Eine geschichtsdidaktisch gerichtete Theorie des Geschichtsbewusstseins stößt immer wieder auf die kognitiven Schwierigkeiten beim Umgang mit moralischen Prinzipien. Die Welt historischer Sachverhalte wird "moralisiert", d. h. es wird nach den zugrunde liegenden Motivationen und den Begründungsformen von Handlungen gefragt, und diese werden dann gewertet. Historische Ereigniszusammenhänge werden als gut oder schlecht, historische Handlungen als richtig oder falsch klassifiziert. Darüber hinaus finden sich Formen des moralisierenden Deutens (Vorsehung, Verschwörung, Dolchstoß etc.) historischer Entwicklungsprozesse. Dennoch ist uns im Moment noch völlig unbekannt, welche Bedeutung moralische Prinzipien für die Wahrnehmung und Deutung von Geschichte haben.
Moralisches Bewusstsein allgemein besteht in der Selbstobligation gegenüber sozialen Normen (12). Es ist deshalb nach den sozialen Normen und deren Bindung zu fragen. Hinsichtlich der Wahrnehmung und Deutung von Geschichte besteht moralisches Bewusstsein in der Fähigkeit, die Prädikate gut und böse nicht willkürlich oder zufällig, sondern nach Regeln anzuwenden.
Hier stellen sich für das Geschichtsbewusstsein zwei Probleme, von denen das eine Geschichte als Prozess und das andere die Verstehbarkeit historischer Situationen betrifft.
Die vorfindbaren moralischen Argumentations- und Begründungsmuster lassen sich hierarchisch ordnen (Egozentrik, Heteronomie, Autonomie), und diese Hierarchie bringt einen entwicklungslogischen Zusammenhang zum Ausdruck. Es spricht vieles dafür, dass die Entwicklung des moralischen Bewusstseins einem rational nachkonstruierbaren Muster folgt. Über diesen Entwicklungsgang des moralischen Bewusstseins geben uns die Untersuchungen von Jean Piaget und Lawrence Kohlberg Auskunft. Nach Kohlberg vollzieht sich das moralische Bewusstsein in sechs Stufen (13).
Die Untersuchung von moralischen Argumentationsformen, die sich auf historische Ereignisse beziehen, erlaubt eine zureichendere Analyse des historischen Handlungszusammenhanges als bisher. Ein Konzept wie das von Kohlberg, das allgemeine Menschheitsgeschichte und individuelle Lebensgeschichte verknüpft, vermeidet es, den Schülern die unterschiedlichen Handlungsorientierungen und Wertsysteme in der Geschichte als ein buntes, beliebiges und zufälliges Kaleidoskop kontingenter Ereignisse ohne eine bestimmte Entwicklungslogik vorzustellen. Wenn die Muster moralischen Handelns stets kontingent wären, wäre eine historistische Relativierung begründet. Eine solche Annahme schränkt die historischen Erkenntnismöglichkeiten ein, man kann aber mehr erkennen, als der Historismus für möglich hielt.