Borries, Bodo von (1998): Jugendliche Geschichtsvorstellungen und Politikeinstellungen im europäischen Ost West Vergleich. Das Beispiel Demokratie. Befunde einer komparativen empirischen Studie in 9. Klassen 1994/95

 

1. Fragestellung, Teilnehmer und Methode

Die europäische Wende von 1989/91 hat - unbeschadet vieler Enttäuschungen und Konflikte - eine neue politische und intellektuelle Konstellation geschaffen. Das "Ende der Nachkriegszeit" eröffnet die Chance dauerhafter neuer (und friedlicher) Strukturen wie das Risiko extrem labiler und asymmetrischer Verhältnisse. In diesen werden die geschichtlichen Vorstellungen und politischen Einstellungen von Jugendlichen künftig sicherlich eine hoch bedeutsame Rolle spielen. Europäische Integration (oder Desintegration), ethnische Konflikte und Säuberungen (oder interkulturelle Harmonie), demokratische Stabilität (oder diktatorisch-populistische Abenteuer), Konfrontation zwischen Westeuropa und der osteuropäischen Zentralmacht Russland (oder Kooperation beider) werden auch durch den Bewusstseinsstand von Bevölkerungen mitbestimmt - neben dem Einfluss von Wirtschaftsinteressen und Machtpositionen.

Es lohnt sich also, mit wissenschaftlichen Mitteln empirischer Sozialforschung Landkarten allgemeiner und besonderer historisch-politischer Mentalitäten von Jugendlichen in Europa zu erstellen: Wie steht es z. B. mit Deutungen zu Mittelalter, Kolonialismus, Industrialisierung und Nationalsozialismus? Was halten die Jugendlichen von Nation und Europa, Demokratie und Fortschritt? Welche Erklärungen und Lösungsvorschläge haben sie für ökonomische Ungleichheit und ethnische Konflikte, Wanderungsbewegungen und Menschenrechte? Wie sehen sie die Zukunftsprobleme von Frieden, Freiheit, Wohlstand und Umweltschonung? Wie bringen sie historische Erfahrungen und Änderungstrends in ihre Gegenwartsbeobachtungen und Zukunftserwartungen ein?

Neben der pragmatischen und politischen Bedeutung eines solchen Kartierungsversuchs von Mentalitäten sind von einer kulturvergleichenden Betrachtung selbstverständlich auch theoretische Einsichten in Struktur und Genese historischen Bewusstseins zu erhoffen. Wieweit lassen sich theoretische Grundlegungen empirisch verifizieren oder falsifizieren? Es gibt - außer Feldexperimenten und Längsschnittstudien - z. B. keine besser geeignete Methode, um die Beziehungen zwischen Reifungsprozess und Sozialisationsabhängigkeit des Geschichtsbewusstseins aufzuklären. Im weiteren Verlauf kulturvergleichender Empirie könnten [/S. 209:] z. B. die geschichtslogischen Niveaus der traditionalen, exemplarischen, kritischen und genetischen Sinnbildung näher untersucht werden. Solche Studien dürften auch zu mehr Bescheidenheit, Nüchternheit und Bodenhaftung didaktischer Konzepte beitragen oder verdeckte normative Vorgaben in den erkenntnistheoretischen Analysen aufdecken.

Große europäische Kulturvergleiche sind ideologisch und organisatorisch überhaupt erst durch die Öffnung von 1989/91 möglich geworden. Seit 1991 wurde unter Leitung von Magne Angvik (Bergen), Bodo von Borries (Hamburg) und Lászlo Kéri (Budapest) ein Netzwerk nationaler Koordinatoren für "Youth and History. The Comparative European Project an Historical Consciousness among Adolescents" aufgebaut, das bald etwa 30 Territorien umfasste. 1992 wurde eine Pilotstudie in neun Ländern mit 900 Befragten durchgeführt (2). Die Finanzierung einer Hauptstudie war gleichwohl ein großes Problem. Nach jahrelangen vergeblichen Anträgen bei öffentlichen Stellen hat die Körber-Stiftung (Hamburg) die Kosten des internationalen Managements und der internationalen Auswertung übernommen. Die Europäische Kommission (Brüssel) steuert beträchtliche Summen bei, jedoch nur für ihre Mitglieder und einige Assoziierte. In vielen Ländern sind weitere Stiftungen, Universitäten und Regierungen mit nennenswerten Summen an der nationalen Finanzierung beteiligt.

Im Schuljahr 1994/95 wurden also über 31.000 Schülerinnen und Schüler 9. Klassenstufen (d.h. 800 bis 1.200 pro Land je nach vermuteter Homogenität oder Heterogenität) gemeinsam mit ihren mehr als 1.250 Lehrpersonen im Geschichtsunterricht befragt. Es nahmen - meist mit reinen Zufallsstichproben auf Klassenebene oder mit vorzüglich vertretbaren Konvenienzsamples (3) - über 25 Länder teil.

  • Den ersten großen Block bilden zehn "postsozialistische" Länder, darunter vier Nachfolgestaaten der UdSSR (Russland, Ukraine Litauen und Estland), zwei Nachfolgestaaten Jugoslawiens (Slowenien, Kroatien), drei Visengradstaaten Ostmitteleuropas (Polen, Tschechien und Ungarn) und Bulgarien (4).
  • Dem stehen im Westen elf Länder der Europäischen Union gegenüber, die skandinavischen Mitglieder (Dänemark, Schweden, Finnland), Großbritannien (England/Wales und Schottland), die iberischen Staaten (Portugal, Spanien), Griechenland und vier der Gründungsmitglieder (5): Frankreich, Italien, Belgien (nur Flandern) und Deutschland (mit den 1990 beigetretenen Ländern der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik) (6). [/S. 210:]
  • Dazu kommen eine Reihe von Ländern am Rande und in der Nachbarschaft Europas. Island und Norwegen sind der Europäischen Union eng assoziiert; neuerdings ist auch die Türkei vertraglich näher herangerückt. Israel wurde mit zwei unabhängigen Teilstichproben (Staatsnation und israelische Araber) berücksichtigt; außerdem wurden Palästinenser (in Ostjerusalem, Westjordanland und Gaza-Streifen) befragt (7). Die Einbeziehung solcher nicht- oder marginal-europäischer Gemeinschaften erlaubt - bis zu einem gewissen Grade - eine Kontrolle des gemeinsamen europäischen Charakters der restlichen Stichprobe und schützt vor der Deutung ihrer Reaktionen als allgemein-menschlicher.
  • Die Analyse soll jedoch auch unterhalb der Nationalstaaten für das Verhältnis zwischen staatstragenden Mehrheiten und anerkannten kulturellen Minderheiten (sprachlicher, ethnischer und konfessioneller Art) fortgesetzt werden. Die je zwei unabhängigen Samples in Großbritannien und Israel wurden schon erwähnt. Außerdem ist in Italien neben der nationalen Stichprobe eine besondere Stichprobe in der multikulturellen Provinz Südtirol (mit den drei Sprachgruppen des Italienischen, Deutschen und Ladinischen) befragt worden; in Russland wurde mit den Mari eine besondere autonome Gruppe einbezogen. In Estland lässt sich das knappe Drittel Russen mit der Mehrheit der Esten vergleichen. Die Jugendlichen wurden während zweier Schulstunden (95 Minuten) mit etwa 300 Fragen konfrontiert - und reagierten meist sehr positiv und vollständig. Dabei mussten sie fast ausnahmslos nur auf fünfstufigen Likertskalen von "nein, gar nicht" (1) bis "ja, sehr" (5) auswählen und ankreuzen. Die Begrenztheit dieser mechanischen Fragetechnik, die zunächst (auf der Ebene der einzelnen Frage) wohl Stellungnahmen, aber kaum Argumentationen und Zusammenhänge aufklären kann, ist uns sehr wohl bewusst. Für "Youth and History" gab es jedoch einige zwingende (oder wenigstens überzeugende) Gründe für die Wahl geschlossener Fragen.
  • Die Codierung offener Antworten bei repräsentativen Stichproben tausender Probanden wäre sehr aufwendig und teuer und nur begrenzt reliabel; sie würde zudem das Problem absoluter Bedeutungsgleichheit in verschiedenen Sprachen dramatisch verschärfen, weil es sich dann nicht mehr auf den Fragebogenwortlaut begrenzen ließe, bei dem mit Übersetzung und unabhängiger Rückübersetzung eine methodische Kontrolle möglich ist.
  • Bei offenen Fragen, d. h. selbst frei produzierten, argumentativen Antworten, ist man viel stärker von aktiver Sprach- und Schriftbeherrschung der Befragten sowie von ihrer Motivation abhängig. In entsprechenden Untersuchungen haben sich bei etwas schwierigeren Fragen Datenverluste bis 50 oder 60 % als üblich erwiesen. Das verzerrt grob die Repräsentativität, da unter weniger Intelligenten, Selbstsicheren und Motivierten ein viel größerer Anteil ausfällt. Im internationalen Vergleich drohen ebenfalls Einbrüche, und zwar in verschiedenen Ländern in abweichendem Maße (8).
  • Eine gewisse Argumentativität und Komplexität der Antworten kann auch bei geschlossenen Fragen (mit vorgegebenen Antwortalternativen) dadurch erzeugt werden, dass nacheinander die Zustimmung zu verschieden pointierten - auch gegensätzlichen - Argumentationsweisen abgerufen wird. Von diesen Möglichkeiten ist im Fragebogen vor allem bei historischen Dilemmata und politischen Entscheidungen reichlich Gebrauch gemacht worden. Proteste gegen die Primitivität von Likertskalen bleiben ganz vereinzelt (sie kommen [/S. 211:] nach Erfahrungen in anderen Studien nur gelegentlich bei besonders intelligenten Zwölftklässlern vor).
  • Die einzelne Antwort auf einer Likertskala wird zwar mechanisch gegeben und nicht legitimiert; ihre positive, negative oder fehlende Kombination mit zahlreichen anderen Antworten, die statistisch einfach und perfekt geprüft werden kann (z. B. Korrelationen), erlaubt aber zahlreiche Rückschlüsse auf Argumente und Strukturen, auch soweit sie den Antwortenden selbst kaum bewusst sind. Die Herstellung eines solchen Netzwerkes von Antworten setzt klar verarbeitbare und in sich einigermaßen simple (und vollständige) Einzeldaten voraus.
 

2. Themenkomplex "Demokratie" als Auswahlkriterium und Darstellungsbeispiel

Es erscheint vernünftig, die Vorstellung des fast unerschöpflichen Materials um ein einziges Thema zu bündeln, auch wenn dabei die Gesamtbetrachtung der Struktur von Geschichtsbewusstsein (und sogar der Bezug auf vergangene Geschehnisse) teilweise verloren geht. Dafür habe ich "Demokratie" gewählt, weil das Ausmaß demokratischer Hoffnungen und Überzeugungen sowie antidemokratischer Risiken und Gewohnheiten in Osteuropa und Ostmitteleuropa seit 1991 die Öffentlichkeit besonders interessiert. Ein Stichwort dieser Nachfrage lautet z. B. "Chancen zur Entwicklung von ,offener Gesellschaft' bzw. ,civil society'".

 

2.1. Wichtigkeit von "Demokratie"

Zu den Fragen des Fragebogens gehörte "Wie wichtig sind Dir die folgenden Dinge?" mit Einzelitems u.a. zu "Demokratie" und "Meinungsfreiheit für alle". Im gesamten Sample erhält Demokratie nur einen mittleren Stellenwert (MOverall = 3.46), weit hinter Meinungsfreiheit (MOverall = 4.27, vgl. Grafik 1) (9). Private Werte (Familie, Freunde, Hobbys) liegen weit höher - meist auch vor Meinungsfreiheit. Auch solidarische Werte (Frieden, Umweltschutz soziale Sicherheit, Hilfe für Arme Hilfe für die Dritte Welt) zählen weit mehr als Demokratie, im Mittel etwa so viel wie Meinungsfreiheit (z. B. Solidarität für Dritte Welt: MOverall = 3.72, Umweltschutz: MOverall = 4.39). Weniger wichtig als Demokratie sind nur "mein religiöser Glaube" (MOverall = 3.16) und "Europäische Zusammenarbeit" (MOverall = 3.13). Etwa auf gleicher Höhe befinden sich materielle Interessen "Geld und Wohlstand für mich selbst" (MOverall = 3.56), und ethnozentrische Werte, "mein Land" (MOverall = 3.84) und "meine ethnische Gruppe/Nationalität" (MOverall = 3.48).

Das ist ein erstaunliches und aufregendes Ergebnis auch wenn man das Alter der Jugendlichen bedenkt. Natürlich stehen bei ihnen persönliche Dinge im Vordergrund; es handelt sich ja noch nicht um politische Aktivbürger, sondern um Pubertierende. Das Vorwiegen privater Werte der Primärgruppe ist also naheliegend; weniger selbstverständlich ist das Übergewicht kollektiv-solidarischer Werte sekundärer Systeme (auch über große Entfernungen bis in die "Dritte Welt").

Offenkundig spiegeln die Jugendlichen hier kulturelle Selbstverständlichkeiten ihrer Umgebung, geben in diesem Sinne "sozial erwünschte Antworten". Wahrscheinlich hilft der Vergleich von "Demokratie" und "Meinungsfreiheit" weiter: Das scheinbar Konkretere [/S. 212:]

 

wird viel wichtiger genommen. Zugleich heißt das: Freiheitsrechte werden als selbstverständliches Konsumgut angenommen, nicht als zu gestaltende und zu verantwortende Aufgabe angesehen.

Diese These lässt sich leicht beweisen. In einer anderen Fragegruppe wurden die Jugendlichen gebeten, ihre persönlichen Erwartungen für die Zeit in vierzig Jahren anzugeben. Erneut liegen die kommunikativen (Familie, Freunde) und wirtschaftlichen (Beruf, Einkommen) Erwartungen weit vor den politischen Prognosen. Ein scharfer Gegensatz besteht zudem zwischen der künftigen Hinnahme von "persönlicher politischer Freiheit" (MOverall = 3.61) und der künftigen Teilnahme an "politischer Arbeit" (MOverall = 2.28). Der einmal krass positive, einmal krass negative Mittelwert spricht für sich (vgl. Grafik 2).

Einen entschiedenen Willen zur politischen Partizipation gibt es nicht, wohl aber einen intensiven Anspruch auf Selbstentfaltung und Glück. Das Selbstverwirklichungsverlangen reicht auch in die politische Sphäre hinein, weil es auf individualistische Freiheitsrechte angewiesen bleibt. Die Zweiteilung der persönlichen Erwartungen ("persönliche Freiheit" vor "politischer Teilhabe") bestätigt die Abstufung der Wichtigkeit ("Meinungsfreiheit" weit vor "Demokratie").

Wie steht es nun mit der länderspezifischen Verteilung? Die Bedeutung der Demokratie zeigt klare Minima (teilweise sogar im negativen Bereich) in mehreren "postsozialistischen", aber auch in einzelnen skandinavischen Ländern (Dänemark, Finnland), Großbritannien (beide Gruppen), Frankreich und Portugal (vgl. Grafik 1). Demgegenüber finden sich Maxima in Griechenland, Israel (beide Gruppen), Türkei, Belgien, Deutschland, Südtirol und in einzelnen skandinavischen Ländern. [/S. 213:]

 

Von den "postsozialistischen" Ländern haben nur Tschechien und Kroatien ernsthaft überdurchschnittliche Werte. Osteuropa hat also sehr niedrige, Ostmitteleuropa unterdurchschnittliche Werte, die man als beklemmend bezeichnen könnte, wenn sie nicht mit Großbritannien, Frankreich und den iberischen Ländern geteilt würden. Das Verteilungsmuster besteht auch nicht in einem einfachen Ost-West-Gegensatz (MOst = 3.08, MOstmittel = 3.47 gegen MSüdwest = 3.69, MNordwest = 3.42) (10), sondern einem Südwest-(Nord-)Ost-Gefälle. Bei der "Meinungsfreiheit" wiederholt sich das im großen und ganzen (MOst = 4.03, MOstmittel = 4.17 gegen MSüdwest = 4.53, MNordwest = 4.30) (11), aber es gibt Ausnahmen von der Parallelität; Tschechien liegt diesmal z. B. nicht besonders hoch, sondern eher besonders niedrig (vgl. Grafik 1).

Die Erwartung persönlicher politischer Freiheit in vierzig Jahren fällt ziemlich gleichmäßig hoch aus (vgl. Grafik 2). Ernsthafte Ausrutscher nach unten gibt es nur in Ost- und Ostmitteleuropa (Estland, Russland, Ukraine, Polen, Bulgarien), zudem vereinzelt im Nordwesten (Island, Schweden, Schottland). Herausragend hohe Werte stehen dem vor allem im ostmediterranen Raum (Griechenland, Türkei, beide Gruppen in Israel) gegenüber, außerdem noch in Frankreich und Norwegen. Was immer die Motive der Jugendlichen sind: Hier finden wir kaum ein Ost-West-Muster (MOst = 3.41, MOstmittel = 3.54 gegen MSüdwest = [/S. 214:] 3.73, MNordwest = 3.59), sondern eher einen (Nord-)Ost-Nahost-Gegensatz (MOst 3.41 und MNahost = 3.91). Schaut man nachträglich noch einmal auf die Wichtigkeit von "Demokratie", so ist genau dieser Gegensatz auch dort schon angelegt (MOst = 3.08 und MNahost = 3.80).

Die künftige Teilnahme an politischer Arbeit wird - wie erwähnt - überaus skeptisch eingeschätzt (vgl. Grafik 2). Ausnahmen gibt es genau in jenen östlichen Mittelmeerländern (Griechenland, Türkei, Israel, diesmal auch Palästina), die schon die persönliche Freiheit betont haben (MNahost = 2.78 und MOst = 2.20, MOstmittel = 2.15, MSüdwest = 2.34, MNordwest = 2.18). Die Ergänzung um Palästina liegt insofern nahe, als hier besondere Aufbau-Anstrengungen nötig sein werden. Aus dem allgemeinen Muster politischer Apathie stechen aber auch Polen und die Ukraine positiv hervor, während Slowenien, Spanien, Island und Tschechien besonders trostlose Mittelwerte zeigen.

Die Angaben über politisches Interesse bestätigen den Befund; das Gesamtmittel für politisches Interesse ist deutlich negativ (MOverall = 2.52), positive Ausnahmen gibt es nur in Palästina und im arabischen Israel. Zwischen politischem Interesse und politischem Mitbestimmungswunsch besteht tatsächlich ein nennenswerter Zusammenhang (12).

 

2.2. Erwartung von "Demokratie" und Erinnerung an "Demokratie"

Das Material lässt sich durch Vergleich mit der Zukunft des eigenen Landes weiter auf Plausibilität und Konsistenz testen. Die Prognose für die Demokratie im eigenen Land in vierzig Jahren (d.h. um 2035) fällt eher bescheiden aus (MOverall = 3.50), wobei Osteuropa (außer Litauen) besonders niedrige Werte zeigt und auch Ostmitteleuropa (außer Tschechien und Kroatien) unterdurchschnittlich abschneidet (MOst = 3.21, MOstmittel = 3.46 gegen MSüdwest = 3.59, MNordwest = 3.60). Nur in Palästina ist man vergleichbar skeptisch hinsichtlich einer demokratischen Zukunft. Die positivsten Werte, d. h. den größten Optimismus legen die ostmittelmeerischen Länder (Griechenland, Türkei, Israel) an den Tag (MOst = 3.21, MNahost = 3.64), dazu Island. Nord-, West- und Westmitteleuropa bewegen sich ganz dicht am Gesamtmittel.

Völlig anders aber sieht die Einschätzung des eigenen Landes vor vierzig Jahren (also 1955) aus. Gegenüber der Zukunft ist das Gesamtmittel für "demokratisch" etwa drei Viertel Skalenpunkte niedriger (MOverall = 2.73). Das beruht auf durchweg deutlich negativen Mittelwerten aller 10 "postsozialistischen" Länder (vgl. Grafik 3). Es handelt sich um den maximalen gemessenen Ost-West-Unterschied (MOst = 2.19, MOstmittel = 2.29 gegen MSüdwest = 2.90, MNordwest = 3.22) und auch einen beachtlichen Abstand zum Nahen Osten (MNahost = 2.83). Polen und Slowenien geben noch die mildesten, Bulgarien und Tschechien die härtesten Urteile ab.

Auffälligerweise haben die skandinavischen Länder durchweg positive, die westeuropäischen Länder nur neutrale Werte. Offenbar ist langfristige Demokratie besonders im Norden Teil der kulturellen Selbstverständlichkeit, aber auch des Stolzes und der Identität. Ausgesprochen negative Werte gibt es in Spanien (Franco-Zeit), abgeschwächt in Portugal (Salazar-Zeit) und bei den beiden arabischen Gruppen.Anders ausgedrückt: In den länderspezifisch unterschiedlichen Einschätzungen der "Demokratie" vor vierzig Jahren steckt ein hoher Grad an empirischer historischer Triftigkeit - von mentaler Stimmigkeit in der heutigen Situation ganz abgesehen. Die Unterschiede sind enorm: Zwischen den Osteuropäern und den Nordeuropäern liegt mehr als ein Skalenpunkt (und mehr als eine Standardabweichung der Antworten); das ist ein sehr großer Effekt.[/S. 215:]

 

Aber auch die Ostmittel- und die Westmitteleuropäer sind noch beachtliche drei Viertel Skalenpunkte (oder fast zwei Drittel der Standardabweichung) entfernt.

Einen anderen Zugriff auf die Bewertung von Demokratie in der Geschichte bieten die Fragen nach dem Gewicht bestimmter Faktoren oder Determinanten für Änderungen des menschlichen Lebens. Auch diesmal wurde sowohl nach der Entwicklung in der Vergangenheit und der in der nächsten Zukunft (von 40 Jahren) gefragt. Unter den 15 Angeboten standen für beide Zeitformen neben "Kriegen", "Revolutionen" und "Umweltkrisen" auch "jeder Mensch" sowie "soziale Bewegungen und soziale Konflikte" und "politische Reformen". Der Einfluss von "jedem Menschen" in der Vergangenheit wie in der Zukunft wurde besonders uneinheitlich eingeschätzt (jeweils größte Standardabweichung überhaupt!). Die Gesamtmittelwerte für "jeden" (MOverall = 3.26 und 3.23), die deutlich unter denen der meisten anderen Determinanten liegen, sagen daher ziemlich wenig.

Dagegen sind die nationalen Unterschiede sehr bezeichnend (vgl. Grafik 4). Die Kontraste gehen jeweils mitten durch die regionalen und systemspezifischen Ländergruppen: Isländer halten gegen die anderen Skandinavier viel von der Kraft der Individuen, Litauer und Esten gegen die anderen Osteuropäer, Tschechen und Slowenen gegen die anderen Ostmitteleuropäer, Griechen, Spanier und Portugiesen gegen die anderen Mediterranen und Belgier gegen die anderen Westeuropäer. Das bedeutet aber: Fast durchgehend (Spanien ist die einzige Ausnahme!) sind es die mit Abstand kleineren Länder, die dem "einzelnen" großen Einfluss zutrauen. Dieses Muster schlägt gegenüber den sonst so deutlichen Besonderheiten (Nord gegen Süd und Ost gegen West) weithin durch. [/S. 216:]

 

Die künftige Bedeutung jedes einzelnen ist der vergangenen überaus ähnlich. Kein Land entfernt sich ernsthaft von den Angaben für die Vergangenheit (13). Das heißt aber: Ein Wandel im Einfluss des einzelnen von der Vergangenheit zur Zukunft wird nicht ins Auge gefasst. Man hat daher den Eindruck einer ausgesprochen unhistorischen Konzeption von Demokratie bzw. Partizipation, d. h. ihrer fehlenden Verankerung in einer Entwicklung. Das hängt gewiss damit zusammen, dass die Jugendlichen nachweislich mit Fremdverstehen abweichender geschichtlicher Zustände nicht viel anfangen und heutige Ideal-Maßstäbe (z. B. Menschen- und Bürgerrechte) ziemlich undifferenziert an das Verhalten von Menschen aller Epochen anlegen.

Eine gewisse Kontrolle des (absolut untergeordneten) Stellenwertes von "Demokratie" als historischem Thema und Motor lässt sich auch mittels der Frage nach den thematischen Interessen der Jugendlichen gewinnen (vgl. Grafik 5). Von elf Sektoren liegt "die Entwicklung der Demokratie" (MOverall = 2.80) im schwach negativen Bereich und eindeutig an letzter Stelle, etwa einen Skalenpunkt hinter der "Geschichte Deiner Familie" (MOverall = 4.02) oder "Abenteurern und großen Entdeckungen" (MOverall = 3.76), aber auch einen halben Skalenpunkt hinter "den Auswirkungen von Menschen auf ihre Umwelt" und "der Geschichte bestimmter Gegenstände (z. B. ... von Autos, von Kirchen, der Musik, des Sports)". [/S. 217:]

 

Das mit Abstand größte Interesse an der "Entwicklung der Demokratie" besteht in den ostmittelmeerischen Ländern (allerdings mit einem Einbruch in Israel); etwa neutrale Werte gibt es auch in Südeuropa (mit Kroatien und Bulgarien), während Osteuropa und Teile Ostmitteleuropas (Litauen und Tschechien wiederum mit Einschränkungen) sowie Nord- und Westeuropa ein vertieftes Desinteresse zeigen (vgl. Grafik 5). Der "postsozialistische" Bereich bleibt also hinter dem Westen kaum (MOst = 2.61, MOstmittel = 2.65 gegen MSüdwest = 3.20, MNordwest = 2.65), hinter dem Nahen Osten um so weiter zurück (MNahost = 3.32). Eine tiefe Kluft besteht auch zwischen dem reservierten ("kühlen") Norden und dem enthusiastischen ("heißen") Süden des westlichen, schon vor 1989 "marktwirtschaftlichen", Europa (MSüdwest = 3.20 und MNordwest = 2.65).

Nach den Kriterien der Wichtigkeit und des Interesses, der Erinnerung und der Erwartung bleibt Demokratie also für die Jugendlichen gleichermaßen untergeordnet - ganz im Gegensatz zu der herausragenden normativen Bedeutung, die Lehrerschaft (und Fachdidaktik) dem Gegenstand und seiner Internalisierung ausdrücklich zusprechen (Lehrziel MOverall = 4.18). Im großen und ganzen sind es auch stets dieselben Länder, die dabei einerseits mit besonderer Nichtachtung hervortreten oder die andererseits wenigstens verbale Zugeständnisse machen.

Ausführlich wurde weiterhin nach Urteilen über die osteuropäische Entwicklung seit 1985 gefragt. Die Antworten sind jedoch sehr vage (bei einzelnen Fragen kreuzen bis zu 51% das unentschiedene "teils-teils" an) - und überraschenderweise in Ost- und Westeuropa fast gleich, so auch beim Item "Demokratisierung der sowjetischen Gesellschaft" (MOst = 3.31, MOstmittel = 3.21 gegen MSüdwest = 3.43, MNordwest= 3.25). Insgesamt wird deutlich, dass [/S. 218:] den Jugendlichen von 1994/95 die Entwicklung 10 Jahre zuvor weder aus biografischer Erfahrung noch aus offizieller Überlieferung bekannt ist; auch das soziale Gedächtnis der Familien füllt die Lücke offenbar unzureichend.

Statt weitere (mögliche) Details zu präsentieren, ist eher danach zu fragen, was die Daten (ohnehin mehr politische Einstellungen als historische Vorstellungen betreffend) wirklich aussagen. Natürlich überlegt man, ob Angaben wie die vorgestellten irgendeine logische Konsistenz und politische Relevanz aufweisen. Aus der Forschung zur "öffentlichen Meinung" ist das aber eigentlich bereits bekannt: Die Aussagen sind soziale Wirklichkeit und insofern hoch bedeutsam, auch wenn sie vielfach widersprüchlich bleiben und Meinungen das Handeln keineswegs direkt und abschließend bestimmen. Das gilt selbst für Erwachsene, nicht nur für fünfzehnjährige Halbwüchsige wie in unserer Stichprobe.

In Deutschland haben Ende September 1996 etwa zwei Drittel der Menschen die einschneidenden Sparmaßnahmen der Regierung im Sozialbereich als überzogen und überflüssig abgelehnt. Gleichzeitig haben etwa zwei Drittel die Meinung vertreten, es müsse noch viel härter gespart werden. Weit über die Hälfte war zudem überzeugt, die Steuern müssten gesenkt werden (insbesondere der Spitzensteuersatz für die höchsten Einkommen). Das ist absolut widersinnig; aber man erkennt deutlich, in welchen Punkten Regierung und Opposition jeweils erfolgreich die "öffentliche Meinung" besetzt haben und beherrschen. Nur im Sinne solcher vager und fragwürdiger, aber gesellschaftstypischer und wichtiger Orientierungen vom Hörensagen sind unsere Daten und ihre Verteilung ernst zu nehmen.

 

2.3. Begriffe von "Demokratie"

Damit können wir zu den Begriffen von Demokratie überwechseln, bei denen versucht wurde, auch einige historische Erfahrungen einzufangen. Im Gesamtmittel der Stichprobe werden alle positiven Aussagen über Demokratie vorsichtig bis lebhaft akzeptiert (MOverall ≈ 3.39), alle negativen Äußerungen schwach zurückgewiesen (MOverall ≈ 2.71, vgl. z. B. Grafik 6). Solche kritischen Aussagen waren die (theoretisch und empirisch teilweise durchaus triftigen) Feststellungen der bloßen Akklamation für Parteiführer (vgl. Grafik 6), der Lenkung durch die Reichen und Mächtigen und der Schwäche in Krisenzeiten. Die Anmahnung bisheriger Defizite von Demokratie (Wohlfahrts-Staat und Frauen-Gleichberechtigung) erhalten im Durchschnitt schwache Zustimmung (MOverall ≈ 3.40). Am positivsten kommen die Definitionen als "Regierung des Volkes über das Volk für das Volk und durch das Volk" (Lincoln) und als "Gesetzesherrschaft und Minderheitenschutz" weg (MOverall ≈ 3.60, vgl. Grafik 6), während historische Ableitungen aus dem alten Griechenland und einem langen "Prozess von Versuch und Irrtum" wenig Resonanz finden (MOverall ≈ 3.10).

Der Verweis auf die "Erbschaft des klassischen Griechenland" z. B. findet nur in Griechenland Gegenliebe. Der Hinweis auf lange und schmerzhafte geschichtliche Erfahrungen und Experimente wird im östlichen Mittelmeer (außer Griechenland), aber auch in Teilen Skandinaviens (Finnland, Island, Schweden), Ostmitteleuropas (Ungarn, Slowenien) und Osteuropas (Litauen, Estland) nur neutral (und insgesamt oft "unentschieden") betrachtet. Das gilt überraschenderweise auch für Deutschland (43 % "bin unentschieden"). Generell kann man wohl erneut eine geringe Historisierung des Demokratiekonzepts (und zugleich etwas illusionäre Vorstellungen) festhalten. Speziell muss man fragen, warum einerseits Länder mit einer alten, unproblematischen demokratischen Tradition, andererseits gerade Muster diskontinuierlicher Entwicklung (Deutschland, Ungarn, Slowenien) die Prozesshaftigkeit nicht erkennen und anerkennen.

Damit sind wir von den Gesamtmittelwerten zu den länderspezifischen Verteilungen übergegangen. Sie fallen teilweise recht abweichend aus. Die Lincoln-Formel z. B. (vgl. Grafik 6) [/S. 219:]

 

wird in Skandinavien weit stärker akzeptiert als in Osteuropa und Ostmitteleuropa (wo Tschechien erstaunlich weit nach oben und Slowenien erstaunlich weit nach unten abweicht). In Westeuropa wird Demokratie ebenso intensiv mit Lincolns Definition verknüpft wie in Skandinavien, nur dass (leider) Deutschland und Großbritannien auf den osteuropäischen Standard abrutschen (MOst = 3.54, MOstmittel = 3.53 gegen MSüdwest = 3.87, MNordwest = 3.72). Noch höher als in Skandinavien aber ist die Zustimmung im östlichen Mittelmeerraum (Griechenland, Türkei und Israel mit Palästina) (MNahost = 3.96). Das ist nun schon ein vertrautes Bild.

Die drei negativen Feststellungen werden - wie erwähnt - im Mittel abgelehnt. Es lohnt sich aber, solche Länder herauszusuchen, die im einen oder anderen Punkt neutral stehen oder zustimmen. Dass Demokratie bloße Akklamation für Parteiführer sei ("Stimmviehargument" und "realistische Demokratietheorie" im Sinne von Schaumpeter, vgl. Grafik 6) wird in Bulgarien fest behauptet, aber auch in einer Reihe anderer "postsozialistischer" Länder (Russland, Ukraine, Polen, Slowenien), in einigen westlichen Ländern (Portugal, Großbritannien, Belgien) und unter arabischen Israelis anerkannt (MOst = 3.04, MOstmittel = 2.62 gegen MSüdwest = 2.56, MNordwest = 2.64 und MNahost = 2.63). Gerade für Jugendliche ohne den Willen zu eigenem politischen Engagement (das Gesamtmittel für politisches Interesse ist deutlich negativ, MOverall = 2.52) müsste diese Feststellung an sich als empirisch korrekt gelten.

Die Kritik an der Demokratie als einer "schwachen Regierungsforen" mit fehlender Eignung für Krisenzeiten wird in Polen und Großbritannien zwar nicht geteilt, aber neutral [/S. 219:] eingeschätzt. Auch in anderen osteuropäischen (erneut außer Litauen!) und ostmitteleuropäischen Ländern (erneut außer Tschechien!) hat sie merklich höhere Werte als in Nord- und Westmitteleuropa (MOst = 2.78, MOstmittel = 2.69 gegen MSüdwest = 2.52 MNordwest = 2.63). Freilich ist man auch in den iberischen Ländern und den arabischen Stichproben etwas skeptischer (MNahost = 2.47). Im ganzen sind die Unterschiede nicht radikal; das Muster zeigt leise Anklänge an den ehemaligen Ost-West-Gegensatz, geht aber bei weitem nicht darin auf.

Dieses Bild wiederholt sich bei der Kennzeichnung: Demokratie sei "ein Vorwand, der die Tatsache verdeckt, dass die Reichen und Mächtigen in der Geschichte immer gewonnen haben". Energischen Widerstand gegen diese Formulierung gibt es nur im Ostmittelmeer (Griechenland, Türkei, Israel, auch Italien) (MNahost = 2.61) und in Tschechien und Litauen. Hier ist offenbar die Konnotation zu "Demokratie" am positivsten, da diese Länderkombination immer wieder auftaucht, obwohl es sich vermutlich nicht gerade um die wirklich basisdemokratischen Länder Europas handelt. Die höchsten (teilweise positiven) Werte werden in den britischen und iberischen Samples sowie in Ost- und Ostmitteleuropa erreicht (jedoch keinerlei Ost-West-Abstufung: MOst = 2.88, MOstmittel = 2.81 gegen MSüdwest = 2.75, MNordwest = 2.83). Auch das ist mittlerweile ein geläufiges Muster.

Aus den Items lassen sich zwei zuverlässige Konstrukte herstellen, nämlich "affirmative Konzepte von Demokratie" und "kritische Konzepte von Demokratie". Es überrascht nicht, daß Großbritannien, Iberien, Ost- und (teilweise) Ostmitteleuropa ziemlich hohe Werte an "Demokratiekritik" haben, die Ostmittelmeerländer sehr niedrige (MOst = 0.25, MNahost = -0.24, MSüdwest = -0.13). Zu diesen nicht-demokratiekritischen Gruppen gehören auch die tschechischen und (abgeschwächt) die litauischen Befragten.

Bei der "Demokratieaffirmation" stehen Bulgarien, Griechenland und Italien mit den höchsten Werten krass gegen Slowenien und Finnland, aber auch Russland, Palästina, Ungarn, Estland und Deutschland mit recht niedrigen. Hier handelt es sich nicht primär um ein Ost-West-Gefälle (MOst = -0.02, MOstmittel = -0.10 gegen MSüdwest = 0.30 MNordwest = -0.08), sondern eher um einen rhetorisch-pathetischen Demokratiebegriff des "heißen" Südens im Vergleich zum pragmatischeren und zurückhaltenderen "kühlen" Norden (MSüdwest = 0.30 und MNordwest = -0.08). Wahrscheinlich hat das mehr mit einem allgemeinen Phänomen "Enthusiasmus" versus "Reserviertheit" zu tun als mit dem besonderen Thema Demokratie.

 

3. Überlegungen zu Ertrag und Grenzen

Betrachtet man die Gesamtheit der Äußerungen über "Demokratie", so drängen sich eine Reihe von Schlussfolgerungen auf:

  • Das Konzept "Demokratie" ist insgesamt nicht sehr lebhaft im Bewusstsein der Jugendlichen verankert; das ist wahrscheinlich ebenso eine Folge ihres niedrigen Alters wie des geringen politischen und partizipatorischen Engagements auch von erwachsenen Bevölkerungen insgesamt. Die ziemlich geringe Wertigkeit wird übrigens mit den anderen abstrakten Orientierungen hoher Ebene (Staat, Nation, Europa, Glaube) mehr oder weniger geteilt; die Befragten scheinen durch so allgemeine, globale und lebensweltferne Konzepte weithin überfordert. Das Eintreten für "mein Land" ist zwar etwas lebhafter, aber ausgesprochen chauvinistische Statements werden im Mittel zurückgewiesen.
  • Das Konzept der "Demokratie" wird nicht (oder wenig) historisiert, d.h. kaum für eine Orientierung in erkennbaren Änderungsprozessen von der Vergangenheit her über die Gegenwart auf die Zukunft hin benutzt. Auch darin gleicht es anderen abstrakten und globalen Begriffen wie Nation, Europa und Religion. Das ist gewiss auch ein Problem der Fragetechnik [/S. 220:] in kulturvergleichenden Studien mit geschlossenen Items (in Papier-Bleistift-Verfahren). Es ist aber sicher auszuschließen, dass es sich nur um einen Methodeneffekt handelt.
  • Die Stellung zur "Demokratie" ist deutlich mehrdimensional. Relevanz und Interesse, Einsicht und Engagement, Begriff und Geschichte, Erinnerung und Erwartung haben etwas miteinander zu tun, sind aber nicht einfach identisch. Im Begriff selbst lassen sich wenigstens zwei unabhängige Gesichtspunkte herausarbeiten nämlich "affirmative Konzepte" und "kritische Konzepte" (14). Theoretisch ist bei "Affirmation" (wohl vorwiegend des Anspruchs) und"Kritik" (sicher besonders der Wirklichkeit) von Demokratie nicht von einer einfachen Polarität auszugehen, sondern von komplementären, erst zusammen ein Gesamtbild ergebenden Dimensionen. Die Studie hat eine solche zwei- bis dreidimensionale Struktur (die in fast allen Ländern stabil bleibt) regelmäßig für geschichtliche Epochenassoziationen und historische Allgemeinbegriffe gefunden.
  • Auch hinsichtlich der Demokratiebegriffe und -Wertungen gibt es nennenswerte kulturelle Unterschiede zwischen den beteiligten Ländern. Diese folgen jedoch keineswegs dem einfachen Schema, dass die "postsozialistischen" Länder des "Ostens" viel weniger demokratiebegeistert (stattdessen demokratieskeptischer) seien als die "alt-marktwirtschaftlichen" des "Westens". Vielmehr gibt es schon auf der Ebene von Ländergruppen mehrere miteinander verzahnte, sich durchgitternde Muster, z. B. auch den größeren rhetorisch-pathetischen Enthusiasmus im Süden Europas gegenüber der größeren vorsichtig-zurückhaltenden Reserve in der Mitte und im Norden.
  • Diese Differenzierung setzt sich auf der Ebene der einzelnen Länder erkennbar fort. So sind Litauen und Tschechien eindeutig Länder mit einer Jugend, die ein größeres Demokratievertrauen entwickelt als die der Nachbarländer. Auf der anderen Seite zeigt Großbritannien eine auffällige, kaum glaubliche Distanz, die durch die Parallelität in beiden unabhängig gezogenen Teilgruppen (England/Wales und Schottland) noch zusätzlich gesichert wird. Durch die Studie werden aber auch Vorurteile und Befürchtungen zerstört. So trifft es z. B. keineswegs zu, dass in Russland "Demokratie" nur noch ein Schimpfwort sei und inzwischen "Demokrat" mit "betrügerischem Geschäftemacher" gleichgesetzt werde. Jedenfalls war es 1995 noch nicht so.
  • Trotz der oben genannten Mehrdimensionalität kann den Jugendlichen nicht ohne weiteres ein konsistentes Denken bescheinigt werden. Die Widersprüche oder Spannungen zwischen Einstellungen sind (aus der Meinungsforschung) ebenso bekannt wie die zwischen Einstellungen einerseits und tatsächlichem Verhalten andererseits. Die überwiegend "edlen", d. h. Menschenrechte, Fremdenfreundlichkeit, Gewaltfreiheit und Umweltschonung ausdrücklich bejahenden Überzeugungen setzen sich nicht oder nur sehr teilweise in Alltagshandeln um. Das kann man schon an Angaben zu anderen Teilen unseres Fragebogens kontrollieren; vielfach treten Nullkorrelationen auf, wo hohe positive (gelegentlich auch negative) Zusammenhänge zu erwarten wären (15).

Methodisch sollte noch angemerkt werden dass die Studie mit großer Sicherheit nicht Maximal-, sondern Minimalunterschiede zwischen dem Geschichts- und Politikbewusstsein [/S. 221:] in den beteiligten Nationen bzw. Kulturen gemessen hat. Das liegt einerseits an der geschlossenen Form der Fragen (statt offener Anreize) und der Notwendigkeit generellgemeineuropäischer Themen (statt nationsspezifischer Lieblings- und Tabuzonen), andererseits am begrenzten Reifestand (vor-politisches Alter) und an gemeinsamen Vorlieben der Befragten (Tendenzen zu einer einheitlichen, mode- und konsumbestimmten europäischen "Jugendkultur").

Bei der Benutzung der Befunde muss davor gewarnt werden, allzu eilfertig und voreilig von der empirischen Beschreibung von kulturellen Unterschieden zu ihrer politisch-moralischen Bewertung überzugehen. Wenigstens aus Sicht des Empirikers gibt es nicht umstandslos "gutes" und "schlechtes", "angemessenes" und "verfehltes" Geschichtsbewusstsein. Selbstverständlich sollen die Befunde zu einer gründlichen didaktischen Diskussion in den beteiligten Ländern beitragen; sorgfältige Diagnose und abwägende Selbstreflexion sind im zuverlässigen Vergleich mit Nachbar- und Kontrastländern natürlich wesentlich einfacher als ohne solche Informationen. Auch Handlungsmaximen und Reformmaßnahmen sollen dabei gefunden werden. Misslich erscheint aber eine gewissermaßen "diktatorische" Beurteilung seitens einer zentralen Analyse, die notwendigerweise Traditionen, Randbedingungen und Zielsetzungen in den einzelnen Ländern nur höchst unvollkommen kennen kann.

 

Anmerkungen

(1) Als umfangreiche Präsentation der Studie vgl. Magne Angvik/Bodo von Borries (eds.): Youth and History. A Comparative European Survey an Historical Consciousness and Political Attitudes among Adolescents. Volume A: Description, Volume B: Documentation (containing the Database an CD-ROM); Hamburg (edition Körber-Stiftung) 1997. Zur Einführung vgl. Ursula A. J. Becher, Bodo von Borries u.a.: Jugend-Politik-Geschichte. Ergebnisse des europäischen Kulturvergleichs "Youth and History". Hamburg (edition Körber-Stiftung) 1997. [/S. 209:]

(2) Vgl. Bodo v. Borries (unter Mitarbeit von Magne Angvik u.v.a.): Jugendliches Geschichtsbewusstsein im europäischen Kulturvergleich. Verfahren und Erträge einer empirischen Pilotstudie 1992. In: Bodo von Borries, Jörn Rüsen u.a.: Geschichtsbewusstsein im interkulturellen Vergleich. Zwei empirische Pilotstudien. Pfaffenweiler (Centaurus) 1994, S. 13-77 und Bodo von Borries: Exploring the Construction of Historical Meaning: Cross-Cultural Studies of Historical Consciousness among Adolescents. In: Wilfried Bos, Rainer H. Lehmann (eds.): Reflections on Educational Achievement. Papers in Honour of T. Neville Postlethwaite. Münster/New York 1995, S. 25-49.

(3) So bezeichnet man die Wahl sorgfältig überlegter und breit gestreuter, mit guten Gründen als typisch geltender Personen bzw. Klassen, wenn reine Zufallsziehung nicht möglich oder nicht finanzierbar ist.

(4) Wegen ihrer Ähnlichkeiten werden die vier UdSSR-Nachfolgestaaten und Bulgarien im folgenden oft als "Osteuropa" oder "Ost" bezeichnet, die übrigen fünf "postsozialistischen" Länder als "Ostmitteleuropa oder Ostmittel".

(5) Die Niederlande haben erst 1996 mit Verspätung ihre Daten abgeliefert, die daher als Anhang behandelt werden.

(6) In einigen der zitierten statistischen Analysen sind Griechenland, Portugal, Spanien und Italien (mit Südtirol) als "Südwest", Skandinavien, Großbritannien, Frankreich, Belgien und Deutschland als "Nordwest" zusammengefasst. [/S. 210:]

(7) In vielen angeführten Analysen sind die Türkei, Israel und Palästina als "Nahost" zusammengefasst; es ist jedoch festzustellen, dass in manchen Fällen eine Einbeziehung von Griechenland in die "Levante" und von Israel nach "Mitteleuropa" noch klarere Ergebnisse liefern würde.

(8) In der Studie werden z. B. "enthusiastische" Länder mit stärkerer Bejahungstendenz gegenüber allen Aussagen und "reservierte" Kulturen mit größerer Skepsis bei jeder Frage gefunden. Dieser Unterschied betrifft auch die Bereitschaft zu vollständigen Antworten, d.h. zur Bearbeitung aller Fragen.

(9) M meint Mittelwert, MOverall den Mittelwert aller Befragten. Der erste zitierte Wert zeigt, wie oben erwähnt, dass die Neuntklässler im Durchschnitt "Demokratie" zwischen "weder - noch" und "etwas wichtig" ansiedeln, der zweite dagegen bedeutet eine mittlere Einschätzung von "Meinungsfreiheit" zwischen "etwas wichtig" und "sehr wichtig".

(10) Zu den Gruppierungen "Ost", "Ostmittel", "Südwest", "Nordwest" und "Nahost" vgl. Fußnoten (4), (6) und (7).

(11) Es besteht auch eine recht hohe Korrelation beider Items, so dass sie gemeinsam als Kurzskala zu verwenden sind. [/S. 214:]

(12) Statistisch misst man solche Ähnlichkeiten als "Korrelationen" (r), d. h. als Quadratwurzeln gemeinsamer Varianz. Der hier vorliegende Koeffizient (r = .37, d. h. 13,7 % erklärte Varianz) ist beachtlich. [/S. 215:]

(13) Ein Fünftel Skalenpunkte Abstand ist das absolute Maximum; die Korrelation ist überragend (r = .66 oder 43,6% gemeinsame Varianz). [/S. 217:]

(14) Statistisch handelt es sich um orthogonale Faktoren; in diesem Sinne erzwingt also die Rechenoperation die Unabhängigkeit.

(15) Als Beispiele erwarteter, aber fehlender bzw. sehr niedriger Zusammenhänge seien genannt: Wichtigkeit von Frieden um jeden Preis und Bereitschaft zur Gewaltanwendung bei Wiedergewinnung eines verlorenen Territoriums (r = -.08), Wichtigkeit eigener Ethnizität und Wahlrecht für alle Ausländer (r = -.01), Befürwortung strafferer Polizei-Ordnung (gegen Ausländerzuzug) und Hitler als Ordnungsstifter und Vermischungsgegner (r ≈ .00) und Kolonialismus als Ausbeutung und Kolonialreparationen nach dem Prinzip von Schuld und Vergeltung (r = .17).
 

Literatur

Angvik, Magne; Borries, Bodo von (eds.) (1997): Youth and History. A Comparative European Survey an Historical Consciousness and Political Attitudes among Adolescents. Volume A: Description. Volume B: Documentation (containing the Database an CD-ROM). Hamburg: Körber-Stiftung.

Becher, Ursula A. J.; Borries, Bodo von u.a. (1997): Jugend-Politik-Geschichte. Ergebnisse des europäischen Kulturvergleichs "Youth and History". Hamburg: Körber-Stiftung. [/S. 209:].

Borries, Bodo von (unter Mitarbeit von Magne Angvik u.v.a.) (1994): Jugendliches Geschichtsbewußtsein im europäischen Kulturvergleich. Verfahren und Erträge einer empirischen Pilotstudie 1992. In: Borries, Bodo von; Rüsen, Jörn u.a.: Geschichtsbewußtsein im interkulturellen Vergleich. Zwei empirische Pilotstudien. Pfaffenweiler: Centaurus, Seite 13-77.

Borries, Bodo von (1995): Exploring the Construction of Historical Meaning: Cross-Cultural Studies of Historical Consciousness among Adolescents. In: Bos, Wilfried; Lehmann, Rainer H. (eds.): Reflections on Educational Achievement. Papers in Honour of T. Neville Postlethwaite. Münster, New York, Seite 25-49.