen, Gegenwartserfahrungen und Zukunftserwartungen, ja Zukunftshoffnungen. Der italienische Geschichtstheoretiker Benedetto Croce hat diesen unauflöslichen Zusammenhang wie folgt ausgedrückt: "Das praktische Bedürfnis, auf das sich jedes geschichtliche Urteil gründet, verleiht der Geschichte die Eigenschaft, "zeitgenössische Geschichte" zu sein, weil sie in Wirklichkeit – wie fern auch chronologisch die Tatsachen in der tiefsten Vergangenheit ruhen mögen – immer auf ein gegenwärtiges Bedürfnis, eine gegenwärtige Lage bezogen ist." (4)

Jakob Burckhardt hat den Zusammenhang auf die knappe Formel gebracht: "Unser Gegenstand ist diejenige Vergangenheit, welche deutlich mit Gegenwart und Zukunft zusammenhängt." (5) Ich füge erläuternd hinzu: Dieser Zusammenhang besteht nicht einfach in einem Ursachenzusammenhang.

Geschichtstheoretisch ist es schlechthin unbestreitbar, dass Geschichte als Rekonstruktion vergangenen menschlichen Handelns und Leidens erst entsteht, wenn ein gegenwärtiges zukunftsgerichtetes Interesse und Bedürfnis an Orientierung und Information vorliegt, das auf eine an erfolgversprechende Regeln gebundene Erinnerung drängt. Die wissenschaftliche Geschichte ist von solchen praktischen Interessen abhängig. Sie fallen ihr aus der sozialen Lebenswelt zu. Sie bedingen auch, dass Geschichte im Fortgang der Realgeschichte immer wieder umgeschrieben wird und werden muss.

"Dass die Weltgeschichte von Zeit zu Zeit umgeschrieben werden müsse, darüber ist in unseren Tagen wohl kein Zweifel übriggeblieben. Eine solche Notwendigkeit entsteht aber nicht etwa daher, weil viel Geschehenes nachentdeckt worden ist, sondern weil neue Ansichten gegeben werden, weil der Genosse einer fortschreitenden Zeit auf Standpunkte geführt wird, von welchen sich das Vergangene auf eine neue Weise überschauen und beurteilen lässt." (6) – So trotz des fatalen Sprachgebrauchs "Genosse" Johann Wolfgang von Goethe.

Geschichte, die aus praktischen, im Fortgang der Realgeschichte wechselnden Bedürfnissen immer neu geschrieben wird, hat für die Gesellschaft, in der sie entsteht, eine praktische Bedeutung. Ihre Ergebnisse können nicht ohne Schaden für vernunftgeleitetes Handeln übersehen und übergangen werden.

Dass Geschichte als Historie, als wissenschaftliche Geschichte gegenwärtiges, je und je gegenwärtiges Nachdenken über vergangenes menschliches Handeln und Leiden ist, ein Nachdenken, das unter dem Einfluss von Traditionen, Gegenwartserfahrungen und Zukunftserwartungen erfolgt, ist geschichtstheoretisch unstrittig, muss aber noch etwas genauer erläutert werden.

Traditionen, Gegenwartserfahrungen und Zukunftserwartungen durchdringen sich wechselseitig. Unsere Gegenwartserfahrungen werden durch Traditionen, die uns lebensgeschichtlich erreichen und prägen, mitbestimmt und durch Zukunftshoffnungen beurteilbar. Unsere Traditionen werden durch Gegenwartserfahrungen im Lichte von Gegenwartserfahrungen stets neu bedacht und auf uns bezogen, werden durch Zukunftshoffnungen kritisch gewürdigt, bestätigt oder neu erschlossen und neu sortiert; und unsere Zukunftserwartungen werden durch Traditionen, auf die wir uns beziehen, z.B. demokratische Traditionen, wie sie einmal Gustav Heinemann eingeklagt hat bestärkt, oder durch Traditionen, auf die andere sich beziehen, in Frage gestellt, durch Gegenwartserfahrungen enttäuscht oder als sinnvoll, vielleicht gar notwendig bestätigt.

So unterschiedliche, unterscheidbare zeitliche Dimensionen damit auch angesprochen sind, sie haben doch wieder gemeinsam, dass sie auf einer einzigen zeitlichen Ebene auftauchen und wirken: Traditionen, Gegenwartserfahrungen, Zukunftshoffnungen sind je und je Gegenwartsphänomene, die in die Orientierung und den Vollzug gesellschaftlichen Handelns in der Gegenwart eingehen und darin wirksam werden.

Sie entfalten ihre bestimmende Kraft, wenn wir in unserer Zeit – also der sogenannten Gegenwart – als Gesellschaft vor Problemen stehen. Probleme werden hier verstanden als Herausforderungen einer Gesellschaft, die innerhalb der Gesellschaft übereinstimmend gesehen, aber divergierend beurteilt werden.

Probleme werden zugleich verstanden als Herausforderungen der Gesellschaft, die wesentliche Momente des gesellschaftlichen Lebens betreffen, sie gefährden, bedrohen, in Frage stellen – nicht also bloß intime und private, bloß aktuelle (Reisepassverlängerung) und technisch oder administrative. Ich nenne ohne jede Vollständigkeit – ein brain storming unter uns würde eine Fülle weiterer Probleme ergeben:

  • Umwelt
  • Fortschritt (Technikfolgenabschätzung)
  • Frieden und Abrüstung
  • Arbeit
  • Frauenbenachteiligung und -unterdrückung
  • Dritte Welt
  • Aids
  • Demokratie in Anspruch und Wirklichkeit.

Gesellschaftliche Probleme sind gesellschaftliche Orientierungsschwierigkeiten. Dass sie übereinstimmend gesehen werden (oder vielleicht auch nur empfunden werden), ändert nichts daran, dass sie unterschiedlich beurteilt werden, und dass unterschiedliche Wege zur Lösung empfohlen werden, hängt mit gesellschaftlichen Interessengegensätzen zusammen: Unterschiedliche gesellschaftliche Standorte bedingen unterschiedliche gesellschaftliche, ökonomische, politische, kulturelle Interessen, die zugleich mit bestimmten Wertorientierungen verknüpft sind.

Gesellschaftliche Probleme verlangen oder rufen hervor: unterschiedliche Arten der Betrachtung, des Nachdenkens, der Analyse – und unter diesen eben die historische Betrachtungsweise.

Die Geschichtswissenschaft wendet sich in den Personen einzelner Geschichtswissenschaftler diesen gegenwärtigen Problemen zu – und zwar auf ihre spezifische Weise, mit der ihr als Wissenschaft eigentümlichen methodischen Rationalität der historischen Erkenntnis. Sie macht die gegenwärtigen Probleme zu ihrem Denkobjekt, das sie more historico, nach Art der Geschichte angeht. Sie ist als Fachwissenschaft eine objektiv mögliche und übliche Weise, die Wirklichkeit denkend zu betrachten, zu ordnen, zu begreifen und – aber erst sekundär – in Form je und je gegenwärtigen historischen Wissens das Ergebnis dieser Betrachtung. Sie ist eine Weise des Denkens, die bestimmte, von anderen Wissenschaften unterschiedene Fragestellungen, Aussageabsichten und Kategorien und Methoden erarbeitet hat und anwendet, Fragestellungen, Aussageabsichten, Kategorien und Methoden, die systematisch verfeinert worden sind, sich als ertragreich erwiesen haben und den Geltungsanspruch historischer Aussagen und Urteile begründen.

Die Geschichtswissenschaft produziert dabei Erkenntnisse über vergangenes menschliches Handeln und Leiden, geht aber nicht in den Wissensbeständen auf, die sie akkumuliert. Sie ist Denken über die erkennbare menschliche (und unmenschliche) Vergangenheit, das durch die Auskunftsbedürftigkeit der Gegenwart ausgelöst wird.

Diese Aussagen lassen sich an der Entwicklung der Geschichtswissenschaft, der empirischen Geschichtsforschung trefflich verfolgen, insbesondere an der sogenannten Historischen Sozialwissenschaft:

In unserer Zeit entwickelt sich die Geschichtswissenschaft zu einer problemorientierten, an gegenwärtigen Problemen orientierten, und zwar absichtsvoll orientierten und sich als solche ausweisenden Historischen Sozialwissenschaft oder – ein anderer Begriff – Gesellschaftsgeschichte. Diese Gesellschaftsgeschichte weist eine spezifische Option auf Vernunft auf. Sie versteht die ihr eigene Vernunft – die sogenannte Historische Vernunft – in zweifacher Hinsicht, und sie ist damit theoriebewusster, gesellschaftsbewusster, politikbewusster, als sie es je in der Geschichte der Geschichtswissenschaft in Deutschland war:

  1. Historische Vernunft als formale Bestimmung der methodischen Rationalität, die den Forschungen der Historie zugrundeliegt und den Geltungsanspruch ihrer Aussagen begründet.
  2. Historische Vernunft zeigt sich überall dort als inhaltliche Bestimmung, wo das historische Denken daraufgerichtet ist, historische Prozesse und Vorgänge der Humanisierung (und ihres Scheiterns) zu erinnern, zu vergegenwärtigen und wachzuhalten. Gesellschaftsgeschichte ist nach den Worten Hans Ulrich Wehlers "Erforschung der erkennbaren menschlichen und unmenschlichen Vergangenheit unter der leitenden Hinsicht eines Interesses an emanzipatorischen Entwicklungsprozessen, an der Durchleuchtung der Widerstände gegen sie und an der Vermehrung ihrer Durchsetzungschancen" (Wehler). (7)
 

2. Geschichtsdidaktik und Gegenwartsbezug

Das praktische Interesse, das die Geschichtswissenschaft anleitet, gegenwärtige Probleme und damit verbundene Orientierungsbedürfnisse auf ihre Weise anzugehen, berechtigt sie dazu, verpflichtet sie dazu, ihre Forschungsergebnisse als ihre Antwort auf die Orientierungsbedürfnisse dorthin zu vermitteln, wo sie entstanden sind: in die Lebenswelt, in die Lebenspraxis der Gesellschaft.

Die Geschichtsdidaktik ist die Disziplin, die darüber nachdenkt, wie Geschichte Geschichte als Denkform und Geschichte in Form von lebensweltlich, gesellschaftlich angeregten Forschungsleistungen – in die Lebenswelt zurückvermittelt werden kann. Das "Wie" ist dabei auf den ersten Blick missverständlich. Sie fragt nach der "Orientierungsrelevanz" des Faches als Denkform; sie fragt nach der Orientierungsrelevanz historischer Forschungsergebnisse in einer Gegenwart, die von den Problemen geprägt ist, der die Geschichtswissenschaft ihre Fragen an die erkennbare menschliche (und unmenschliche) Vergangenheit entnimmt.

Die Geschichtsdidaktik fragt also – ich zitiere W. Hilligen – nach dem "Bedeutsam-Allgemeinen" der Geschichte für die Gegenwart und Zukunft von Schülerinnen und Schülern: Sie ist nicht "Abbilddidaktik". Sie befragt die selber von Gegenwartserfahrungen und Zukunftserwartungen ausgehende Geschichtswissenschaft daraufhin,

  1. welchen Beitrag sie durch ihre Forschungsleistungen zur Aufklärung gegenwärtiger und voraussichtlich zukünftiger Probleme leisten kann und
  2. inwieweit Geschichte als eine bestimmte Denkform Schülerinnen und Schüler befähigen kann, Gegenwartsprobleme more histerico anzugehen.

Da Schule, Unterricht, Schulfächer – und vor allem andern die an politischer Bildung im engeren Sinne beteiligten Schulfächer – auf vernünftige Orientierung in der Gesellschaft und auf vernünftiges gesellschaftliches Handeln vorbereiten sollen, sollen Schüler nach gesellschaftlicher Übereinkunft in ihnen lernen, Probleme der gesellschaftlichen Praxis vernünftig anzugehen. Dazu gehört nicht nur die Fähigkeit, bereits seit langem existierende, strukturelle gesellschaftliche Probleme also Probleme, deren Problemhaltigkeit seit langem bekannt ist zu kennen und Lösungsmöglichkeiten kennenzulernen und zu kennen.

Dazu gehört vielmehr auch, mit neu auftauchenden Problemen umgehen zu lernen, also Verfahren zu lernen, erprobte, bewährte, im historischen Lernprozess der Gattung als unverzichtbar erkannte Fragestellungen und zugehörige Denkmethoden zu erlernen, die einen vernünftigen Umgang mit Problemen und gerade auch mit neu (oder wieder neu) auftauchenden Problemen ermöglichen.

 

3. Folgerungen

Die Gegenwartsbezogenheit (und Zukunftsbezogenheit) historischen und geschichtsdidaktischen Denkens – so lässt sich zusammenfassen – kann nicht als wissenschaftsfremdes und illegitim politisches Element aufgefasst werden, schon gar nicht als Ausfluss "totalitären Denkens": Sie folgt aus der inneren Logik der historischen Erkenntnis und des geschichtsdidaktischen Denkens.

Die Gegenwartsbezogenheit (und Zukunftsbezogenheit) äußert sich in konkreten Gegenwartsbezügen. Und damit kommen wir zu einem eminent wichtigen Befund, zu einem Befund, der nun einmal in jede Lehrplanplanung eingehen muss, will sie denn den Anspruch haben, zeitgemäss wissenschaftlich begründet zu sein. Es geht in der historisch-politischen Bildung politische Bildung ist keine politische Bildung, wenn sie nicht als historisch politische Bildung angelegt ist – primär immer um gegenwärtige, im weitesten Sinne ethisch politische Probleme. Im Geschichtsunterricht wird danach gefragt, wie historisches Denken im Sinne eines Ensembles von Frageweisen, Denkweisen und Ergebnissen dazu beitragen kann, gegenwärtige Probleme so vernünftig zu betrachten und betrachten zu lernen, dass daraus eine nach Maßgabe des Möglichen vernünftige Praxis sich ergibt.

Der Clou für die historisch politische Bildung besteht eben darin, dass der Geschichtsunterricht von den gleichen gegenwärtigen Problemen ausgeht oder zumindest prinzipiell ausgehen kann, die auch den Politikunterricht bestimmen. Die Gemeinsamkeit der Probleme begründet die Idee des fächerübergreifenden Unterrichts: Bei diesem Unterricht bringen die an historisch politischer Bildung beteiligten Fächer ihre je eigenen Frageweisen, Denkweisen und Kategorien ein, um das ihnen gemeinsame Problem zu betrachten, zu bedenken. Und sie kommen aus ihrer Sicht zu Ergebnissen, die dabei helfen, dass gemeinsame Problem differenzierter – aus der Sicht der Geschichtsdidaktik: erfahrungsgesättigter und mit empirisch erworbener historischer Phantasie und Alternativität – zu betrachten.

Bezogen auf den Geschichtsunterricht heißt das mitnichten, dass dabei aus der Geschichte Belegmaterial für vorgefasste Meinungen herangezogen wird – wie das die Gegner der Rahmenrichtlinien beschworen haben. Der Geschichtsunterricht ist auf die methodische Rationalität der Geschichtswissenschaft festgelegt. Er kann das gegenwärtige Problem nur dann historisch vernünftig angehen, wenn die Frage an die erkennbare menschliche und unmenschliche Vergangenheit für alle Antworten offen ist.

Einer solchen Orientierung der Geschichtsdidaktik an der Gegenwartsbezogenheit steht die traditionelle Darstellungsform des Geschichtsunterrichts – der sogenannte chronologische Durchgang – mit traditionellen Unterrichtsinhalten, dem sogenannte Kanon (Kanon ist übrigens Bildung durch Auslassung!), scheinbar entgegen. Ich spreche hier gegen die absolute Dominanz der Chronologisierung der Geschichte. Sie macht den im Diskurs der Historiker praktisch wirksamen und in ihre Forschungsleistungen je und je eingebrachten und deutlich beobachtbaren Gegenwartsbezug in der Regel fast unerkennbar. Sie widerspricht weiterhin in eklatanter Weise den Interessen, die Schülerinnen und Schüler an Geschichte haben. Und diese Interessen sind nicht gering zu schätzen, nicht so sehr, weil die Schüler ungeheuren Frustrationserfahrungen ausgesetzt sind, sondern vor allem deshalb, weil die absolute Dominanz des chronologischen Durchgangs langfristig demotiviert und gerade das verhindert, ja vernichtet, was Geschichtsunterricht anstrebt: Interesse am historischen Denken und an der Bildung eines vernünftigen, reflektierten Geschichtsbewusstseins. Ich spreche also zwar gegen die klassische Darstellungsform von Geschichte, nicht aber gegen alle traditionellen Unterrichtsinhalte. Sie bilden ein wichtiges kommunikatives Element in unserer Gesellschaft, die nur um den Preis des Kommunikationsabbruches zwischen den Generationen aus dem Geschichtsunterricht ausgeblendet werden könnten. Diese Themen haben aber ihren Wert nicht an sich, sondern nur für uns. Sie sind aus keinem anderen Grund klassische Themen des Geschichtsunterrichts, weil sie in jeder Gegenwart, aus jeder Gegenwart neu betrachtet und mit Gewinn für diese Gegenwart neu befragt werden können, immer neu im doppelten Sinne fragwürdig.

Ich spreche entschieden für die Erkennbarkeit des Gegenwartsbezugs im Geschichtsunterricht und spreche damit zugleich entschieden gegen den objektivistischen Trugschluss, die Geschichte sei einfach die Summe aller vergangenen Handlungen, ihrer Voraussetzungen, Bedingungen, Absichten und Folgen, die rein für sich, also unabhängig von den Absichten gegenwärtigen Handelns ("wertfrei"), erforscht und dargestellt werden könnten.

 

4. Fragen

Aus den bisherigen Überlegungen können sich einige Fragen ergeben:

Aus welchem Grunde sollte es unmöglich oder nicht sinnvoll sein, die an politischer Bildung beteiligten Fächer zu der Benennung gemeinsam interessierender gesellschaftlicher Herausforderungen zusammenwirken zu lassen? Aus welchem Grunde sollte es unmöglich sein, Fächer darauf zu verpflichten, die ihnen gemeinsamen Probleme auf ihre je eigene Art anzugehen und an ihnen ihre Eigenständigkeit voll zur Geltung zu bringen – ihre Eigenständigkeit, die darin besteht, dass sie ihre fachspezifischen Errungenschaften einsetzen, um sozialkundliche, geographische und historische Antworten auf das gemeinsame Problem zu geben?

Warum sollte es nicht möglich sein, Lehrpläne so zu konzipieren, dass Zeit und Raum bleibt, um die Kooperation zu ermöglichen und die Fächer nicht völlig isoliert voneinander arbeiten zu lassen?

Warum sollte es nicht möglich sein, die traditionellen Bildungsinhalte im Lehrplan so zu streuen, dass sie allesamt zwar "durchgenommen" werden müssen, ohne doch in der traditionellen Darstellungsform des chronologischen Durchgangs behandelt werden zu müssen?

Warum sollte es nicht möglich sein, die lebensweltlich entstandenen und aufbrechenden Interessen der Schüler an Geschichte und an bestimmten Inhalten des Geschichtsunterrichts variabel zu befriedigen, d.h. dann, wenn sie aufbrechen? Warum sollte es nicht möglich sein, das auch bei Schülerinnen und Schülern wirkende Ensemble von Traditionen, Gegenwartserfahrungen und Zukunftserwartungen, das allererst zur Auseinandersetzung mit vergangenem menschlichen Handeln und Leiden reizt, durch entsprechende Konzeption des Lehrplans und Hinweise auf organisatorische Möglichkeiten zu berücksichtigen? Die Zeitgenossenschaft von Schülerinnen und Schülern, aus der das Interesse an Geschichte als einer bestimmten Frage und Denkweise resultiert, ist eine generationsspezifisch wache Zeitgenossenschaft, die zu ertragreichen, spannenden Anfragen an die Geschichte führt und – wenn es befriedigt wird – das Interesse an Geschichte nicht abtötet.

Die Folgerungen können m. E. nur lauten für die Fächer bzw. Fachvertreter – ich sage damit nichts Neues (8):

  1. Kooperation, unbedingte Kooperation bei der Benennung gemeinsam interessierender gesellschaftlicher Herausforderungen; Kooperation heißt dabei Kooperation der Fachvertreter von Sozialkunde, Geographie und Geschichte. Kooperation heißt Suche nach gemeinsam interessierenden, für Gegenwart und voraussehbare Zukunft bedeutenden, gesellschaftlichen Herausforderungen.
  2. Eigenständigkeit, unbedingte Eigenständigkeit in der Vermittlung der je facheigenen Fragestellungen, Kategorien und Denkmethoden, die eine – ich betone: eine – je eine Zugangsmöglichkeit zum betreffenden Problem darstellen.
  3. 3. Die Integration der dabei innerhalb der einzelnen Fächer erbrachten, erarbeiteten Ergebnisse zu einer vernünftigen, vielseitigen Problemwahrnehmung und Handlungsperspektive ist das Resultat von Kooperation und Eigenständigkeit.

Kooperation, Eigenständigkeit, Integration sind Phasen der Planung und Durchführung von Unterricht. Es geht dabei nicht nur um die Ergebnisse. Wichtig ist vor allem, dass die verschiedenen Zugangsmöglichkeiten, die durch die verschiedenen Fächer repräsentiert werden, eingeübt werden, und dass die Integration der fachspezifischen Ergebnisse erkennbar durch die Fachvertreter hilfreich angeleitet wird. Mündigkeit kann nur heißen, dass die Schülerinnen und Schüler in einem durch die Fachvertreter angeleiteten Prozess lernen, die Frage und Denkweisen der Fächer und ihre Ergebnisse anzuwenden.

Gesellschaftslehre als Lernbereich war und ist kein "Flop", sondern ein zukunftsweisender Ansatz. Denn sie fordert nur, was wissenschaftlich allenthalben zu beobachten ist: gemeinsame Problemwahrnehmung und Problembenennung, Konstituierung von entsprechenden Forschungsbereichen – Ökologie, Friedensforschung, Frauenforschung z.B. –, die mit den Frage und Denkweisen der traditionellen Fächer angegangen, bearbeitet werden und in den Fächern zu Ergebnissen führen, die zu einer differenzierten Einschätzung des Problems führen und zu einem Zusammenhangwissen. Ökologie, Friedensforschung, Frauenforschung z.B. sind dabei keine Fächer, sondern Forschungsbereiche, die durch Fächer bearbeitet werden, die etwas zu fragen und zu sagen haben und deren Ergebnisse zu einer differenzierten Sicht integriert werden.

Im übrigen ist unmittelbar einsichtig, dass neue Inhalte des Geschichtsunterrichts – so z.B. die politische Argumentation mit historischen Sachverhalten und Erfahrungen ("Geschichte als politisches Argument") oder die Werbung mit Geschichte ("historisierende Werbung") – in einem fächerverbundenen Unterricht besser zu besprechen sind als in einem traditionellen Fachunterricht.

 

5. Abschließende Bemerkungen

Wenn Fächerautonomie heißen sollte, dass die an historisch politischer Bildung beteiligten Fächer – statt selbst zu bestimmen, wie es ja im Wort steckt, dazu bestimmt werden, unabhängig voneinander, isoliert nebeneinander, nicht durch das Interesse an gemeinsamen gegenwärtigen Problemen miteinander verbunden, ihre traditionellen didaktischen Darstellungsformen – im Geschichtsunterricht der chronologische Durchgang – zu verwenden und dann vielleicht auch noch vorrangig auf eine krude nationale Identität abzuheben, dann wäre dies gegenüber dem Erkenntnisstand von Geschichtstheorie und Geschichtsdidaktik eine denkgeschichtliche Regression.

Das muss auch deshalb in dieser Schärfe gesagt werden, weil es zu Lasten von Schülerinnen und Schülern geht, die in der Geschichtsdidaktik wie in anderen Fachdidaktiken auch als anspruchsberechtigte Subjekte gesehen werden – als Subjekte, die zum Anspruch berechtigt sind, in der Schule nach Maßgabe des der Schule Möglichen zu Selbstbestimmung fähig zu werden, selber denken zu lernen, wie gesellschaftliche Herausforderungen vielfältig analysiert werden müssen, um die Ergebnisse der Analyse zu einem Zusammenhangwissen zu integrieren, das ein vernünftiges Handeln anleitet.

 

Anmerkungen

(1) Broschüre der CDU Hessen 1973: "Marx statt Rechtschreibung", abgedruckt in: Bergmann, Klaus; Pandel, Hans-Jürgen. Geschichte und Zukunft, Frankfurt/M. 1975, S. 187

(2) CDU Abgeordneter Sälzer im Landtag 29.03.1973, abgedruckt in: Bergmann/Pandel, a.a.O., S. 189

(3) Hartmut Müller Kinet 1973, abgedruckt in: Bergmann/Pandel, a.a.O., S. 269

(4) Benedetto Croce, Die Geschichte als Gedanke und als Tat, Bonn 1944, S. 41

(5) Jakob Burckhardt, Historische Fragmente, hg. von E. Dürr, Stuttgart 1957, S. 1

(6) Johann Wolfgang von Goethe, Erfahrung der Geschichte. Historisches Denken und Geschichtsschreibung in einer Auswahl, hrsg. von Horst Günther, Frankfurt/M. 1982, S. 208

(7) Hans Ulrich Wehler, zitiert nach: Christian Meier, Klio als Klatschbase, in: Kursbuch 91: Wozu Geisteswissenschaften?, März 1988, S. 54

(8) Vgl. dazu H. J. Pandel, Integration durch Eigenständigkeit?, in: Rolf Schörken (Hrsg.), Zur Zusammenarbeit von Geschichts und Politikunterricht, Stuttgart 1978. S. 346 ff.

 

Literatur

Broschüre der CDU Hessen (1973): "Marx statt Rechtschreibung", abgedruckt in: Bergmann, Klaus; Pandel, Hans Jürgen. Geschichte und Zukunft, Frankfurt/M.

Burckhardt, Jakob (1957): Historische Fragmente. Hg. von E. Dürr, Stuttgart.

CDU Abgeordneter Sälzer im Landtag 29.03.1973 (1973): abgedruckt in: Bergmann, Klaus; Pandel, Hans-Jürgen. Geschichte und Zukunft, Frankfurt/M.

Croce, Benedetto (1944): Die Geschichte als Gedanke und als Tat. Bonn.

Müller Kinet, Hartmut (1973): abgedruckt in: Bergmann, Klaus; Pandel, Hans-Jürgen. Geschichte und Zukunft, Frankfurt/M.

Goethe, Johann Wolfgang von (1982): Erfahrung der Geschichte. Historisches Denken und Geschichtsschreibung in einer Auswahl. Hg. Von Günther, Horst, Frankfurt/M.

Pandel, Hans-Jürgen (1978): Integration durch Eigenständigkeit? In: Schörken, Rolf. Hg. Zur Zusammenarbeit von Geschichts und Politikunterricht. Stuttgart.

Wehler, Hans Ulrich, zitiert nach: Meier, Christian (1988): Klio als Klatschbase. In: Kursbuch 91: Wozu Geisteswissenschaften?