Politische Rede

1. Zielsetzung

Politische Reden sind in der Regel im Voraus überlegte mündliche Mitteillungen, die sich an eine (oftmals öffentliche) Zuhörerschaft wenden und mittels derer der Redner eigene politische Gedanken vorträgt. Die Analyse politischer Reden als einer typischen Textgattung der sozialwissenschaftlichen Bildung kann zwei Ziele verfolgen. Einerseits bietet sich die Möglichkeit einer ideologiekritischen inhaltlichen Analyse, die dazu beitragen kann, politische Phänomene wahrzunehmen, zu verstehen und Aussagen über deren Zusammenhänge zu tätigen. Darüber hinaus kann eine politische Rede als Anlass zu umfassenderen Prozessen politischen Lernens, insbesondere zur Auseinandersetzung mit der jeweiligen politischen Kultur, genutzt werden (Tischner 2010). Im Mittelpunkt steht dann nicht mehr ausschließlich der Inhalt der Rede, sondern vielmehr die Analyse und Reflexion des Verhältnisses von Inhalt und Form (z.B. stilistische Mittel), der äußere Anlass und die Art der Kommunikation zwischen Redner und Zuhörern bzw. das rhetorische Geschick des Redners. Ein solches Vorgehen schärft Analyse- und Urteilsfähigkeit der Lernenden, denn sie fordert auf, sich in die Position sowohl des Redners als auch der Zuhörer (zu dem als Adressaten natürlich auch die Lernenden selbst gehören können) hineinzuversetzen. Zudem ermöglicht eine umfassende Analyse auch das Einüben von Sprachkritik. Darüber sowie über das Verfassen und Vortragen eigener politischer Reden im sozialwissenschaftlichen Unterricht durch Schüler kann sprachreflexive Kompetenz vermittelt und die Argumentationsfähigkeit gestärkt werden. So erschließen sich auch Möglichkeiten fächerübergreifenden Lernens mit dem Deutsch-Unterricht.

2. Sprache, Politik und politische Rede: theoretischer Hintergrund

2.1 Politisches Handeln als kommunikatives Handeln

Politisches Handeln ist eng mit kommunikativem Handeln verknüpft. Selbst wenn man nicht so weit gehen will, Politik vorrangig kommunikationsorientiert zu definieren, kann doch nicht negiert werden, dass Sprache im Rahmen des Politischen eine entscheidende Funktion zukommen (vgl. zur Diskussion der Rolle von Sprache in der Politik (Girnth 2002, S. 1-3), dient sie doch den politisch handelnden und argumentierenden Personen dazu, öffentlichkeitswirksam Zustimmung zu erzeugen. Hinzu kommt, dass „Kommunikation und Information […] Grundkategorien der westlichen Demokratie-Auffassung“ sind (Niehr 2014: 11), die diskursive Meinungsbildung erst ermöglichen sollen.

Gleichwohl muss beachtet werden, dass politische Sprache – insbesondere in politischen Reden – vor allem einen persuasiven oder auch werbenden Grundcharakter verfolgt und nicht in erster Linie der Wahrheitsfindung verpflichtet ist. Mittels politischer Reden soll Zustimmungsbereitschaft zur politischen Grundhaltung oder auch bestimmten politischen Positionen des jeweiligen Redners oder der von ihm vertretenen Institution erzeugt werden. Werbung ist damit immer auch mindestens implizites, oftmals sogar explizites Ziel politischer Reden. Schließlich geht es in der Politik im Allgemeinen um das Durchsetzen von Interessen und Herrschaftsansprüchen, in repräsentativen Demokratien also um die Beeinflussung des Wählerwillens (Girnth 2002: 38f.). Typisches Beispiel für persuasive Reden sind Wahlkampf- oder auch Debattenreden. Neben der Überzeugung des Wählers können gerade Debattenreden im Parlament auch der Überzeugung von Abweichlern innerhalb der eigenen Fraktionen dienen (insbesondere bei fehlender Fraktionsdisziplin). Mit Hilfe politischer Reden lassen sich zusätzlich (in Abhängigkeit vom Redetyp, siehe unten) zur persuasiven Grundfunktion auch weitere Ziele verfolgen. Insbesondere ist hier auf die Integrationsfunktion zu verweisen, die zur Ausprägung eines Wir-Gefühls führen soll. Beispielhaft hierfür sind die Gedenkreden der Bundespräsidenten, die ja auch von ihrer politischen Funktion repräsentative Aufgaben erfüllen und nicht in das politische Tagesgeschäft eingreifen sollen.

Der politischen Rede wird im bundesdeutschen politischen System eine abnehmende Relevanz zugesprochen – auch, weil zahlreiche inhaltliche Entscheidungen nicht erst im Anschluss an Reden getroffen werden, sondern durch Reden nur nachträglich legitimiert werden sollen. Die diesbezüglichen Vorwürfe reichen bis hin zu latenter Despotie (König 2011: 135). Ursache dieser Vorwürfe ist vor allem eine Funktionsveränderung des Parlaments weg vom Rede- hin zum Arbeitsparlament, in dem die Arbeit vorwiegend nicht mehr im Plenum, sondern in den Ausschüssen und Fraktionssitzungen getroffen wird. Der Rede wird in diesem Kontext vor allem ihr argumentativer Charakter genommen. Die Redeanalyse ist trotz dieses Wandels nach wie vor als Methode im sozialwissenschaftlichen Unterricht hoch relevant. Das rührt insbesondere aus der Mehrfachadressierung der Redebeiträge, die nicht nur an die Abgeordneten gerichtet sind, sondern wie oben bereits dargestellt eben immer auch an die Bürger als potenzielle Wähler. So soll mittels politischer Reden um Akzeptanz für eine politische Entscheidung oder ein Gesetz in der Bevölkerung geworben werden. Das Parlament wird damit zum Schaufenster des „aktuelle[n] Angebot [s] auf dem politischen Markt“ (Burkhardt 2005: 85f.). Auch darf bei der Diskussion um die Relevanz politischer Reden nicht vergessen werden, dass Politikberatung inklusive Redenschreiben ein boomender Zweig ist (wie sich anschaulich vor allem im Rahmen amerikanischer Präsidentschaftswahlkämpfe beobachten lässt) (Kramer 2009).

Politische Reden sollen die politische Willensbildung beeinflussen. Dennoch muss bedacht werden, dass im Zuge massenmedialer Kommunikation weniger komplette Reden als Auszüge aus diesen rezipiert und kommentiert werden. Oftmals bleiben sogar nur einzelne Sätze über, etwa „Der Islam gehört zu Deutschland“ aus der Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit des damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff oder „Die Rente ist sicher“ von Norbert Blüm. Diese transportieren zwar einerseits den inhaltlichen Kern der Rede; Begründungsmuster, die zu den entsprechenden Aussagen führen, bleiben aber unberücksichtigt. Im Hinblick auf die Lernziele politischer Bildung (insbesondere Analysekompetenz) sollten daher auch vollständige Reden oder größere Auszüge aus diesen im sozialwissenschaftlichen Unterricht analysiert bzw. interpretiert werden. So können Lernende zum einen die Intention des Redners auch die jeweiligen Kernaussage(n) herausarbeiten. Zum anderen üben sie die Fähigkeit des Verstehens von Situationsdeutungen, Motiven, aber auch der Rede als Handlungsform ein. Ergänzend ist es empfehlenswert eine politische Rede auch im Kontext ihrer medialen Rezeption zu thematisieren. Eine Analyse des Diskurses bietet sich gerade als Methode für die Sekundarstufe II an.

2.2 Sprachliche Stilmittel der politischen Rede

Nachfolgend sollen abschließend einige kurze Bemerkungen zur im Rahmen politischer Reden verwendeten Sprache erfolgen. Sprache bzw. die in den Reden verwendeten Wörter erfüllen weitestgehend drei Funktionen (Klein 2005: 128), die hier am Beispiel Demokratie näher erläutert werden: 1. Deskription: inhaltliche Beschreibung der in der Rede dargestellten/aufgegriffenen Dinge, Personen und Phänomene (Demokratie definiert als Herrschaft des Volkes) 2. Evaluation: emotionale Bewertung der dargestellten Dinge, Personen und Phänomene (Demokratie als erstrebenswerter, positiv bewerteter Zustand) 3. Präskription: Appell an den Adressaten, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten (Aufforderung, sich demokratisch zu verhalten und z.B. Bürgerrechte und -pflichten zu beachten, etwa regelmäßig zu wählen oder im Sinne solidarischen Gemeinwesens Steuern zu zahlen).

Insbesondere für die demokratierelevante Funktion der Rede um Legitimation und Persuasion ist das sogenannte Ideologievokabular zentral. Als Kernbestand des Ideologievokabulars gelten Symbolwörter, denen in der öffentlichen Kommunikation aufgrund ihrer (positiven) Anziehungskraft zentrale Bedeutung zukommt. Typische Beispiele hierfür sind Begriffsbezeichnungen demokratischer Grundwerte wie Gerechtigkeit oder Freiheit. Gerade weil es für diese Begriffe oftmals keine einheitliche inhaltliche Bestimmung gibt (=Polysemie), entwickelt sich an ihnen ein „Kampf um Wörter“ (Girnth 2002: 62), bei dem es darum geht, Bedeutungshoheit für die Symbolwörter zu erlangen und sie als Maxime der eigenen Politik zu kennzeichnen. Herausragendes Beispiel hierfür ist der Begriff der sozialen Gerechtigkeit, den sich beispielsweise unterschiedliche Parteien in unterschiedlicher Lesart zuschreiben (z.B. als Chancengerechtigkeit oder Leistungsgerechtigkeit). Zum Ideologievokabular zählen aber auch semantische Neukonstruktionen. Beispielhaft hierfür sind „Aktivierende Sozialpolitik“, „Fordern und Fördern“ oder „Selbstverantwortung“, die im Zuge sozialpolitischer Reformen eingesetzt werden, um den Abbau sozialer Leistungen zu legitimieren (siehe weitere Beispiele bei Kolbe 2012). Mit der Hilfe des Ideologievokabulars sollen vor allem Emotionen geweckt und Bewertungen nicht nur hinsichtlich der konkreten politischen Inhalte, sondern auch der politischen Arbeit von Personen und Institutionen, hervorgerufen werden. Ideologie ist in diesem Zusammenhang als wertneutraler, nicht normativ eingefärbter Begriff zu sehen.

3. Typologie politischer Rede

In der politischen Kommunikation werden zwei Hauptklassen von politischer Rede unterschieden: Dissensorientierte Reden, die Bezug auf widerstreitende Meinungen nehmen und sich selbst als Teil dieser Auseinandersetzung verstehen sowie konsensorientierte Reden, die den Anspruch auf die Darstellung von Einigkeit erheben (Klein 2000: 748). In Abbildung 1 werden die einzelnen Typen dieser Hauptklasse in ihren grundsätzlichen Merkmalen knapp dargestellt. Angesichts veränderter Formen politischer Kommunikation sollte man die dargestellte Typologie der politischen Rede um weitere Redeformen ergänzen. Zu benennen sind hier neben Fernsehauftritten (etwa in Talkshows oder Politmagazinen) und Interviews für die Massenmedien auch neue Formen politischer Rede in Form von zum Beispiel regelmäßigen Podcasts (Kramer 2009: S. 13). „Durch technische Innovation sind […] neue Möglichkeiten der politischen Rede entstanden, die das Forum als Idealbild rhetorischer Öffentlichkeit im Zeitalter der Massendemokratien wieder aktuell erscheinen lassen.“ (ebd.:S. 14). Neben politischer Kommunikation, die (hauptamtlichen) von Politikern ausgeht, kann hier auch auf Petitionsplattformen oder Weblogs verwiesen werden. Diese stellen zwar Instrumente zur Demokratisierung der Rede dar, schaffen aber auch ein Podium für die Verbreitung extremistischer Inhalte. Die Auseinandersetzung mit diesen letztgenannten Formen politischer Kommunikation/politischer Rede erscheint gerade im Zuge der Ausbildung von Mündigkeit als übergeordnetem Leitbild politischer Bildung von Bedeutung und ergänzt das Spektrum möglicher Inhalte im Rahmen der Methode „politische Rede“.

Klassische Typologie politischer Rede Tabelle - Bild

4. Schema für die Analyse einer politischen Rede

Im sozialwissenschaftlichen Unterricht sind Analyse-, Urteils- und Handlungskompetenz zu fördern. Damit die Auseinandersetzung mit politischen Reden nicht nur bei einer Beschreibung von Redesituation, Redebeteiligten und Rhetorik stehen bleibt, sind daher vor allem Interpretations- und Bewertungsleistungen der Lernenden zu fokussieren. Im Rahmen der Interpretation steht ein kritisch-reflexives Lesen der politischen Rede im Vordergrund, mit dessen Hilfe vor allem hinterfragt werden kann, wer Adressat ist und mit welchen Mitteln die politische Rede meinungsbildend wirken soll.

4.1 Analyse politischer Reden

  1. Inhalt
    • Worum geht es in der Rede? Was ist das zentrale Thema?
    • Welche zentralen Thesen werden aufgestellt?
    • Mit welchen Argumenten werden die Thesen belegt? Werden Gegenargumente aufgegriffen?
    • Werden Schlüsselbegriffe, Schlagworte, sprachliche Bilder genutzt?
    • Ist die Argumentation logisch und stringent?
  2. Redner
    • Wer ist der Redner? In welcher Funktion spricht er?
    • Vollzieht der Redner bestimmte Sprachakte (etwa kritisieren, leugnen, rechtfertigen)? Kann man daraus auf eine bestimmte Absicht, die der Redner verfolgt, schließen?
    • Welcher weltanschaulichen (ideologische) Überzeugung ist der Redner zuzurechnen?
  3. Adressaten
    • An wen richtet sich die Rede? Politische Anhänger oder Gegner, politische Eliten, die Öffentlichkeit oder eine indifferente Gruppe?
    • Bezieht der Redner die Adressaten in seine Rede ein? Wie geschieht dies (etwa durch direkte Ansprache)?
    • Welche weltanschaulichen Überzeugungen sind bei den Zuhörern zu erwarten?
  4. Kontext
    • Wann und wo wird die Rede gehalten? Welche politische/ gesellschaftliche/ ökonomische Situation liegt vor?
    • Ist die Rede geplant oder findet sie eher spontan statt?
    • Hat die Rede auf das nachfolgende (politische) Geschehen einen bedeutsamen Einfluss (etwa indem Sie meinungsbildend wirkt oder Diskussionen und Kontroversen hervorruft)?
  5. Sprachliche und rhetorische Analysen
    • Welchem Redetyp ist die Rede zuzuordnen (etwa Wahlkampfrede, Parlamentsrede, Sachvortrag usw.)?
    • Ist ein sinnvoller Aufbau/ ein roter Faden erkennbar?
    • Werden besondere sprachliche und rhetorische Mittel eingesetzt (etwa Fremdwörter/ Fachsprache/ Metaphern/ Vergleiche)? Welche Wirkung soll damit vermutlich erzielt werden? Was möchte der Redner erreichen?

Verändert nach: Gora (1992): S. 60.

5. Beispielrede und Einordnung in eine Unterrichtseinheit „Aktivierende Sozialpolitik - Zumutung oder Meilenstein“

Im März 2003 kündigte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder in einer Regierungsrede umfassende und einschneidende Reformen (= so genannte „Agenda 2010“) insbesondere im Bereich der Arbeitsmarktpolitik an:

Regierungserklärung des Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) "Mut zum Frieden und zur Veränderung" ["Agenda 2010"] vom 14.03.2003

„Wir müssen den Mut aufbringen, in unserem Land jetzt die Veränderungen vorzunehmen, die notwendig sind, um wieder an die Spitze der wirt­schaftlichen und der sozialen Entwicklung in Eu­ropa zu kommen. [...] Ich möchte Ihnen heute Punkt für Punkt darlegen, welche Maß­nahmen nach Überzeugung der Bundesregie­rung vorran­gig ergriffen und umgesetzt werden müssen - für Konjunktur und Haushalt, für Ar­beit und Wirt­schaft, für die soziale Absicherung [...]. Wir wer­den Leistungen des Staates kürzen, Eigenverant­wortung fördern und mehr Eigen­leistung von jedem Einzelnen abfordern müs­sen. [...]

Die Struktur unserer Sozialsysteme ist seit 50 Jahren praktisch unverändert geblieben. An man­chen Stellen, etwa bei der Belastung der Arbeits­kosten, führen Instrumente der sozialen Sicher­heit heute sogar zu Ungerechtigkeiten. Zwischen 1982 und 1998 sind allein die Lohn­nebenkosten von 34 auf fast 42 Prozent gestie­gen. Daraus ergibt sich nur eine Konsequenz: Der Umbau des Sozial­staates und seine Erneue­rung sind unab­weisbar geworden. Dabei geht es nicht darum, ihm den Todesstoß zu geben, son­dern aus­schließlich da­rum, die Substanz des Sozialstaates zu erhalten. Deshalb brauchen wir durchgrei­fende Verände­rungen. [...]

Arbeit und Wirtschaft, das ist das Herzstück un­serer Reformagenda. Eine dynamisch wach­sende Wirtschaft und eine hohe Beschäfti­gungsquote sind die Voraussetzungen für einen leistungsfähi­gen Sozialstaat und damit für eine funktionie­rende soziale Marktwirtschaft. Wir wollen das Ziel nicht aufgeben, dass jeder, der arbeiten kann und will, dazu auch die Möglich­keit bekommt. [...] Meine Damen und Herren, wir können es nicht dabei belassen, die Bedin­gungen für die Wirtschaft und die Arbeits­märkte zu verbessern. Wir müssen auch über das System unserer Hilfen nachdenken und uns fragen: Sind die sozialen Hilfen wirklich Hilfen für die, die sie brauchen? Ich akzeptiere nicht, dass Menschen, die arbeiten wollen und kön­nen, zum Sozialamt gehen müs­sen, während andere, die dem Arbeitsmarkt wo­möglich gar nicht zur Verfügung stehen, Ar­beitslosenhilfe beziehen. Ich akzeptiere auch nicht, dass Men­schen, die gleichermaßen bereit sind zu arbei­ten, Hilfen in unterschiedlicher Höhe bekom­men. Ich denke, das kann keine erfolgrei­che Integration sein. Wir brauchen deshalb Zu­stän­digkeiten und Leistungen aus einer Hand. Da­mit steigern wir die Chancen derer, die arbei­ten können und wollen. Das ist der Grund, wa­rum wir die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusam­menlegen werden, und zwar einheitlich auf einer Höhe - auch das gilt es auszusprechen -, die in der Regel dem Niveau der Sozialhilfe entspre­chen wird. [...] Niemandem [...] wird künftig gestattet sein, sich zulasten der Gemein­schaft zurückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt [...] der wird mit Sank­tionen rechnen müssen. [...] [E]s wird unaus­weichlich nötig sein, Ansprüche und Leistungen zu streichen, Ansprüche und Leistungen, die schon heute die Jüngeren über Gebühr belasten und unserem Land Zukunfts­chancen verbauen. [...] Durch unsere Maßnahmen zur Erneuerung der sozia­len Sicherungssysteme senken wir die Lohn­ne­benkosten. Das ist gewiss nicht immer einfach und die Maßnahme, die wir zusätzlich durch­füh­ren müssen, ist es erst recht nicht. Wir wer­den das Arbeitslosengeld für die unter 55-Jähri­gen auf zwölf und für die über 55-Jährigen auf 18 Monate begrenzen, weil dies notwendig ist, um die Lohn­nebenkosten im Griff zu behalten. Es ist auch deswegen notwendig, um vor dem Hintergrund einer veränderten Vermitt­lungssi­tuation Arbeits­anreize zu geben.

abgerufen unter: http://www.documentarchiv.de/brd/2003/rede_schroeder_03-14.html am 17.06.2013.

Die Auseinandersetzung mit der Leistung des Arbeitslosengeldes (ALG) II, besser bekannt als Hartz IV, als zentralem Element aktivierender Sozialpolitik ist nicht nur regelmäßig wiederkehrendes Thema der massenmedialen Berichterstattung, sondern als Teilaspekt der Debatte um die Zukunft des Sozialstaates auch möglicher Inhalt unterrichtlicher Auseinandersetzung mit Sozialpolitik. In der massenmedialen Debatte dominieren Berichterstattungen über Aufsehen erregende Bezieher der Leistung, die auch dazu beitragen, dass Vorurteile entstehen. Das dahinter stehende politische und gesamtgesellschaftliche Problem der Arbeitslosigkeit sowie des Umgangs mit ihr bleibt aber oftmals unberücksichtigt. Die inhaltliche Analyse der Regierungserklärung des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder, unter dem die Leistung des ALG II eingeführt wurde, trägt dazu bei, die Probleme anhaltender (Massen)Arbeitslosigkeit für die Sozialsysteme des Staates zu verstehen und die angebotenen Lösungsmöglichkeiten kritisch zu diskutieren. Nachfolgend soll die Rede mit Hilfe des oben dargestellten Schemas analysiert werden.

Beispielanalyse der „Regierungserklärung des Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) "Mut zum Frieden und zur Veränderung" ["Agenda 2010"] vom 14.03.2003“

(1) Inhalt: Zentrales Thema der Rede sind die Veränderungen des Sozialstaates, insbesondere die Kürzung sozialstaatlicher Leistungen. Dabei wird die These vertreten, eine solche Kürzung sei „unabweisbar“, „um wieder an die Spitze der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Europa zu kommen“ und „die Substanz des Sozialstaates zu erhalten“. Als Belege für diese These dienen die Darstellung der Ungerechtigkeit der Sozialsysteme (Steigerung der Lohnnebenkosten von 34% auf 42%, Ausnutzen sozialer Leistungen durch Menschen, die arbeiten können, aber nicht wollen) und die Belastung der Arbeitgeber durch zu hohe Lohnnebenkosten. Das zentrale aufgegriffene Gegenargument, der Umbau werde „gewiss nicht immer einfach“, wird mit der bloßen Notwendigkeit der Maßnahmen entkräftet. Sprachlich werden die Forderungen durch verschiedene insbesondere emotional besetzte Schlüsselbegriffe und Schlagworte gestützt, z.B. „Mut aufbringen“ (Mut als positiv besetztes Wort, erstrebenswerter Zustand), „Eigenverantwortung fördern“ (Verantwortungsübernahme als positiver Wert), statt „den Todesstoß zu geben […] die Substanz des Sozialstaates erhalten.“ Insgesamt folgt die Argumentation der Theorie angebotsorientierter Wirtschaftspolitik und erscheint in diesem Rahmen logisch und stringent.

(2) Redner: Der Redner ist Gerhard Schröder (SPD), zum Zeitpunkt der Rede Bundeskanzler der BRD. Er spricht in seiner Funktion als Regierungschef. Die Sprachakte insbesondere im zweiten Teil der Rede lassen darauf schließen, dass es sich um eine Rede mit dem Ziel der Rechtfertigung/Legitimation der aktuellen Regierungspolitik (sozialstaatlicher Leitungskürzungen) handelt. Diese Rechtfertigungsstrategie ist insbesondere deswegen nachvollziehbar, weil es sich bei Schröder um einen Sozialdemokraten handelt (weltanschauliche Überzeugung), deren Kernanliegen eine sozial gerechte Gesellschaft ist.

(3) Adressaten: Die Rede richtet sich an das parlamentarische Plenum, in dem sowohl politische Anhänger als auch Gegner sitzen. Darüber hinaus hat sie eine Schaufensterfunktion, sie will die aktuelle Regierungspolitik auch den Medien und der Öffentlichkeit präsentieren. Die Adressaten werden über Appellative in die Rede einbezogen („Wir müssen den Mut aufbringen …“, „Meine Damen und Herren, wir können es nicht dabei belassen …“). Die weltanschaulichen Überzeugungen der Zuhörer differieren (sowohl der unmittelbaren als auch mittelbaren Zuhörer). Insgesamt ist das Kürzen sozialstaatlicher Leistungen eine unpopuläre Maßnahme. Dies gilt nicht nur für die Opposition vor allem im linken politischen Spektrum, sondern auch bei den politischen Anhängern der Regierungsfraktionen und vor allem in großen Teilen der Bevölkerung (siehe oben: Hochwert soziale Gerechtigkeit).

(4) Kontext Die Rede wird als geplante Regierungsrede im Bundestag gehalten. Wirtschafts- und sozialpolitisch lässt sich die Rede in die Debatte um die Zukunfts- und Leistungsfähigkeit des Sozialstaates einordnen. Neben dem demographischen Wandel werden im Zuge dieser Debatte auch immer wieder (spätestens seit den 1980er Jahren) Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit thematisiert – letzteres sowohl als Ursache als auch als Folge der zu geringen Leistungsfähigkeit des Sozialstaates. Die Rede gilt als Ausgangspunkt der so genannten Agenda 2010, einem Konzept zur Reform des deutschen Sozialsystems und Arbeitsmarktes. Als solche hat sie auf das nachfolgende politische Geschehen erheblichen Einfluss genommen. Der mit erheblichen Leistungskürzungen einhergehende Umbau des Sozialstaates führte zu einer umfassenden, kontrovers geführten Diskussion der Chancen und Grenzen aktivierender Sozialpolitik.

(5) Sprachliche und rhetorische Analysen Die Rede ist dem Redetyp Regierungserklärung zuzuordnen. Sie ist folgendermaßen gegliedert: Im ersten Absatz macht der Redner seine Position bzw. seine These deutlich. Er benennt die von ihm geforderten Veränderungen notwendigen Veränderungen (Leistungskürzungen, Eigenleistung einfordern, Eigenverantwortung fördern). Absatz zwei begründet die notwendigen Veränderungen mit der aktuellen Situation des Sozialstaates. Absatz 3 konkretisiert die Forderungen des Umbaus für die Bereiche Arbeit und Wirtschaft. Die Rede ist logisch-stringent gegliedert. Um seine Forderungen zu bekräftigen werden insbesondere emotionale und appellative sprachliche Elemente genutzt. Insbesondere der dritte Absatz baut auf dem (für die Sozialdemokratie) zentralen Wert der sozialen Gerechtigkeit auf. Gerechtigkeit wird in diesem Zusammenhang deutlich als Leistungsgerechtigkeit definiert: „Wir wollen nicht das Ziel aufgeben, dass jeder, der arbeiten kann und will, dazu auch die Möglichkeit bekommt.“ Insgesamt wird betont, dass ein Anrecht auf sozialstaatliche Leistungen nur bei entsprechender Gegenleistung besteht. Die Betonung der bereits in Absatz 2 benannten Ungerechtigkeiten (z.B. „Ich akzeptiere nicht, dass Menschen, die arbeiten wollen und können, zum Sozialamt gehen müssen, während andere, die dem Arbeitsmarkt womöglich gar nicht zur Verfügung stehen, Arbeitslosenhilfe beziehen. Ich akzeptiere auch nicht, dass Menschen, die gleichermaßen bereit sind zu arbeiten, Hilfen in unterschiedlicher Höhe bekommen.“) soll als Element Zustimmung hervorrufen (Abgrenzung von so genannten „Sozialschmarotzern“ bzw. Menschen in der „sozialen Hängematte“). Es wird damit auf gesellschaftliche akzeptierte bzw. zumindest verbreitete Typisierungen rekurriert. Erst im Anschluss werden die (vermutlich) weniger populären, angesichts der Situation aber notwendigen Maßnahmen benannt (einheitliche Kürzung auf Sozialhilfeniveau, Sanktionierung). Diese werden durch weitere rhetorische Mittel unterstrichen („Zukunftschancen verbauen“, „Kosten im Griff behalten“). Die zu erzielende Wirkung ist vor allem Zustimmung zur Regierungspolitik oder zumindest das Anerkennen der Notwendigkeit der vorgeschlagenen Änderungen.

Hinweis: Vollständige Materialien für eine Unterrichtsreihe zum Thema „Aktivierende Sozialpolitik“ finden sich im Themenheft „Soziale Sicherung“, herausgegeben von und bestellbar bei Böckler Schule (http://www.boeckler.de/39581.htm).

6. Literatur

  • Burkhardt, Armin (2005): Deutsch im demokratischen Parlament. Formen und Funktionen der parlamentarischen Kommunikation, in: Kilian, Jörg (Hg.): Sprache und Politik. Deutsch im demokratischen Staat, Mannheim u.a., S. 85-98. Girnth, Heiko (2002): Sprache und Sprachverwendung in der Politik, Tübingen.
  • Gora, Stephan (1992): Grundkurs Rhetorik. Eine Hinführung zum freien Sprechen, Stuttgart.
  • Klein, Josef (2000): Textsorten im Bereich politischer Institutionen, in: Brinker, Klaus u.a. (Hg.): Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 1. Halbband, Berlin u.a., S. 732-755.
  • Klein, Josef (2005): „Grundwortschatz“ der Demokratie, in: Kilian, Jörg (Hg.): Sprache und Politik. Deutsch im demokratischen Staat, Mannheim u.a., S. 128-140.
  • Kolbe, Andreas (2012): Das Arsen der Lobbyisten, in: Politik und Kommunikation 01/2012, abrufbar unter: http://www.politik-kommunikation.de/ressorts/artikel/das-arsen-der-lobbyisten.
  • König, Jan L.C. (2011): Über die Wirkungsmacht der Rede. Strategien politischer Eloquenz in Literatur und Alltag, Göttingen.
  • Kramer, Olaf (2009): Macht-Worte. Politische Rede in der Mediendemokratie. Vortrag beim Seminar „Reden und Rhetorik in Deutschland und den USA“, Atlantische Akademie Rheinland-Pfalz, abrufbar unter: http://www.atlantische-akademie.de/images/pdf-2009/AA-09-004-Kramer-Vortrag.pdf.
  • Niehr, Thomas (2014): Einführung in die Politolinguistik. Gegenstände und Methoden, Göttingen.
  • Tischner, Christian (2010): Politische Reden. Eine Erscheinungsform politischer Kultur, in: Deichmann, Carl/ Juchler, Ingo (Hg.): Politik verstehen lernen. Zugänge im Politikunterricht, Schwalbach/Ts., S. 67-75.

7. Hinweise zu Unterrichtsmaterial

Zeitschriften:

  • Politik und Unterricht, Heft 01/2013 („Politik und Kommunikation“), kostenfrei abrufbar unter www.politikundunterricht.de. Thema ist Kommunikation in der Demokratie allgemein, politische Reden werden auch thematisiert. Abrufbar ist hier auch eine Beispielanalyse der Rede des ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff zum 20. Jahrestag der deutschen Einheit (siehe oben).
  • Praxis Politik, Heft 02/2008 („Politik Macht Worte“), Artikel tw. kostenpflichtig abrufbar unter http://www.praxispolitik.de/heft/23300802/Ausgabe-April-Heft-2-2008-Politik-Macht-Worte. Neben einzelnen Reden wird u.a. auch die Rolle der professionellen Politikberatung thematisiert.

Sonstiges:

  • Tischner, Christian (2010): Politische Reden. Beispiele für die Unterrichtspraxis, Deichmann, Carl/ Juchler, Ingo (Hg.): Politik verstehen lernen. Zugänge im Politikunterricht, Schwalbach/Ts., S. 120-123. Zwei Beispielreden samt historisch-gesellschaftlicher Einordnung und knapper Interpretation.
  • www.documentarchiv.de. abrufbar sind Reden im Originalen Wortlaut. Darüber hinaus lohnt sich auch eine Suche nach Reden auf einschlägigen Videoportalen, da so auch nonverbales Rednerverhalten betrachtet werden kann (interessant z.B. für die so genannte Farbbeutel-Rede vom damaligen Außenminister Joschka Fischer 1999)

sowi-online Originalbeitrag

(c) 2016 Franziska Wittau; (c) 2016 sowi-online e. V., Bielefeld

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Copyright-Inhabers unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, auch im Internet.