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Oser, Fritz (2003): Professionalisierung der Lehrerbildung durch Standards. Eine empirische Studie über ihre Wirksamkeit

Die Verbesserung der Lehrerbildung liegt jedem Verantwortlichen für Schule und Wissenschaft am Herzen. Viele glauben, man könne bessere PISA–Befunde nur über den Weg der Verbesserung der Lehrerbildung erreichen, was dazu führt, dass man die Konsequenzen einer jetzigen Entscheidung erst fünf bis zehn Jahre später zu Gesicht bekommen wird. Dies wiederum führt dazu, dass wir nicht unmittelbar abschätzen können, was wirklich effizient ist; wir brauchen ein Zeitmaß, das längsschnittlich und Schritt für Schritt den Fortschritt diagnostiziert und stets neu überprüft. Aber genau dieser Spannungsbogen hat noch kein Gesicht gefunden. Es gibt viele Annahmen, die kaum jemals überprüft werden, so etwa dass wir sicher wüssten, was überhaupt gute Lehrerbildung sei und was in diesem Feld schlechthin zum Fortschritt führe. 2001 haben Oser und Oelkers das Konzept der Standards für die Profession der Lehrer neu definiert und eine entsprechende Wirkungsstudie zur Lehrerbildung durchgeführt. Eines der dramatischen Resultate dieser groß angelegten Studie (N=1286 am Ende der Ausbildung, 42 Ausbildungsinstitutionen) war, dass einerseits ein gutes Sozialklima und eine reiche Ausbildungskultur vorhanden sind, dass aber zweitens kaum jemand bei dieser Ausbildung wirklich je gefordert und schon gar nicht überfordert worden ist, schließlich aber dass Standards fast gar nicht erlernt werden. Die Referenz für Standards sind dabei Kompetenzprofile, die in leichten und schwierigen Situationen von Experten erfolgreich handlungsmäßig umgesetzt werden. "Von Experten" bedeutet, dass es ein Unterschied ist, ob diese Kompetenzprofile qualitativ gut oder qualitativ mangelhaft zur Ausführung kommen. Wir sprechen nur dann von Standards, wenn beides gegeben ist, das Profil selber und dessen positive Qualität. Man kann es nochmals anders formulieren: wenn Lehrpersonen in komplexen Situationen des Unterrichts ein abgrenzbares, zieladäquates, effektives und ethisch gerechtfertigtes Einflusshandeln, das das Lernen von Schülern und Schülerinnen differenziell fördert, zeigen, sprechen wir von professionellen Standards des Lehrerberufs. Wenn sie eine Kette solcher Handlungen bewusst oder spontan initiieren und reflexiv auch in schwierigen Situationen umsetzen können, so sind sie Berufsleute mit professionellem Können. [/S. 71:] Standards sind mehr als Wissen, und es sind auch keine automatisierten Skills. Um Standards festlegen zu können, sind je entsprechende Theorien, empirische Befunde, Qualitätsmasse und eine Handlungstradition erforderlich. Man kann Standards unterschiedlich gruppieren; wir haben sie eingeteilt (2001, S. 230) in Standards zur Lehrer-Schülerbeziehung, zum schülerunterstützenden Handeln, zu Disziplinproblemen und Schülerrisiken, zum Aufbau von sozialem Verhalten, zur Lernprozessbegleitung und zu Lernstrategien, zu den Methoden und zur Gestaltung des Unterrichts, zur Evaluation und Leistungsmessung, zum Medieneinsatz, zur Teamarbeit in der Lehrerschaft, zur Öffentlichkeitsarbeit, zum Kräftehaushalt der Lehrperson und zur Fachdidaktik. Jeder Standard wird auf mittlerer Ebene formuliert, so z.B. soll die Lehrperson mit emotionalen Gefühlen von Kindern wie Scham oder Scheue richtig umgehen können. Es wurden über Quasi–Delphie–Studien 88 verschiedene Standards entwickelt. Wir möchten an dieser Stelle drei Fragen diskutieren, nämlich erstens wie kommt man zu Standards, zweitens welches ist die Rolle des Transfers darin, und drittens welches ist die Sicherheit, mit der der Erwerb der Standards die Ausübung in kritischen Situationen garantiert.

 

1. Das Auffinden von Standards

Wie kann man also – so die erste Frage – Standards des Lehrerhandelns
auffinden? Welches sind die Möglichkeiten, sie sichtbar und aneignungsbar
bzw. ausbildbar zu machen? Verschiedene Strategien sind möglich; die meisten
aber sind nicht brauchbar.

Eine erste Möglichkeit ist, dass "erfahrene" Lehrpersonen
aufzählen, was sie an Handlungskompetenzen täglich einsetzen. Hier
hätten wir zwar viele Ergebnisse, aber sie wären unter dem Gesichtspunkt
der Verallgemeinerbarkeit relativ wenig fruchtbar; episodisches Vorgehen reicht
nicht aus, um zu beschreiben, was in schwierigen Unterrichtssituationen gebraucht
wird. Zudem besteht das Problem, dass unterschiedliche Bereiche vorerst gar
nicht mit ins Blickfeld geraten. Ebenfalls laufen wir auf diese Weise Gefahr,
Wissensbestände, Skills, spontanes Handeln und Handlungsnotwendigkeiten
dauernd miteinander zu vermischen. Für dieses Verfahren hingegen spricht,
dass das Zusammentragen von Handlungsmöglichkeiten den Reichtum und die
Verwobenheit der Handlungskapazitäten im unterrichtlichen oder schulischen
Raum andeuten oder gar aufschlüsseln kann.

Ein anderes Verfahren besteht darin, Wissensarten zu sammeln, um über
diese das ihnen zugrunde liegende Handeln erst ableiten zu können. Zu den
lehrprofessionellen Wissensarten gehören nach Shulman
(1987)
pädagogisches Wissen, entwicklungspsychologisches Wissen, fachdidaktisches
Wissen, lernpsychologisches Wissen, soziologisches Wissen, Fachwissen etc. In
der Tat kann man jungen Lehrpersonen jenes Wissen vermitteln, dass mit großer
Wahrscheinlichkeit mit dem Feld ihrer Arbeit etwas zu tun hat. Es [/S. 72:]
ist einerseits dringend nötig, über solche Wissenskataloge die Dynamik
des Kanons einer solchen Ausbildung je neu zu schaffen und zu überdenken.
Vermutlich kann andererseits aber zu keiner beruflichen Ausbildung in anderen
Bereichen (z.B. Ingenieurswesen) so viel unbrauchbares und unkoordiniertes Wissen
gefunden werden wie im Lehrberuf. Dieser Kanon zu professionellem Wissen nimmt
den Schwung der Probleme gleich dreifach mit: a) Es gibt keinen Zusammenhang
mit dem Handeln im Feld. b) Es entsteht kein solches Handeln aus diesem Wissen,
und c) auch die Wissensteile werden in keiner Weise untereinander vernetzt oder
mindestens verbunden (es gibt keinen Transfer).

Ein drittes Verfahren besteht darin, aus den Grundlagenerkenntnissen der Lernpsychologie
Handlungsformen herauszupicken, die für das Feld adäquat sein könnten.
Die operante Konditionierung, der Umgang mit gelernter Hilflosigkeit, die attributionstheoretische
Motivation, das Kennen der Funktion des Arbeitsspeichers beim Memorisieren,
Kommunikationstechniken zum Problemlösen etc. sind solche Beispiele, die
dann je auf Unterricht und Schule angewandt werden "sollen". Die
so erzeugte Wichtigkeit der psychologischen Grundlagenforschung einerseits und
das damit einhergehende ewig bedauerte Nichtgenugpraktischsein des universitären
Betriebs andererseits erzeugen ein Spannungsfeld, aus dem heraus die Ausbildung
als nicht genug adäquat und wenig transferal wirksam empfunden wird. Es
ist die vielleicht verhängnisvollste Art, mit viel wissenschaftsbetonter
Gestik an den wirklichen Ausbildungsnotwendigkeiten vorbeizusegeln und diese
Ausbildung gleichzeitig von etwas abhängig zu machen, das niemand will.

Deshalb haben wir an anderer Stelle ein Vorgehen vorgeschlagen, das viertens
direkt zu den notwendigen Kompetenzprofilen der Lehrprofession führt und
diese ins Zentrum von Aus- und Weiterbildung rückt. In diesem Fall werden
Situationen des Unterrichtens oder des Schullebens direkt über Beobachtung
oder narrative Vignetten sorgfältig unter der Frage aufgegriffen, was jemand
können muss, um sie zu bewältigen. Sie werden also verlaufsorientiert
beschrieben und geordnet. Dieser Prozess wird begleitet durch eine Verankerung
der gefundenen Situationen in der wissenschaftlichen Literatur und der empirischen
Forschung. Ebenso wird bei jedem dieser Handlungsprofile die Frage der Qualität
mitgeliefert: man will wissen, wie Experten die Situation bewältigen und
welche Unterschiede zu den Novizen oder den wenig erfolgreichen Lehrpersonen
in der Situation bestehen. Ein solches Handlungsprofil nennen wir, wie oben
angedeutet, eben Standard. Standards sind Beschleuniger des Zusammenführens
einer ganzen Reihe von geistigen Eigenschaften, die zum Handeln in kritischen
Situationen notwendig sind. Normalerweise versteht man unter Standards "what
graduates are expected to know and be able to do as a condition of earning a
diploma … second standards certify students`capacity just as standards
of weights and measures provide accurate information about size" (Doyle
and Pimentel 1999
, S. 19). Und obwohl für die Lehrerbildung immer wieder
[/S. 73:] unterschieden wird zwischen Standards als notwendige Wissenskomponente
und Standards als performance based mastery, unterscheiden doch die meisten
Ausbildungsinstitutionen und –konzeptionen zwischen Wissen, Skills und
Dispositionen. Sie gehören nach Darling–Hammond u.a. zur "License
to Teach" Standards, die folgendes beinhalten:

  • "Knowledge about people and social organisations, cultures, epistemology,
    specific disciplines, human growth and development, communication and language,
    scientific inquiry, and research on effective learning and teaching
  • Skills associated with assessment, planning, instruction, evaluation, social
    behavior management, and role modeling
  • Dispositions toward self, toward the learner, toward teaching, and toward
    the profession."

Hier wird mit aller Schärfe deutlich, dass nicht genau nachgedacht wird,
was wirklich ein Standard ist. Die dreiteilige Trennung macht das Wissen wirkungslos,
die Skills blind und die Haltung gegenüber sich selbst oder dem Lernenden
oder der Institution Schule zufällig. Man kann dies am besten am Arztberuf
erläutern, wenn ein Notfall eintritt: Mit dem Handeln in dieser Situation
geht das Wissen einher, und die Disposition gegenüber dem Lernenden,
sich selbst und der Institution Spital ist selber schon ein Teil dieser kompetenten
Handlung
. Wenn Standards einfach als gültige Normen für das Erreichen
einer Leistung bezeichnet werden, so wird das, was das Eigentliche einer Profession
ausmacht, ausgeklammert. Standards sind nicht hohe Wissensleistungen, die man
etwa bei Examen fordert; ebenfalls ist damit nicht gemeint, dass eine besondere
Moral an den Tag gelegt werden müsste, schließlich bedeuten Standards
auch nicht die Art und Weise, wie Lehrpersonen vorbereitet sind. Man muss Standards
anders definieren, ihre Kraft liegt in der Verbindung dessen, was gebraucht
wird, um richtig zu handeln und der Handlung selbst. Richtiges Handeln impliziert
ein spezielles Wissen in der Handlung, die ihre Richtigkeit, ihre Wirkung und
ihre professionelle Sorgfalt generiert.

 

2. Ein Beispiel und Kriterien für die Bestimmung eines Kompetenzprofils

Ein einfacher, leicht verständlicher, aber schwer zu lernender Standard ist "entwickelnder Unterricht" (manchmal mit skeptischem Unterton als Frageunterricht benannt). Kein anderer Beruf verwendet dieses Kompetenzprofil; aber jede Lehrperson in allen Ländern der Welt verwendet mit mehr oder weniger Geschick, mit mehr oder weniger Wissen und mehr oder weniger erfolgreich diesen Standard. Mit keinem anderen Standard aber kann so viel dramatisches Unheil angerichtet werden, etwa durch Zynismus der Lehrperson oder der anderen Lernenden, etwa durch negative Beurteilung von Aussagen, etwa des Umwandelns von Lernprozessen in Prüfungspro– [/S. 74:] zesse, etwa durch Lächerlichmachen immer derselben Kinder und Jugendlichen etc. Umgekehrt gibt es, um diesen Standard zu bestimmen, viele pädagogisch–psychologische Forschung und auch eine sehr erfolgreiche praktische Tradition. Es gibt Untersuchungen zur Expertenqualität des mäeutischen Unterrichts u.a. (Was es allerdings kaum gibt, sind Lern–Laboratorien, wo angehende Lehrpersonen, dieses Kompetenzprofil eben zu einem Standard werden lassen können).

Es gehören also die verschiedensten Dimensionen eines Standards in einer so komplexen Situation, wie "entwickelnder Unterricht" sie darstellt, zusammen. Es muss 1. theoretische Elemente geben, die aus einer Kette von Hypothesen bestehen. Man nimmt z.B. an, dass Zusammenhänge zwischen der Eindringlichkeit, mit der Fragen gestellt werden, und der Reaktionshäufigkeit der Schüler bestehen. Negative Zusammenhänge gibt es zwischen der "Kürze" der Wartezeit und der Antwortsicherheit bei Schülern. Wiederum andere Zusammenhänge sind vermutet, wenn das Fragen geschlossen auftritt und die Schüler die Empfindung haben, dass hier geprüft, aber nicht offen gefragt werde. Als weiteres 2. Element sind empirische Befunde gefragt. Sie beziehen sich teilweise auf Theorien, die sie überprüfen; sie haben manchmal aber auch deskriptiven Charakter. Man weiß dann einfach z.B. wie häufig bei einer Lehrperson fragender oder entwickelnder Unterricht vorkommt und welche Wirkung er bei den Schülern und Schülerinnen hat. Man weiß dann aber auch, dass der Zusammenhang zwischen direct teaching (Frontalunterricht) und Frageunterricht hoch positiv korrelieren u.a. – Ein 3. Element bezieht sich auf die Qualität des Handlungsprofils einer Lehrperson, in der korrekten Situation. Es ist die Frage, warum unterschiedliche Maßstäbe genau diese Qualität je anders zur Geltung bringen. Während die einen für straffes Fragen votieren, monieren die anderen für eingestreute offene Formen dieses Arbeitstyps im Unterricht. Die einzige Möglichkeit von Qualität zu sprechen und einigermaßen Einigkeit über unterschiedliche Ausprägungen zu erhalten, ist die Expertenforschung. Hier werden situativ die klimatische Stimmung, die Klarheit der Begrifflichkeit, die Seriosität des Lernvorgangs, der nachhaltige Wissenserfolg, die positive Beeinflussung der Motivation u.a. mit Anfängern oder Nichtexperten verglichen, und man stellt fest, dass Experten in all diesen Dimensionen wirkungsvoller, schneller und unmittelbarer sind. Das Suchen und Wissen um die Expertenkompetenzen ist ein relativ junger, aber erfolgreicher Forschungszweig. Man kann damit zeigen, wie Kompetenzbündel in besserer oder vollendeterer Weise in die Praxis umgesetzt werden. – Schließlich 4. gehört zu jeder einzelnen Lehrerkompetenz, zu jedem Standard, eine Verdrahtung in der Praxis. Man muss "hands on" zeigen können, dass die Situation gemeistert werden kann eben durch dieses Handlungslehrerbildung, das schon so oft unter ähnlichen Bedingungen erfolgreich war. Es geht also darum, die Qualität des Handlungsrepertoires von Lehrpersonen relativ valide festzustellen und [/S. 75:] auf dessen Basis zusammen mit den Betroffenen eine jeweils notwendige Weiterbildung zu planen. Weiterbildung (oder im spezifischen Falle Ausbildung) bezieht sich dann auf diese Standards und nicht auf zusätzliche abkoppelbare Sozialtechnologien, deren Konvenienz meistens mit Therapie, aber nicht mit der Quelle des Unterrichts einhergeht.

Diese vier Kriterien bestimmen jedes Kompetenzprofil, jeden Standard des Lehrerberufs. Ihre Aktualisierung unterliegt keinem Zufall, fällt keiner blinden Praxis anheim, untersteht aber auch nicht bloß einem, wie auch immer geartetem Wissen; vielmehr bestimmen diese vier Kriterien, die zugleich entscheidend dafür sind, ob von einem Standard gesprochen werden kann, was die Professionalität bestimmt. Ein Standard wie "positive Erwartungen oder Zu-Mutungen praktizieren" ist im Lehrberuf so zentral, weil Theorie (Pygmalion–Effekte), Empirie (Untersuchungen zum positiven und negativen Mathäuseffekt), Expertise (gerade bei "schwachen, dummen und faulen" Schülern und Schülerinnen ist es schwierig positive Erwartungen zu praktizieren) und Praxis (Lehrpersonen machen immer Erwartungen sichtbar, wenn sie unterrichten) stets zusammenfallen und es relativ leicht ist, diese Erwartungsverhalten über Unterrichtsbeobachtung zu lokalisieren.

 

3. Von der Relativierung der Praxis

Nun aber ist das Lernen solcher Kompetenzen abhängig von der Ernstsituation im Unterricht, und hier zeigt es sich, dass das Lernen praktisch nie linear verläuft. Deshalb ist die Veränderung der Ausbildung zu diesem Beruf von der Relativierung der Verführungskraft der Praxis als verklärtes Feld der von aller Theorie abgetrennten Wirklichkeit abhängig. Indem man nämlich die Praxis verstärkt, erreicht man nicht eine bessere Ausbildung, denn genau dies entspricht wiederum der Zufälligkeit der Ausbildung, die zu nichts als eben zu episodischer Anhäufung von Teilkompetenzen führt. Die Praxis, aus der die Standards stammen, von der sie also abgeleitet worden sind (siehe weiter unten), muss sich im Ausbildungsfall den folgenden zwei Bedingungen unterstellen: 1. muss sie sich auf die zu erlernenden Standards beziehen (wer z.B. wirkungsvoll Anforderungen im Unterricht und ihre Koppelung mit Erwartungen vornehmen soll, muss Gelegenheit erhalten, in vielen Situationen solche Aufforderungen vorzunehmen). In diesem Falle ist nur jene Praxis notwendig, die die Einbettung des Standards bewusst gefährden. Wie das Falsifizierungsprinzip in der Wissenschaft muss der junge Unterrichtende den gleichen Standard unter immer schwereren Bedingungen ausführen. Schließlich muss der Standard unter emergency room Bedingungen realisiert werden. Das heißt, es müssen am Ende die härtesten Situationen mit Disziplin– und Motivations– und Ordnungs– und Sozialproblemen ausgesucht werden, damit gelernt wird, unter diesen Bedingungen Erfolg zu haben bzw. den Standard zur Geltung zu bringen.

[/S. 76:] Genau das Gegenteil geschieht. Standards werden oft unter idealen, superordentlichen, einfachen und empfindsamen Schulsituationen gelernt, wo Scheitern gar nicht möglich ist und man gar nicht erfahren kann, wo die Schwierigkeiten liegen, wo man nicht erfährt, unter welchen Bedingungen kontrafaktisch oder paradox gehandelt werden muss, vor allem aber nicht aus Fehlern lernen kann. Hier berühren wir das Thema des pädagogischen Kitsches; die Facetten des Glaubens an intrinsische Motivation, des Gebens von Ich–Botschaften, des Spaßhabens am Lernen, des reibungslosen Lehrerhandelns, des Lebens ohne Widerstreit, der immer liebevollen Atmosphäre führen zu diesem Kitsch, der dann auch im Jammern über die Schwere der Situation endet. Wer den Standard nicht unter schwierigen Bedingungen zeigen kann und lieben gelernt hat, kann ihn gar nicht beherrschen. Wer nicht erlebt hat, dass er nicht funktioniert, kann gar nicht verstehen, unter welchen Situationen er wirklich funktioniert. Deshalb fordert Terhart in seiner Expertise für die Kultusministerkonferenz (2002, S. 49), dass die entwickelten Standards auf eine Evaluation gerichtet sein sollen, "die sich nicht mit Dokumentenanalyse und Selbstauskünften zufrieden gibt. Zwar kann dies eine gewisse Basis sein, aber der eigentliche Akt der Evaluation besteht darin, das Steuerungssysteme, Ausbildungsinstitutionen bzw. –programme und schließlich Absolventen vor Ort einer empirisch basierten Evaluation unterzogen werden." Was Bransford und Schwartz (1999) in Bezug auf den Transfer zeigen, gilt auch hier: Man kann am besten über kontrastierende Fälle, wenn sie in neue Informationen eingebettet werden, zeigen, dass Standards in der Tat situationsübergreifend sind. Es kommt also im Bereich der Standards etwas hinzu, zum "knowing that" und zum "knowing how" gesellt sich, was Professionalität konstituiert, nämlich das "knowing with". Als Teil einer professionellen Kommunität muss ein Wissen aufgebaut werden, das sich nicht bloß auf individuelle Kompetenzprofile bezieht, sondern auch allgemein anerkannte solche Profile umfasst, die gewerkschaftlich geteilt werden müssen, damit eine Profession diesen ihren Namen verdient.

 

4. Der Umgang mit Unsicherheit

Wenn davon gesprochen wird, wie Standards erworben werden, wenn man also Konzepte und Pläne für ihre Aneignung hat, muss auf einen Aspekt hingewiesen werden, der stets vernachlässigt wird, nämlich der Umgang mit Unsicherheit. Wir wissen oft nicht unmittelbar, welche Handlungsweise die adäquateste ist und müssen Hypothesen darüber bilden und testen. Dieser Unsicherheitsfaktor ist ein Teil der Standardisierung der Lehrerkompetenzen selbst. Es gibt mindestens vier Formen der Unsicherheitsbewältigung.

Die erste hat zu tun mit der Einschätzung der Situation, verbunden mit der Frage, ob Prototypen vorliegen, die auf ein bestimmtes Handlungsprofil passen. Ausbildung in Bezug auf Standards bezieht sich stets auf solche [/S. 77:] prototypische Situationen, die exemplarisch sind und generalisiert werden können. Solche prototypische Situationen vermögen aber nicht alles, was im Unterricht geschieht, abdecken. Es gibt Situationen, die zwei, oft gegensätzliche, Handlungsweisen zugleich erfordern. Und es gibt Situationen, die eine derartig neue Konstellation darstellen, dass der Unterrichtende kein Handlungsmodell in seinem Repertoire zur Verfügung hat. Hier ist die Leidenschaft am Hypothetisieren, Herausfinden, selber begründen unmittelbar gefordert. Die Freude an dieser Art von Unsicherheit muss erst gelernt werden.

Eine zweite Form von Unsicherheit bezieht sich auf das Interventions-Wirkungsverhältnis. Alle Handlungseinflüsse in konkreten Situationen unterliegen Wahrscheinlichkeitsannahmen. Es gehört zur Professionalität des Lehrerseins, dass dieser Aspekt der möglichen Nichtwirkung berücksichtigt wird und alle Gesetzmäßigkeiten des sozialen Einflusses auch gegenteilige Effekte haben können. Lehrpersonen, die mit Absolutheit an eine Handlungswirkung glauben, können bei Nichteintreten des erwarteten unmittelbaren Effektes enttäuscht sein. Wenn sie aber zum Vornherein von der Zerbrechlichkeit solcher Zusammenhänge Bescheid wissen, sind sie mindestens gegen Enttäuschungen gefeit.

Eine dritte Form von Unsicherheit besteht darin, dass man für eine Situation gar keinen Standard zur Verfügung hat. In diesem Falle muss eine neue Handlungsart erst entdeckt oder geschaffen werden; diese kann meistens nur über Fehleinschätzungen oder Fehlleistungen zu einem Standard werden. Dieser ganze Prozess ist äußerst schmerzhaft und belastend. Man weiß nicht, welches nachhaltig positive Handlungsweisen sind und man argumentiert so, dass dieser Beruf eben viel Ungemach und viel Schwierigkeiten mit sich bringe; die Chance aber des Neuen und Vorwärtsbringenden wird verpasst, die Bereitschaft, eine wirklich neue Handlungsform zu generieren, verspielt. Man weiß gar nicht, wie das zu geschehen hätte, probiert irgendetwas aus und findet keinen Halt in einer natürlich erst noch zu schaffenden Systematik.

Die letzte Form der Unsicherheit ist gegeben, wenn die Realisierung einer Handlungskompetenz zu einem "falschen" Ergebnis führt. Man wendet eine falsche Strategie an, und die Resultate sind dann auch katastrophal, oder noch schlimmer, sie verstärken die Problemsituation. In diesem Falle gibt es keine professionelle Kontrolle, die Sicherheit über Fähigkeiten entgleitet uns. Menschen sind hier weniger fähig, einen Standard aufzubauen, als dies bei der oben dargestellten dritten Form von Unsicherheit stattfindet. Hier fühlt man sich in seiner Unfähigkeit ertappt.

Dies alles zeigt, dass die Ausbildung nicht nur nicht klar ist in den Köpfen derer, die ausbilden, sondern auch derer, die eine Kontrolle über ihre Weiterbildung haben müssten. Sie müssten wissen, wo sie in ihrer Ausbildung stehen, welches die noch nicht erfüllten Teile darstellen, wie man eigene Weiterbildung plant und wie man im Falle dieser Unsicherheiten [/S. 78:] Standards aufbaut. Abb.1 zeigt, dass sie kaum gelernt haben, ein neues Problem professionell anzugehen, aber auch nicht Kompetenzverteilungen vorzunehmen (Abb. 2), und in Abb. 3 auch nicht sich mit anderen auf neue notwendige Standards zu einigen. Schließlich zeigt Abb. 4, dass sie nie oder kaum gelernt haben, ihre eigene Weiterbildung zu planen (vgl. auch Oser 2001, S. 289). In all diesen Abbildungen bedeutet "nichts gehört", dass sie subjektiv das Gefühl haben, sie hätten in der Ausbildung diesen Aspekt nie und in keiner Weise gelernt. "Nur Theorie" bedeutet, es sei da mal etwas in einer Vorlesung oder anderswie in abstracto vorgekommen. "Nur Übung oder nur Praxis" meint, dass hier in Praktika im Feld oder bei Übungslektionen das Thema zur Sprache gekommen sei. "Theorie und Übung" oder "Theorie und Übung und Praxis" sind intensivere, Portfolio orientierte Formen des Umgangs. Nur diese letzteren deuten darauf hin, dass in diesem Feld ein Standard entwickelt worden ist.

[/S. 79:]

Die Befunde sind auch hier schockierend. Nicht einmal der Umgang mit dem eigenen Beruf und dem, was er erfordert, wird in unseren Ausbildungsstätten gelernt.

 

5. Von der Verschwendung der Ausbildung

Bevor wir aber im Namen einer Institution oder einer gesellschaftlichen Notwendigkeit der Verbesserung des gegebenen Zustandes oder aus Rücksicht auf die Kraft der in diesem Zustand lehrenden Personen für die Verbesserung der Lehrerbildung votieren, müssen diese Grundlagen der Ausbildung, nämlich das eigene Wissen um notwendige Standards, verständlich [/S. 80:] gemacht werden. Eine positive Veränderung der Resultate dieser Ausbildung kann nur dann erwartet werden, wenn Grundlagen verändert werden. Man muss zurückgehen zu dem, was minimal für eine Profession einforderbar ist, und es muss dann versucht werden, es als vollständig selektionsträchtig zu etablieren. Diejenigen, die an Universitäten und Pädagogischen Hochschulen Lehrerbildung machen, sind in die Pflicht zu nehmen; diejenigen aber die in Verwaltungsstuben im Trockenen sitzen, haben darüber nachzudenken, wie die Arbeit von Lehrpersonen, wenn sie wirklich standardorientiert und damit gut ist, differenziert belohnt werden kann. Sicherheiten im wohltuenden Leben hinter den Kulissen des Alltags werden in Unsicherheiten, die der Kern allen Erwachsenenlernens sind, überführt. Was aber heißt das?

Im Bereich der Lehrerbildung gibt es eine Reihe von Errungenschaften, die es ermöglichen würden, eine vollständig andere Ausbildung auf die Beine zu stellen. Die meisten dieser Errungenschaften stehen aber auf dem Spiel, weil diejenigen, die die Verantwortung für deren Umsetzung haben, nicht die Tragweite ihrer guten oder schlechten Resultate erkennen. Ein Beispiel dafür ist die vollständige Tertiarisierung der Lehrerbildung und ihre Integration in die Universität (oder in die Fachhochschule). Das wird heute als selbstverständlich entgegengenommen, wobei Dekane der unterschiedlichsten Fakultäten und Rektoren nicht verstehen, dass alles, was im Vermittlungsbereich geschieht, jedes kleinste Verhältnis zwischen Lehren und Lernen, jede Haltung im Umgang mit Kindern, jeder systematische Wechsel u.a. unbedingt und intensiv der Forschung zugänglich gemacht werden muss. Schulen sind heute die bedeutungsvollsten Felder für humanwissenschaftliche Forschung. Weil Universitäten dieser Tatsache aus dem Weg gehen, könnten die Geldgeber und die Verantwortlichen für Forschungspolitik ihre Geldverteilungspolitik in diese Richtung gestalten. (Dass es zum Beispiel heute noch kein Max Planck Institut für Lehrerbildungsforschung in Deutschland und kein Scherer– oder Carnegie– Institut für Instruction and Learning in der Schweiz gibt, ist ein politischer Skandal, der diesen Nationen den Weg zur Zukunft einer Bildungsgesellschaft abschneidet). Die großen Linien für die Schwerpunktbereiche solcher Forschung sind: 1. Das Verhältnis von Ökonomie und Bildungsertrag in diesem Bereich, 2. e–Learning und Lehrerbildung, 3. Lehr–Lernforschung, 4. Qualität des Unterrichts und der Lehrerbildung, 5. Systeme, Übergänge und Leistung, 6. Kanon der Inhalte und Ausbildung, und 7. Berufsidentität und Berufsmoral mit den entsprechenden Standards. All das aber bedeutet, dass der Praxis ein neuer und anderer Weg zugesprochen wird. Junge Lehrpersonen in die Praxis zu schicken, ohne systematischen und standardorientierten Aufbau der Ausbildungsschritte bezüglich zu erwerbender Standards ist unverantwortlich. Deshalb moniert Faust–Siehl (2002, S. 489), dass "Erwerbs– und Anwendungssituationen nicht zu trennen" seien. "Dies" so sagt die Autorin, "ist nur möglich, wenn der Erwerb der wissenschaftlichen Grundlagen der [/S. 81:] Lehrertätigkeit und das praktische Handeln im professionellen Kontext gleichzeitig betrieben werden. Auf berufliche Kompetenzen bezogenes Studieren in Verbindung mit praktischem Handeln hat in der deutschen Lehrerausbildung bislang keine Chance und wird an vielen Universitäten als unwissenschaftlich und praktizistisch eingeschätzt". Damit ist gesagt, dass diejenigen, die Standards ausbilden, zur jeweiligen Praxis unmittelbar die Theorie und die Empirie, aber auch Befunde zur Expertenforschung in diesem Bereich, der gerade geübt wird, mitliefern sollen.

Ein großes Problem der neuen Lehrerbildung ist also die Praxis– oder Ausbildungsverschwendung, wenn, was wir hier vorschlagen, nicht in minimaler Weise umgesetzt wird. (1)

 

Anmerkungen

(1) In der Schweiz werden zurzeit neue Pädagogische Hochschulen geschaffen. Die Ermöglichung der Ausbildung von Standards ist durch diese Neuheit geradezu optimal.

 

Literaturverzeichnis

Bransford, J.D.; Schwartz, D.L. (1999): Rethinking Transfer: A Simple Proposal With Multiple Implications. In: Review of research in Education 24. Washington D.C.: American Educational Research Association, S. 61-100.

Doyle, D.P., Pimentel, S. (1999): Raising the Standards. An eight–step action guide for schools and communities, Second Edition. Thousand Oaks, California.

Faust–Siehl, G. (2002): Wissenschafts– und berufsbezogene Lehrerbildung. In: Die Deutsche Schule, 94, 4, S. 487-499.

Oser, F.; Oelkers, J. (2001): Die Wirksamkeit der Lehrerbildungssysteme. Von der Allrounderbildung zur Ausbildung professioneller Standards. Zürich, Chur.

Shulman, L.S. (1987): Knowledge and Teaching: Foundations of the New Reform. Harvard Educational Review 57 (1), S. 1-22.

Terhart, E. (2002): Standards in der Lehrerbildung. Eine Expertise für die Kultusministerkonferenz. ZKL–Texte 24. Münster.

[/S.82:]

 
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