Das gefährliche Bildungsverständnis des Bundesfinanzhofes

Zur Bedeutung des Attac-Gemeinnützigkeitsurteils für die politische Bildungsarbeit

Vorwort vom 15. Juni 2020 zur Veröffentlichung auf sowi-online.de

Das Attac-Urteil des Bundesfinanzhofs vom Februar 2019 führte wie befürchtet dazu, dass das Hessische Finanzgericht am 26. Februar 2020 die Klage von Attac gegen die Aberkennung der Gemeinnützigkeit durch das Finanzamt Frankfurt abgewiesen hat. Attac will die Gemeinnützigkeit seines politischen Engagements durch alle Instanzen verteidigen. Attac hat im Juni 2020 Revision beim Bundesfinanzhof (BFH) gegen das Urteil des Hessischen Finanzgerichts eingelegt. Der BFH könnte sein umstrittenes Urteil aus 2019 nun korrigieren. Sollte dies nicht geschehen, will Attac notfalls Verfassungsbeschwerde einlegen. Bis dahin bleibt das Urteil bedrohlich für alle Vereine, die - auch mit ihrer politischen Bildungsarbeit - auf Politik Einfluss nehmen wollen. In den vergangenen Monaten haben Finanzämter auch bezugnehmend auf das BFH-Urteil weiteren Vereinen die Gemeinnützigkeit entzogen. Viele Vereine und Institutionen der demokratischen Zivilgesellschaft organisieren seither ihren Protest dagegen. Ihr Ziel ist eine Reform der Abgabenordnung in Bezug auf die gemeinnützigen Zwecke von Vereinen.

Im Jahr 2014 entzog das Finanzamt Frankfurt der globalisierungskritischen Organisation Attac den Status der Gemeinnützigkeit. Ein zentrales Argument lautete dabei, Attac beschränke sich nicht auf die satzungsmäßigen Zwecke, darunter auch Bildungsarbeit ('Volksbildung'). Vielmehr mische sich die Organisation, unter anderem mit den Forderungen nach einer Finanztransaktionssteuer und der Schließung von Steueroasen, in die Tagespolitik ein. Dagegen hat Attac vor dem Hessischen Finanzgericht geklagt. Dieses entschied in November 2016, Attac sei sehr wohl gemeinnützig und begründete dies unter anderem wie folgt:

Mit dem Demokratieprinzip korrespondiert der Zweck der Volksbildung. Unter Volksbildung fallen dabei insbesondere auch die politische Bildung und die weltanschauliche Bildung. [...] Die für eine Demokratie notwendige Ausgewogenheit der demokratischen Willensbildung setzt zwingend eine entsprechende Bildung und Kenntnisse von den bestehenden Zusammenhängen voraus. Politische Bildung muss dabei sachlich und möglichst umfassend informieren [...]. Dabei ist nicht nur die Darstellung des status quo erlaubt, sondern vielmehr ist es geboten, gesellschaftspolitische Themen aufzugreifen und auch Alternativen darzustellen. Hier taucht zwangsläufig wieder die politische Komponente auf. Auch besteht Bildung nicht nur in theoretischer Unterweisung, sondern kann auch durch den Aufruf zu konkreten Handlungen ergänzt > werden

Das Urteil des Bundesfinanzhofs

Das Hessische Finanzgericht ließ keine Revision zu diesem Urteil zu. Das Finanzamt Frankfurt legte daraufhin, auf Weisung durch das Bundesfinanzministerium, eine Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesfinanzhof (BFH) ein. Im Februar 2019 sprach der BFH sein Urteil und verwies das Verfahren an das Hessische Finanzgericht zurück. Mit seiner Sicht der Dinge hat der BFH der bevorstehenden Entscheidung des Finanzgerichts enge Grenzen gesetzt.

Das Urteil des BFH ist in zweierlei Hinsicht höchst problematisch, erstens mit Blick auf das Verständnis von politischer Bildung und zweitens hinsichtlich seiner Auffassung der demokratischen Zivilgesellschaft. Die beiden entsprechenden Leitsätze des Urteils lauten:

Bei der Förderung der Volksbildung [...] hat sich die Einflussnahme auf die politische Willensbildung und Gestaltung der öffentlichen Meinung auf bildungspolitische Fragestellungen zu beschränken. > [...] Politische Bildung vollzieht sich in geistiger Offenheit. Sie ist nicht förderbar, wenn sie eingesetzt wird, um die politische Willensbildung und die öffentliche Meinung im Sinne eigener Auffassungen > zu beeinflussen.

Fehlende Rechtssicherheit

Doch warum spielt die politische Bildung im Zusammenhang mit der Frage der Gemeinnützigkeit überhaupt so eine große Rolle und warum beschäftigen sich gerade die Finanzgerichte damit? Vereine, die als gemeinnützig anerkannt sind, werden steuerlich begünstigt (Spender*innen können ihre Zuwendungen von der Steuer absetzen). Gesetzlich geregelt ist dies in der Abgabenordnung und da dort zahlreiche wichtige gemeinnützige Zwecke fehlen, unter anderem der Einsatz für Menschenrechte, berufen sich viele Vereine, die Bildungsarbeit machen, (auch auf Anraten von Finanzämtern) auf den anerkannten Zweck der 'Volksbildung'.

Wenn der BFH den Zweck der 'Volksbildung' nun – ganz im Gegensatz zum Finanzgericht Kassel – auf 'bildungspolitische Fragstellungen' einschränken will, wird damit zahlreichen Organisationen die Möglichkeit der politischen Bildungsarbeit und der politischen Aktivität zu relevanten gesellschaftspolitischen Themen entzogen. Der Gesetzgeber sollte also dringend ein zeitgemäßes Gemeinnützigkeitsrecht schaffen, wie es zahlreiche Vereine und Verbände u.a. auf www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de fordern. Kurzfristig müssten zumindest die gemeinnützigen Zwecke in der Abgabenordung ergänzt werden, um Rechtssicherheit für zivilgesellschaftliche Organisationen zu schaffen.

Bildungsarbeit sollen ja gerade für das Gemeinwesen wirksam werden.

Was bedeutet geistige Offenheit?

Weiterhin proklamiert der BFH, dass "geistige Offenheit" eine Voraussetzung für gemeinnützige politische Bildungsarbeit sei. Im Falle von Attac hat der BFH diese 'geistige Offenheit' bezweifelt, während andere zivilgesellschaftliche Organisationen, die allgemeinpolitische Ziele verfolgen – wie die Deutsche Gesellschaft für Wehrtechnik oder eine stetig wachsende Zahl einflussreicher unternehmensnaher Stiftungen – weiterhin als gemeinnützig gelten. Dies erweckt den Eindruck, dass bestimmte politische Stoßrichtungen von staatlicher Seite akzeptiert werden, andere, dezidiert herrschaftskritische aber nicht. Damit würde dem gesellschaftlichen Pluralismus die Grundlage entzogen. Doch woher nehmen die Richter*innen die "geistige Offenheit" als Kriterium förderfähiger politischer Bildungsarbeit eigentlich? Dies leitet sich nicht aus Bundes- oder Landesgesetzen zur politischen Bildungsarbeit ab. Im Gegenteil ist dort die politische Bildungsarbeit als Förderbereich verankert und zwar gerade auch für Bildungsträger, die Organisationen nahestehen, die auf Politik und politische Willensbildung Einfluss nehmen, zum Beispiel Gewerkschaften oder Kirchen. Ihr Verständnis von Zweckbildung ist dabei als normatives erkennbar.

Politische Bildung ist notwendig normativ

Auch das staatliche Bildungssystem verfolgt normative Ziele, die im Bildungsprozess selten ausgewiesen werden, aber letztlich durch Grundgesetz und Landesverfassungen vorgegeben sind. Ebenso wenig ist der Katalog der Abgabenordnung völlig 'offen' und er kann es auch nach einer Erweiterung und Aktualisierung nicht sein, denn auch ihm liegt immer ein normatives Verständnis zu Grunde, welche Aktivitäten dem Gemeinwesen nützen und welche nicht. Den Rahmen für politische Bildungsarbeit setzen tatsächlich das Grundgesetz und zuvorderst die Grundrechte. Doch das Grundgesetz gibt in vielen gesellschaftspolitischen Diskursen keine Denkrichtung vor. Kritik an bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnissen, Praxen sozialer Ungleichheit oder ökologischer Ausbeutung der Natur widersprechen nicht dem Grundgesetz. Weder der Kapitalismus als Wirtschaftsordnung, noch Kohlekraftwerke oder die Nicht- Besteuerung von Finanztransaktionen sind verfassungsmäßig geschützt. Eine Kritik an diesen Verhältnissen zeugt dementsprechend auch nicht für eine fehlende geistige Offenheit, sondern vielmehr für eine geistige Öffnung, da sie von der Veränderbarkeit des Bestehenden, also von demokratischer Entwicklung ausgeht. Einrichtungen der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung, die mit ihren Initiativen, Aktionsformen, Bildungsprogrammen und Materialien bestehende Verhältnisse kritisieren, fördern die Öffnung gesellschaftspolitischer Diskurse und sind daher wesentlicher Bestandteil unserer Demokratie.

Ein anachronistisches Demokratieverständnis

In diesem Zusammenhang zeugt das BFH-Urteil auch von einer anachronistischen Vorstellung von demokratischen Strukturen in der Bundesrepublik. Die Zufriedenheit mit Parteien und das Vertrauen in die repräsentative Demokratie sinken, obwohl zugleich das politische Interesse und die Bereitschaft zur unkonventionellen Teilhabe steigen. Immer mehr Menschen engagieren sich in Bürger*inneninitiativen, nehmen an Demonstrationen, Streiks und anderen Protestformen teil. Gesellschaftliche Kontroversen werden heute zu einem erheblichen Teil von Initiativen, Verbänden und Vereinen geprägt. Sie sind Teil einer pluralistischen und emanzipatorischen Zivilgesellschaft. Der Bildungsarbeit dieser Organisationen die geistige Offenheit abzuerkennen, weil sie die bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse nicht stützt, sondern kritisch hinterfragt und verändern will, delegitimiert die für unsere Gesellschaft so bedeutsame politische Zivilgesellschaft. Errungenschaften unserer modernen Gesellschaft sind auch auf aufklärerische Bildungsarbeit von Vereinen und Verbänden zurückzuführen. Ihnen die Einflussnahme auf politische Willensbildung abzusprechen, ist unangemessen und birgt die Gefahr einer vollständigen Entpolitisierung. Sie nimmt der Zivilgesellschaft die Möglichkeit zur politischen Selbstbildung und damit zur wirksamen Mitgestaltung.

Politische Bildung als zweite Säule politischer Willensbildung

Der Motor einer sich entwickelnden demokratischen und emanzipativen Gesellschaft ist der Mut, die Verhältnisse zu hinterfragen. Ein wesentliches Instrument dafür sind die vielfältigen Formen politischer Bildungsarbeit. Sie schaffen Räume, um gesellschaftliche und ökonomische Konventionen zu verteidigen, aber auch aus unterschiedlichsten Perspektiven zu kritisieren und politische Alternativen, gar Utopien zu diskutieren. Das ist die zweite Säule politischer Willensbildung, neben der Arbeit in politischen Parteien. "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus" (Artikel 20 GG), bedeutet nicht, dass der Staat die politische Meinungs- und Willensbildung übernimmt, sondern, dass diese als demokratisches Prinzip strikt von den Bürger*innen ausgeht. Wenn sich diese Menschen vermehrt in Initiativen, Verbänden und Vereinen und immer weniger in Parteien organisieren, muss die Politik darauf reagieren und gesetzlichen Grundlagen dafür schaffen – und nicht die vorhandenen gesetzlichen Strukturen, die dieses Engagement grundsätzlich ermöglichen, restriktiv gegenüber herrschaftskritischen Organisationen auslegen.

Forum kritische politische Bildung HP: www.kritische-politische-bildung.de

Kontakt:

  • Prof. Dr. Julika Bürgin, Professorin am Fachbereich Soziale Arbeit der Hochschule Darmstadt, Mail: julika.buergin@h-da.de
  • Prof. Dr. Andreas Eis, Professor für Didaktik der Politischen Bildung, Universität Kassel, Mail: andreas.eis@uni-kassel.de, Tel.: 0561-804 7917
  • Anja Hirsch Politische Bildnerin, Mail: anjahirsch@posteo.de
  • Steve Kenner, Wiss. Mitarbeiter am Institut für Didaktik der Demokratie (IDD), Universität Hannover Mail: steve.kenner@idd.uni-hannover.de, Tel.: 0511/762-14559
  • Henrik Peitsch Studienrat i.R., Mai: henrik.peitsch@t-online.de