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Hilligen, Wolfgang (1985): Zur Kooperation zwischen Politischem Unterricht und Nachbarfächern, zumal der Geschichte

Das Verhältnis von Politischem Unterricht und Geschichte (wie auch Erdkunde) im Rahmen der Politischen Bildung ist bisher noch nirgendwo in Übereinstimmung zwischen Sozialwissenschaftlern und Historikern praktikabel gemacht worden. Die Saarbrücker Rahmenvereinbarung aus den 60er Jahren z. B., in der die drei Fächer unter dem Begriff Gemeinschaftskunde für die Sek. II zusammengefasst worden waren, wurden additiv gehandhabt, mit harten Auseinandersetzungen um Anteile und Prioritäten. In diesem Kapitel soll die These begründet werden, daß die - eigenständigen - Fächer auf Kooperation angewiesen sind und daß hierfür didaktische Instrumente (Leit- bzw. Schlüsselfragen) notwendig, zumindest hilfreich sind. Ausgehend von Materialien zu einem Überblick über die Entwicklung des Verhältnisses der Fächer Politischer Unterricht und Geschichte (2.5.0) und von Thesen für die Kooperation (2.5.1) werden didaktische Vorschläge (2.5.2) skizziert. Diese werden sowohl in Leitfragen (2.5.3) als auch in einem Unterrichtsbeispiel und Hinweisen für die Auswahl im Zusammenhang mit der Matrix konkretisiert (2.5.4, 2.5.5)

 

2.5.0 Überblick über Möglichkeiten und Entwicklung des Verhältnisses von Politischem Unterricht und Geschichte

Grundsätzlich lassen sich etwa die folgenden Möglichkeiten unterscheiden:

  • Mit der historischen Bildung ist die politische im wesentlichen geleistet (zumal mit der Geschichte der jüngsten
    Vergangenheit).
    In den meisten Bundesländern herrschte mindestens bis zum Ende der 50er Jahre diese Auffassung
    vor.
  • Geschichtsunterricht und politischer Unterricht (Sozialkunde) werden so gut wie unabhängig voneinander geplant
    und/oder erteilt.
    Das ist in der Mehrzahl der Geschichts- und Politikstunden noch die Regel.
  • Der Geschichtsunterricht wird (mehr oder weniger) in den politischen Unterricht integriert.
    Diese Konzeption wurde z.
    B. in den Hessischen Rahmenrichtlinien "Gesellschaftslehre" von 1972 vertreten. Geschichtsunterricht beschränkte
    sich im wesentlichen auf Vorgeschichte der Gegenwart, auf das Erfahrbarmachen von Veränderungen und auf die
    ideologiekritische Betrachtung historischer Zeugnisse.
    An dieser Verkürzung der historischen Dimension entzündete
    sich der Widerstand der (gut organisierten) Historiker und Geschichtslehrer und trug wohl mit dazu bei, diese zur Entwicklung
    eigener und neuer didaktischer Konzepte herauszufordern. Nach dem Hessischen Oberstufenurteil von1981 wird diese Lösung
    nicht mehr offiziell vertreten. [/S. 242]
  • Neuerdings zeichnet sich eine Tendenz ab, eine sozialgeschichtlich angereicherte historische Betrachtungsweise so stark zu
    betonen, dass nicht nur das Gewicht des politischen Unterrichts zurückgedrängt, sondern seine Eigenständigkeit
    gefährdet wird.
  • Eine Kooperation der Fächer (seltener: ihrer Betrachtungsweisen) wird zwar immer wieder gefordert (z. B. in den
    Richtlinien von Nordrhein-Westfalen von 1972/73); Lösungsvorschläge beschränken sich aber, soweit ich sehe, auf
    organisatorische Regelungen.
 

2.5.1 Thesen zur Kooperation

1. Kooperation setzt voraus, dass in jedem und von jedem Fach aus neben der eigenen auch die Sicht- und Frageweise des anderen gepflegt und vermittelt wird: in der Geschichte neben (oder auch nach) der diachronischen, wo immer möglich, die systematische; in den Sozialwissenschaften neben der systematischen auch die häufig retrospektive (zurückblickende), diachronische. Dort steht die Einzigartigkeit der zu verstehenden Geschehnisse und Gestalten im Vordergrund, hier das Verallgemeinerungsfähige und Strukturelle:

Ohne historische Methoden und Fragestellungen können Lernende nicht die Einzigartigkeit von Personen und Ereignissen erfahren und nicht verstehen, warum Menschen je verschieden sind; ohne systematische, synchronische (die Zeiten zusammenschauende) Methoden und Betrachtungsweisen können sie nicht erkennen, was an den Menschen menschlich ist und welchen vergleichbaren Aufgaben sie sich trotz aller Andersartigkeit der Bedingungen je gegenübergestellt sehen.

 

Grafik1

Das heißt: "Geschichte ohne Soziologie ist blind, Soziologie ohne Geschichte ist leer" (Topitsch)*: "Social Sciences without History have no root, History without Social Sciences bears no fruit" (Hermann Finer) (Zit. nach Beyme von 1970, 19). Diesen in den beiden Wissenschaften unbestrittenen Satz müssten sich die Lehrenden beider Fächer zueigen machen.

2. Wie die doppelte Blickrichtung im Unterricht wirksam wird, hängt nicht von perfekten Richtlinien ab, sondern davon, dass Lehrer über "Methoden" - über heuristische Instrumente! - verfügen, mit deren Hilfe sie den Wechselbezug bei geschichtlichen wie bei politischen Themen herstellen können.

Vergleichbares gilt für das Fach Erdkunde. Einige Didaktiker der Geographie benutzen heute zur Beurteilung der gesellschaftlichen Bedeutung geographischer Faktoren den Begriff "Daseinsgrundfunktionen". Die Nähe zum Begriff "Überleben" und zum Begriff "Bedürfnisse" ist deutlich. Als Daseinsgrundfunktionen werden Essen, Sich-Kleiden, Wohnen, Vorsorge, in Gesellschaft leben und Fortpflanzung bezeichnet (vgl. Geographische Rundschau, Heft 12/1974). [/S. 243]

Die Bedrohung der Lebensgrundlagen verlangt heute im politischen Unterricht auch die Kooperation mit der Biologie: bei Aufgaben des Umweltschutzes im weitesten Sinne, aber auch für die Erkenntnis, dass sich die Evolution nicht mehr allein mit Ergebnissen der Fitnesskonkurrenz erklären lässt, dass ein Überleben der Gattung Mensch nur möglich ist, wenn sich die Gattung fähig erweist, innerhalb der Grenzen der Biosphäre zu kooperieren (vgl. Markl, 2.2.5.2).

 

2.5.2 Zusammengefasste didaktische Vorschläge für die Kooperation von Politischem Unterricht und Geschichte

1. Ausgangspunkt und oberstes Auswahl- und Wichtigkeitskriterium für beide Fächer/Aspekte ist die aufs Existentielle zielende didaktische Frage:

Wie können wir durch Geschichts- und Politikunterricht dazu beitragen, Schüler für die menschenwürdige Bewältigung von Situationen auszustatten, von denen wir heute und voraussichtlich morgen betroffen sind; wie können wir sie ausstatten für die Wahrnehmung von Chancen und die Bewältigung von Gefahren unserer geschichtlichen Situation?*

2. Weil Fragen an Geschichte, Gegenwart und Zukunft (wie sie von Historikern, Gesellschaftswissenschaftlern, Fachdidaktikern, Politikern gestellt werden), als perspektivisch erkannt worden sind (d. h. dem oft unbewussten Vorverständnis und/oder den bewussten Interessen und Absichten der Fragenden erwachsen), ist es notwendig, diese Perspektiven (Vorentscheidungen, Wert- und Zielvorstellungen) offenzulegen und Kontroversen darüber zum Thema zu machen - wenn man nicht einem "geheimen Curriculum" verfallen will.

Zunehmend wird die Perspektivität historischer Aussagen von Geschichtsdidaktikern wie von Historikern (und zwar nicht nur von solchen, die der Kritischen Theorie mehr oder weniger nahestehen) betont. Zumal Mommsen weist eindringlich nach, in welcher Weise leitende Gesichtspunkte (metatheoretische Fragestellungen) unvermeidbar in den Erkenntnisprozess einspielen. Er folgert daraus, daß die Prämissen offengelegt und gegenüber einer intersubjektiven Überprüfung offen bleiben müssen (dtv WR 4281, 444f.); Annette Kuhn zitiert Kocka mit dem Satz: "Aussagen über die Vergangenheit sind von Einschätzungen der Gegenwart und von Stellungnahmen zur wünschenswerten Zukunft durchsetzt" (Schörken 1978, 123).

Wie Rohlfes sagt, entstehen historische Sachverhalte "aus den Fragen der Historiker an die historische Überlieferung, sind also nicht die vergangene Wirklichkeit selbst". Er fährt dann fort: "Ebensowenig sind sie beliebige Konstrukte, die ihr Dasein lediglich gegenwärtigen Erkenntnisinteressen verdanken. Solche Erkenntnisinteressen sind zwar der Rahmen, innerhalb dessen das historische Material ausgewählt, analysiert, interpretiert und bewertet wird, aber wie dieser Rahmen ausgefüllt wird, das liegt nicht mehr in der Reichweite des Erkenntnisinteresses, sondern hängt allein von den Aussagen des zur Verfügung stehenden Erkenntnismaterials ab - zumindest innerhalb eines Wissenschaftsverständnisses, dem Objektivität eine Tugend und nicht ein Aberglaube ist" (Schörken 1978, 24).

In dieser Konzeption werden die Perspektiven, - die Prämissen für die Wertungen - in den Optionen formuliert. Didaktisch fungieren die Optionen in beiden Fächern:

  • als Ergebnisse der Geschichte, hinter die wir nicht zurückfallen dürfen;
  • als Ziele, denen durch Politik und Erziehung Geltung verschafft werden muss;
  • als Inhalte (die freilich, wenn sie nicht Leerformeln bleiben sollen, nicht irgendwann [/S. 244] einmal zu vermitteln bzw. zu lernen sind, sondern die immer wieder an konkreten historischen und gegenwärtigen Situationen thematisiert werden müssen, indem ihre Konsequenzen für menschenwürdiges Überleben verdeutlicht werden);
  • und damit vor allem: als Wertperspektiven, die bei Antworten auf Fragen an historische und gegenwärtige Entwicklungen und Ereignisse angelegt werden.

3. (Kernthese) Kooperation wird vor allem dadurch hergestellt, dass man an Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft im Geschichtsunterricht und im politischen Unterricht grundsätzlich gleiche, zumindest vergleichbare Fragen richtet. Im gesellschaftswissenschaftlich-politischen Bereich geht es um systematische Antworten als Voraussetzung für eine schärfere Erfassung von Zusammenhängen; im historischen Bereich geht es um Antworten, mit deren Hilfe sich der Schüler in die Vielfalt, Eigenständigkeit und Widerständigkeit historischer Situationen hineinleben kann.

 

2.5.3 Vorschläge für didaktische Leitfragen für die Kooperation

Die Leitfragen sollen dazu dienen, Einzelfragen und Unterrichtsgegenstände so auszuwählen und zu gewichten, dass sie als Antwort auf Probleme von allgemeiner Bedeutung erkannt werden können. Mit ihrer Hilfe können geschichtliche, erdkundliche und Themen der politischen Bildung als verschiedene Aspekte gleicher Fragestellungen begriffen werden. In ihrer allgemeinen Form zielen sie auf Überleben und menschenwürdiges Leben ab; ihre Beantwortung soll für die Bewältigung (für Erkennen, Urteilen, Handeln) von und in Situationen qualifizieren, von denen Schüler subjektiv und objektiv betroffen sind. So gesehen lassen sich alle Themenbereiche der drei Fächer in vier zentrale Themen- bzw. Fragenkomplexe gliedern:

  1. Erarbeitung, Sicherung, Verbesserung des Lebensunterhaltes
    In welcher Weise und in welchem Ausmaß waren/sind Menschen je von der Natur abhängig? Wovon und von wem hing/hängt es ab, ob Bedürfnisse befriedigt werden können?
  2. Verteilung von Eigentum und Macht; Regelungen des Zusammenlebens
    Wie waren/sind Eigentum, Besitz, Macht, Ansehen verteilt? Wie kamen/kommen verbindliche Entscheidungen zustande? Wie wurden/werden sie durchgesetzt? Gab/gibt es Rechte der Person? für alle?
  3. Austrag von Konflikten
    Wie (mit welchen Mitteln) wurden/werden Konflikte ausgetragen? Welche Regelungen gab/gibt es dafür?
  4. Rechtfertigung, Sinngebung, Normen; Möglichkeiten und Formen menschlicher Kommunikation
    Wie wurde/wird die staatlich gesellschaftliche Ordnung begründet, gerechtfertigt, infrage gestellt? Wie wurde/wird die Frage nach dem Sinn des Daseins beantwortet? Wie erhielten/erhalten die Menschen Informationen?

Schon diese allgemeinen Fragen können sowohl auf historische als auch auf gegenwärtige Themen, Situationen und Probleme angewendet werden, einschließlich der politisch bedeutsamen geographischen Themen. [/S. 245]

Für die Geschichte lassen sie sich weiter konkretisieren, indem zum Beispiel gefragt wird:

  • Zu 1.:
    Welche Fortschritte in der Beherrschung der Natur wurden erzielt? Auf Kosten welcher Gruppen? Welche Einbussen waren damit verknüpft? Welche Abhängigkeiten wurden vermindert, vermehrt?
  • Zu 2.:
    Welche Fortschritte bei der Überwindung von sozialen Ungleichheiten, bei der Sicherung der Personrechte, der Lösung von Problemen der Daseinsvorsorge wurden zu jener Zeit erzielt? Welche Gruppen waren daran beteiligt?
  • Zu 3.:
    Welche Regelungen/Institutionen gab es für den Austrag von Konflikten zwischen Gruppen? Zwischen Völkern?
  • Zu 4.:
    Welche Begründungen dienten der Aufrechterhaltung der jeweiligen Ordnung? Mit welchen Gründen wurde sie infragegestellt? Welche Möglichkeiten hatten die Menschen (hatten Gruppen) sich zu informieren?

In der Politischen Bildung wird in Bezug auf die Beteiligung an zustimmungswürdigen Entscheidungen zusammengebracht, was in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen, aber auch in den Fächern Geschichte (zeitlich) und Erdkunde (räumlich) getrennt erscheint. Im Zusammenhang mit Situationen kann gefragt werden:

  • Zu 1.:
    Welche langfristigen Lösungen sind angesichts des Widerspruchs zwischen technisch Möglichem einerseits und Ressourcenknappheit, Umweltbelastung, Stress in Arbeit und Freizeit anderseits zustimmungswürdig?
  • Zu 2.:
    Welche Möglichkeiten der Beteiligung sind in einer konkreten Situation gegeben? Müssten neue geschaffen werden? Trägt diese mögliche Lösung dazu bei, Freiheit der Person, soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit zu fordern? Welche politische Aufgabe bleibt ungelöst, weil sie nicht erkannt wird? weil Gruppen die Macht besitzen, ihre Lösung zu blockieren? Was können Einzelne, Gruppen und Staat zur Lösung beitragen?
  • Zu 3.:
    Welche Möglichkeiten bestehen in einem konkreten Konflikt, vernünftige Lösungen gewaltfrei durchzusetzen? Welche müssten geschaffen werden?
  • Zu 4.:
    Wie lässt sich durch Aufklärung und Information bewirken, was früher durch unmittelbare Erfahrung in Gang gesetzt wurde?

Ein zweiter (zangenartiger) Frageansatz dient dazu, die Themen (Probleme), historische und gegenwärtige Inhalte und die Situation der Schüler bei der Planung und im Unterricht miteinander in Verbindung zu bringen:

Es wird gefragt:

  • von der jeweiligen historischen Situation aus:
    Welche Probleme, die Menschen damals beschäftigten, die sie damals zu lösen hatten, spielen heute (und - so weit wir wissen - voraussichtlich auch morgen) eine wichtige Rolle?
    Welche damaligen Probleme sind durch die Entwicklung überholt?
    Welche Lösungen müssen aufgrund neuer Bedingungen anders lauten?
    Welche damaligen Ansätze sind verkümmert?
    Welche Probleme wurden in zustimmungsfähiger Weise gelöst?
  • von gegenwärtigen Situationen und Problemen aus:
    Für welche dringenden gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit enthält die jeweilige historische Epoche Vergleichbares? [/S. 246]
    Wo zeigen sich Veränderungen, Unterschiede?
    Wodurch sind sie hervorgerufen worden?
  • von den Lernenden aus:
    Bei welchen vergangenen und gegenwärtigen Problemen kann eine primäre (unmittelbare, subjektive) Betroffenheit bei Schülern vorausgesetzt werden?
    Bei welchen Problemen muss der Zusammenhang zwischen vergangenen und gegenwärtigen Tatbeständen einerseits und existentieller Betroffenheit andererseits didaktisch erst bewusst gemacht werden?

Leitfragen für die Erdkunde lassen sich nicht durchgängig auf alle erdkundlichen Themen anwenden.

Mit dem Begriff "Daseinsgrundfunktionen" (Essen, Sich Kleiden, Wohnen) kann gefragt werden, inwieweit diese Funktionen je von klimatischen, räumlichen Bedingungen abhängig sind. Aber diese Fragestellung greift zu kurz, wenn nicht zugleich nach den historischen und politischen Bedingungen für die Entwicklung der räumlichen Faktoren gefragt wird. Daneben ist aufzuzeigen, dass in der Erdkunde als gleichzeitig, aber räumlich getrennt, erfahren werden kann, was historisch "ungleichzeitig" ist.

Für die Kooperation der Fächer Erdkunde und Politische Bildung kann gefragt werden:

  • Von der Erdkunde aus:
    Welche räumlichen Bedingungen sind den bei uns herrschenden vergleichbar? Welche Folgen haben Eingriffe in die Natur für uns? Welche Lösungen, die dort entwickelt worden sind, können eine Hilfe für die Beurteilung und Lösung unserer Probleme leisten?
  • Von unserer Situation aus:
    Wie lässt sich regionale Disparität (zwischen Regionen innerhalb unseres Landes, Europas, der Welt) ausgleichen? Welche unserer politischen Formen und welche Wertvorstellungen können auch von anderen Völkern anerkannt werden? unter welchen Bedingungen?*
 

2.5.4 Beispiel zum Gegenwartsbezug historischer Themen

Hierzu das Protokoll eines Sozialwissenschaftlers, der ein Praktikum betreute:

"Es handelt vom Probeunterricht einer Studentin in einer Dorfschule, den der Verfasser als 'Tutor' miterlebte. Das Stundenthema lautete: Albrecht der Bär besiedelte die Mark Brandenburg. Die Studentin berichtete, wie Albrecht der Bär Siedler ins Land holte, das 'menschenleer' war. Die Siedler kamen aus übervölkerten westlichen Gauen des Reiches; die Studentin erzählte, wie in diesen Gauen die Bauern ihre kinderreichen Familien kaum mehr ernähren konnten und wie dann die jüngeren, landlosen Söhne in die Weiten des freien Ostens aufbrachen. Der Verfasser griff ein und fragte, wie man denn eigentlich heute mit dem Problem fertig werde. Verblüfftes Schweigen. Aber auf weitere Fragen kam dann - wie zu erwarten - zutage, dass die meisten Väter der Kinder dieses Dorfes nicht mehr in der Landwirtschaft, sondern in der nahegelegenen Stadt arbeiteten. Und schließlich brachten die Kinder heraus: "Wir lösen das Problem nicht mehr, indem wir neues Land erobern, sondern durch neue Arbeitsplätze in der Industrie."

Darauf folgte noch eine Frage: Wie ist es nun aber in den Ländern, wie beispielsweise Indien, das gerade im Erdkundeunterricht behandelt worden war, in denen das Land auch nicht mehr für die vielen Menschen ausreicht, in denen es aber noch so gut wie keine Industrie gibt? Die Kinder diskutierten die Frage und kamen nun selbst zu dem Ergebnis, dass nur drei Möglichkeiten bestehen:

  1. Hunger und Seuchen begrenzen die Bevölkerung.
  2. Man führt einen Eroberungskrieg gegen die Nachbarn, um neues Land zu gewinnen.
  3. Das Gebiet wird so schnell wir möglich wirtschaftlich entwickelt" ( Krockow 1969, 30).

Es wird deutlich, 1., dass es sich beim Dozenten nicht etwa um einen methodischen Vorsprung [/S. 247] handelt, sondern darum, dass er als didaktisch denkender Sozialwissenschaftler die historische Situation auf eine fundamentale Erkenntnis hinbezieht; und 2., dass dieses Beispiel zugleich zum Transfer anregt:

Der Sachverhalt, dass sich durch Technisierung, durch "Massenproduktion", Bedingungen des Lebens im Raum verändert haben, lässt sich auf andere Situationen übertragen.

 

2.5.5 Weitere Instrumente

"Abhängig - wovon und von wem?"

Hier wird die fundamentale Erkenntnis systematisiert, dass anstelle der Abhängigkeit von den natürlichen Bedingungen zunehmend - und heute im besonders hohen Maße - die von den Mitmenschen, von den Vorkehrungen der Gesellschaft getreten ist.

Es geht darum, die Vorstellung vom "Volk ohne Raum" (H. Grimm) als Irrtum zu enthüllen. Tolstois Erzählung "Wieviel Erde braucht der Mensch" kann ergänzend gelesen werden.

 

  Sammler und Jäger Ackerbau Ägypter heute
Nahrung Geschichtlichkeit
"Jagdgründe"
Zufall
genügend Boden
Vieh
Ungestörtheit
Ausbau der Kanäle und Dämme -
Wetter und Wasserstand (Vorratshäuser)
funktionierender Handel und Transport in der ganzen Welt
Kleidung erlegte Tiere mit geeignetem Fell Arbeitskraft,
Zeit für die Webarbeit
Geräte
Anspruch auf die Erzeugnisse der Handwerker durch Arbeit -
nur wer zum Dorf gehörte, bekam etwas
Kleidung wird maschinell hergestellt;
immer mehr kaufen nicht, was sie brauchen, sondern was "modisch" ist
Wohnung natürliche Gegebenheiten, z. B. Höhlen jede Familie erbt oder baut sich ihr Haus Wer in der Dorfgemeinschaft mitarbeitet, erhält Bauplätze immer mehr Eigenheime, aber immer noch in den Städten am meisten Miet-Wohnungen
Gefahren jeder aus einer anderen Sippe ist "Feind" Eroberervölker (Nomaden) lange Zeiten ohne äußere Gefahren jeder Krieg -
Diktatur -
aber auch Verkehr
Wünsche auf die Urbedürfnisse beschränkt für wenige werden Schmuck, Wohnkultur, kunstvolle Gegenstände möglich

Die Voraussetzung einer nur von den gesellschaftlichen Bedingungen abhängigen Produktion muss relativiert werden, und zwar im Bezug auf die Erde als Ganzes. Das verlangt in der Tabelle eine neue Spalte. In dieser Spalte Morgen muss sich bei allen in der Waagerechten aufgeführten Bedürfnissen die Begrenztheit der Ressourcen und die Gefährdung des Ökosystems niederschlagen. [/S. 248]

 

 

2.5.6 Literaturhinweise

  1. Benutzte Literatur

Beyme, Klaus von (1970): Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa. München: Piper [1].

Hilligen, Wolfgang (1981): Zur Kooperation von Geschichte und Politischem Unterricht. In: 25 Jahre Politische Bildung in Hessen. Protokoll Nr. 06/103/1981 des Hess. Instituts für Lehrerfortbildung.

Hilligen, Wolfgang (1976): Zum Verhältnis von Geschichte und Sozialkunde. In: Zur Didaktik des politischen Unterrichts II. Schriften 1950-1975, kommentiert 1975. Ein Supplement. Opladen: Leske, Seite 165-188.

Krockow, Christian von (1969): Sozialwissenschaften, Lehrerbildung und Schule. Opladen: Leske [2].

Markl, Hubert (1980): Ökologische Grenzen und Evolutionsstrategie Forschung. In: Mitteilung der DFG (3); in einer verkürzten Fassung in: FAZ, Dezember 1980.

Mickel, Wolfgang (Hg.) (1979): Politikunterricht im Zusammenhang mit seinen Nachbarfächern. Mit Beiträgen von Behrmann, Böttcher, Cube, Grosser und Sutor, München: Ehrenwirth.

Mommsen, Wolfgang J. [3] (1977): Der perspektivische Charakter historischer Aussage und das Problem von Parteilichkeit und Objektivität historischer Erkenntnis. In: Koselleck, Reinhart (Hg.): Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft. München: dtv, WR 4281.

Schörken, Rolf (Hg.) (1978): Zur Zusammenarbeit von Geschichts- und Politikunterricht. Anmerkungen und Argumente 20. Stuttgart: Klett [4].

Schörken, Rolf (1977): Der lange Weg zum Geschichtscurriculum. In: Geschichtsdidaktik, Jg. 2 ( 3-4).

Tibi, Bassam (1980): Akkulturation und interkulturelle Kommunikation. Ist jede Verwestlichung kulturimperialistisch? In: Gegenwartskunde/GSE. Jg. 29 (2). Seite 173-189.

  1. Neuere Schriften zur Didaktik der Geschichte

Die Geschichtsdidaktik hat im vergangenen Jahrzehnt (im Vergleich zur Entwicklung der Didaktik des Politischen Unterrichts: etwa ein Jahrzehnt verspätet) eine neue Entwicklung genommen. Einige wichtige Schriften:

Behrmann, Günter [5]; Jeismann, Karl-Ernst; Süssmuth, Hans (1978): Geschichte und Politik. Didaktische Grundlegung eines kooperativen Unterrichts (Studien zur Didaktik, B. 1) Paderborn: F. Schöningh.

Bergmann, Klaus; Kuhn, Annette; Rüsen, Jörn; Schneider, Gerhard (Hg.) (1979): Handbuch der Geschichtsdidaktik. Bd. 1 und 2. Düsseldorf : Schwann.

Bergmann, Klaus; Rüsen, Jörn (Hg.) (1978): Geschichtsdidaktik: Theorie für die Praxis. Düsseldorf: Schwann.

Kuhn, Annette (1974): Einführung in die Didaktik der Geschichte. München: Kösel.

Kuhn, Annette; Rothe, Valentine (1980): Geschichtsdidaktisches Grundwissen. Ein Arbeits- und Studienbuch. München: Kösel.

Mayer, Ulrich; Pandel, Hans-Jürgen (1976): Kategorien der Geschichtsdidaktik und Praxis der Unterrichtsanalyse. Anmerkungen und Argumente 13. Stuttgart: Klett [4].

Süssmuth, Hans (Hg.) (1973): Historisch-politischer Unterricht. Stuttgart: Klett [4].

 

2.5.7 Anmerkungen

* Formuliert in Analogie zu Kants Aussage: Anschauung ohne Begriffe ist blind, Begriffe ohne Anschauung sind leer.

* Auf die Tragfähigkeit des existentiellen Ansatzes bei Chancen und Gefahren für den Geschichtsunterricht hat Rolf Schörken (1977, 344) nachdrücklich hingewiesen.

* Zu dieser schwierigen Frage vgl. Bassam Tibi: Akkulturation und interkulturelle Kommunikation. Ist jede Verwestlichung kulturimperialistisch? In: Gegenwartskunde/GSE, Jg. 29 (2), 1980, 173ff.

 
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[2] http://www.leske-budrich.de
[3] http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/BEITRAG/intervie/biograph/wmomms.htm
[4] http://www.klett-cotta.de
[5] http://www.uni-potsdam.de/u/LpB/Mitarbeiter/Behrmann/behrmann.htm