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Sutor, Bernhard (1984): Exkurs V: Geschichtsunterricht und politische Bildung; S. 221-23, in: Neue Grundlegung politischer Bildung, Bd. II, 1984, Paderborn: Ferdinand Schöningh

S. 221-23, in: Neue Grundlegung politischer Bildung, Bd. II, 1984, Paderborn: Ferdinand Schöningh

Die didaktische Analyse der Aufgabenfelder politischer Bildung, wie wir sie in Kapitel D vorgenommen haben, hat an vielen Stellen nachdrücklich demonstriert, wie sehr politisches Urteilen auf geschichtliches Verstehen angewiesen ist. Das kann nicht überraschen. Wenn Geschichtlichkeit eine anthropologische Konstante ist, muss sie auch als soziologische, als politikwissenschaftliche und als didaktische Grundkategorie erscheinen. Es gibt nicht die reine Gegenwart; der Versuch, sie vorzustellen, trifft nur auf den jeweiligen Punkt im Strom der Zeit. Es ist daher im Ansatz verständlich und richtig, dass seit Jahrzehnten um eine plausible didaktische Zuordnung von Geschichte und Politikunterricht gerungen und der Beitrag der Geschichte zur politischen Bildung diskutiert wird. Die Schwierigkeit der Aufgabe erhellt aus der Tatsache, dass diese Diskussion bisher zu keinem allgemein anerkannten Konzept geführt hat. Bildungspolitisch hat sich der Streit der siebziger Jahre zwar gelegt, aber die Grundfrage blieb unentschieden. Dem Konzept einer integrierten Gesellschaftslehre steht das Beharren auf eigenständigem Geschichtsunterricht gegenüber. Die geschichtsdidaktischen Positionen stehen gewiss differenzierter dazwischen, aber keineswegs in einem in Lehrpläne umsetzbaren Konsens (Süssmuth 1980). Ich selbst habe in den siebziger Jahren in Rheinland-Pfalz an koordinierten Lehrplänen für das gesellschaftswissenschaftliche Aufgabenfeld der reformierten gymnasialen Oberstufe mitgearbeitet und habe das dabei entwickelte Konzept in Auseinandersetzung mit didaktischer Literatur in Aufsätze einfließen lassen (Sutor 1979 sowie Sutor bei Mickel 1979). Die nachstehende Skizze ist im wesentlichen eine Zusammenfassung des dort Entwickelten.

 

1. Didaktische Folgerungen aus der Grundkonstante Geschichtlichkeit

Wenn menschliches Dasein in der Gesellschaft prinzipiell geschichtlich verfasst ist (B I 3), dann ergeben sich daraus didaktisch relevante Folgerungen, die kurz genannt seien:

Erstens: Die Handlungsprobleme menschlichen Zusammenlebens müssen bewältigt werden in der Spannung zwischen Dauer und Wandel, zwischen einer Überlieferung, die Geltung beansprucht, und Fortschritt, der aus Veränderungswillen entspringt. Überlieferung und Fortschritt bilden keinen reinen Gegensatz, sondern stehen in einem dialektischen Verhältnis. Fortschritt hat die menschliche Gesellschaft nur, weil sie Tradition bildet. Es wäre daher falsch, Geschichtsunterricht und politische Bildung prinzipiell aus konservativer oder aus progressiver Grundhaltung zu konzipieren. Nur erkannte Geschichte macht frei zu Aneignung oder Kritik des Überlieferten. Historisch-politische Bildung soll deshalb Traditionen weder tabuisieren und naiv pflegen, noch sie progressistisch verwerfen, sondern zum Gegenstand des Nachdenkens machen.

Zweitens: Geschichtlichkeit bedeutet Offenheit und Unvollendbarkeit der Geschichte. Wir kennen nicht die Geschichte als ganze und können sie nicht von einem idealen Endzustand her begreifen. Geschichte ist keine Einbahnstrasse des Fortschritts, auf der von einem idealen Ende her Antworten auf unsere heutigen Probleme zu finden und die Opfer der Vergangenheit und Gegenwart zu rechtfertigen wären. Gegenwartsprobleme können nur durch partielle Verbesserungen gelöst werden, die ihren Preis haben. Geschichtsphilosophische Totalbilder, so unentbehrlich sie als Denkhorizonte sein mögen, dürfen nicht verabsolutiert und nicht als Ergebnisse der Geschichtswissenschaft dargestellt werden. Der Geschichtsunterricht kann sie bewusst machen und zugleich relativieren, indem er mehrere vergleichend nebeneinander betrachtet. Wenn dagegen Geschichte über den Leisten angeblich erkannter Gesetzmäßigkeiten geschlagen wird, dann wird das konkrete Einzelne missdeutet und missachtet, dann werden Menschen und Gruppen in prinzipielle Freund-Feind-Schablonen gepresst. "Wer die Menschheit der Zukunft als Partei in der Gegenwart reprä[/S.:222]sentiert, hat damit eo ipso alle anderen Parteien in die Partikularität verwiesen, so dass sie als Instanzen der Kritik rechtlos werden" (Lübbe bei Oelmüller 1977, 312). Offenes Geschichtsbild und offene Gesellschaft, historischer und politischer "Relativismus" bedingen einander. Allerdings bedeutet dieser Relativismus nicht normative Beliebigkeit (B I 1/2).

Drittens: Relativismus heißt nicht Flucht in die angeblich reinen Fakten, heißt nicht Absage an Norm- und Wertvorstellungen, heißt nicht Ausweichen vor den Sinnfragen. Im Gegenteil verweist die hier vorgenommene Auslegung von Geschichtlichkeit auf die Verantwortung der jeweils Lebenden und Handelnden für den Gang der menschlichen Dinge. In der Offenheit der jeweiligen geschichtlich-politischen Situation müssen die Menschen Antworten finden auf konkrete Herausforderungen nach Maßgabe sittlicher Prinzipien, deren Geltung sie in ihrem Gewissen vernehmen und in Kommunikation miteinander ergründen.

Viertens: Geschichtlichkeit des Menschen in der Gesellschaft bedeutet auch, Macht und Verantwortlichkeit des Individuums und der heute Lebenden insgesamt nicht idealistisch zu überzeichnen. Das Gewordene, die sozialen Strukturen, die überlieferten Normen und Institutionen, die "Verhältnisse" erfährt der einzelne Mensch zutreffend zunächst einmal als übermächtig. Die in didaktischer Literatur in den siebziger Jahren ständig zitierte Formel "historisch geworden, also veränderbar" ist irreführend. Geschehenes und Gewordenes können wir nicht rückgängig machen. Dem Geschehenen gegenüber können wir uns nur bemühen, in Freiheit unser Verhältnis zu ihm zu bestimmen. Dies ist der reale Kern der sogenannten Bewältigung der Vergangenheit. Das Gewordene, das institutionelle Gefüge und die Strukturen einer Gesellschaft sind von "langer Dauer", sie entziehen sich daher kurzfristigem Veränderungswillen. Übrigens zeigen die im Gefolge raschen sozialen Wandels der letzten Jahrzehnte zu beobachtenden Phänomene wie Daseinsunsicherheit und Mangel an Sinnorientierung, daß Mensch und Gesellschaft auf eine gewisse relative Stabilität ihrer Normen, Institutionen und Strukturen angewiesen sind. Das meiste an sozialem Wandel geschieht wahrscheinlich unmerklich und ungewollt, und gerade deshalb gilt, dass man gezielt verändern soll nur, was man verbessern kann.

 

2. Geschichtlich-politisches Bewusstsein

Geschichtliches und politisches Bewusstsein bilden unabhängig vom Grad ihrer Reflexion einen unauflösbaren dialektischen Zusammenhang. Das Bewusstsein von politischen Problemen und der Wille zu politischer Gestaltung sind geschichtlich bedingt, und ihre ungewisse Zukunftsperspektive begründet ein Bedürfnis, sich der Gegenwart aus der Vergangenheit zu vergewissern. Daher wird Geschichte häufig zu einem Arsenal für Legitimation und Identifikation im politischen Handeln sozialer Gruppen. Das Selbstverständnis von Individuen und Gruppen hat eine geschichtliche Dimension, schließt mindestens rudimentär ein Bewusstsein von Vergangenheit und Einstellungen zur Vergangenheit ein. Die Menschen leben mit Geschichtsbildern, sie suchen ihre Identität in Auseinandersetzung mit Vergangenem, das sie als wirksam erfahren. Daher ist im Mit- und Gegeneinander der sozialen und politischen Gruppierungen immer auch Geschichte wirksam anwesend, wird zur Sprache gebracht und gedeutet. "Ein historisch-politisches Standortwissen ist gleichsam ,sprungbereit' von seiner Deutung der Geschichte und der gegenwärtigen Situation auf die Zukunft gerichtet" (Bergsträßer 1963, 14).

Geschichte ist daher, wie schon Augustinus in seiner berühmten Analyse der menschlichen Erinnerung darlegte, nicht die in sich stehende Vergangenheit, sondern die Gegenwart der Vergangenheit in der Erinnerung. Geschichte ist also einerseits niemals ohne Gegenwartsbezug, ein Geschichtsbild wird von den Erfahrungen der Gegenwart her strukturiert; andererseits beeinflusst die erinnerte Vergangenheit die Wahrnehmung der Gegen[/S.:223]wart und den Zukunftswillen (Keßler bei Schörken 1981, 26 ff.). Jörn Rüsen fasst Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftsperspektive überzeugend in folgender Definition von Geschichte zusammen: "Geschichte ist derjenige Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart, den handelnde Individuen und Gruppen reflektieren müssen, wenn sie ihr Handeln sinnhaft in einer Zukunftsperspektive orientieren wollen" (Rüsen bei Kosthorst 1977, 48). Für Geschichtswissenschaft wie für Geschichtsunterricht bedeutet dies, dass sie, wie immer man im einzelnen ihre Funktionen bestimmt, unabdingbar in einem Gegenwartsbezug stehen.

Geschichtswissenschaft ist in ihrem Zugriff auf ihren Gegenstand, in ihrem Erkenntnisinteresse, in ihren Fragestellungen und in ihrer Problemwahl vom herrschenden Geschichtsbewusstsein und damit auch von der Gegenwart bestimmt. Ihre Objektivität besteht nicht darin, dass sie Vergangenheit gleichsam photographisch abbildet. Vielmehr macht sie Geschichte im definierten Sinn unter bestimmten theoretischen Prämissen zum Gegenstand von Fragen, untersucht sie nach intersubjektiv anerkannten Regeln und stellt ihre Antworten fachlich und öffentlich zur Diskussion. Der öffentliche Bezug war großer Geschichtsschreibung immer wesentlich. Kein wirklicher Historiker schreibt nur für den kleinen Kreis von Zunftgenossen. Geschichtsschreibung bezieht sich auf öffentliches Geschichtsbewusstsein, hat insofern also auch eine didaktische Komponente. Dies ist in der heutigen "Historik" allgemein anerkannt, freilich wird der Gegenwartsbezug der Geschichtswissenschaft von den Forschern und einzelnen Forschungsrichtungen unterschiedlich gewichtet und ausgelegt.

Leider sind die Neuansätze geschichtswissenschaftlicher Selbstbesinnung, die in der Nachkriegszeit zu beobachten waren, in der didaktischen Diskussion zunächst relativ unbeachtet geblieben. Eine gesellschaftskritische Geschichtsdidaktik der siebziger Jahre konnte daher so tun, als pflege die deutsche Geschichtswissenschaft fern von den Fragen unserer Zeit einen "objektivistischen Irrtum" in ihrem Elfenbeinturm. Dagegen ist die gesellschaftlich-politische Relevanz der Geschichtswissenschaft, ihr lebensweltlicher Ursprung lange vor dem Streit um Richtlinien für Gesellschaftslehre und Politikunterricht gründlich erörtert worden. Die Beiträge hierzu von Heimpel und Wittram stammen aus den fünfziger Jahren, Walther Hofers Studien zum modernen Geschichtsdenken ebenfalls. 1961 erschien das "Fischer-Lexikon Geschichte", welches die von Hans Rothfels und seinen Schülern geleistete Rückbesinnung auf die politischen Implikationen der Geschichtswissenschaft darstellte. Diese Neuansätze erbrachten damals zweierlei: Erstens klärten sie im Zuge einer Revision deutscher Geschichtsbilder den in Deutschland bis zum Nationalsozialismus greifbaren Zusammenhang von Historismus und nationalkonservativer Weltanschauung. Zweitens gewannen sie dem unvermeidlichen Ineinander von Geschichtsdenken und Gegenwartsbewusstsein positive Züge ab durch die Entwicklung einer modernen Kritik der historischen Vernunft, jenseits von Objektivismus und Irrationalismus.

Während in diesen Ansätzen eine Balance versucht wurde zwischen dem Gegenwartsbezug historischen Forschens und seiner Verpflichtung, der untersuchten Vergangenheit gerecht zu werden, dominiert bei manchen heutigen, insbesondere jüngeren und sozialwissenschaftlich ausgerichteten Historikern das gegenwärtige Erkenntnisinteresse so sehr, dass sie ihre Wissenschaft unter das Ziel stellen, einen unmittelbaren und handlungsorientierten Sinnzusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu konstruieren (Rohlfes bei Schörken 1981, 63 ff.). Was sich daraus an Gefahren für die Wissenschaftlichkeit der Geschichtswissenschaft ergibt, mag in der fachwissenschaftlichen Diskussion erörtert werden. Für unseren Zusammenhang ist der auch von Rohlfes ins Feld geführte nachdrückliche Hinweis nötig, dass die Gegenwart selbst keine einheitliche Größe ist und also schon deshalb keine altgemeingültigen Sinnlinien zwischen Vergangenheit und Gegenwart konstruiert werden können. Es gibt die unterschiedlichen weltanschaulichen und politischen Lager, die sozialen Gruppierungen und Interessen, die zwischen Indivi[/S.:224]duen und Generationen divergierenden Lebenserfahrungen und Wertüberzeugungen. Wenn Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht etwas zur Klärung der Zusammenhänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart beitragen wollen, dürfen sie an dieser Pluralität nicht vorbeigehen.

 

3. Traditionsreflexion und Hilfe zur Identitätsfindung als Aufgaben des Geschichtsunterrichts

Joachim Rohlfes zitiert in unserem Zusammenhang das bekannte Wort von Jacob Burckhardt, Geschichte solle nicht klug machen für ein andermal, sondern weise für immer. Dieser der klassisch-humanistischen Bildungsvorstellung verpflichtete Gedanke repräsentiert den Versuch, die Beschäftigung mit Geschichte aus einer allzu engen pädagogisch-politischen Zwecksetzung zu befreien. Bei aller Skepsis gegenüber der Tragfähigkeit dieser Bildungsvorstellung muss man bedauern, dass die Geschichte des Geschichtsunterrichts anders aussieht. Die Indienstnahme dieses Schulfaches durch die Herrschenden ist nicht erst ein Phänomen des Nationalsozialismus, sondern lässt sich bis weit ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Übrigens kann angesichts dieser Fachgeschichte die geschichtsdidaktische Ratlosigkeit der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht überraschen. Das Fach hatte seinen bis dahin herrschenden politischen Orientierungsrahmen verloren (Bergmann/Schneider 1982).

Geschichtsunterricht in den öffentlichen Schulen einer demokratisch verfassten pluralistischen Gesellschaft ist an die Bedingungen der Pluralität geknüpft, ist auf wissenschaftliche Rationalität und auf die allgemein anerkannten Wertgrundlagen der gemeinsamen Verfassung verpflichtet. Gerade deshalb darf er nicht unter partikularen politischen Zwecksetzungen stehen, vielmehr muss seine politische Aufgabe konsensfähig formuliert werden. Im Hinblick auf den dargestellten Zusammenhang geschichtlich-politischen Bewusstseins kann man die Aufgabe des Geschichtsunterrichts definieren als historische Aufklärung. Aber Aufklärung und Rationalität machen nicht halt beim Infragestellen und Reflektieren. Wie immer der einzelne Historiker sein Fach versteht und betreibt, in der Schule müssen Aufklärung und Rationalität den anthropologisch grundlegenden Tatbestand umschließen, dass der Mensch ein sinnsuchendes und wertorientiertes Wesen ist und folglich mit bloßer Kritik nicht leben kann. Halbe Aufklärung heißt Auflösung von Traditionen und Identifikationen, ganze Aufklärung erweist Urteilsbildung, wertende Stellungnahme und Identifikation mit Sinnhaftem als human und sozial notwendig. Auch wenn wir die Möglichkeiten der Schule in unserer Gesellschaft nicht überschätzen wollen, kann sie dazu doch einiges beitragen.

Der Geschichtsunterricht kann den Schülern ihre eigene geschichtlich bedingte und vielleicht bisher unreflektiert gelebte Identität bewusst machen durch das Aufzeigen unterschiedlicher Orientierungen von Individuen und Gruppen an ihrer spezifischen Geschichte. Dies ist in einer pluralen Gesellschaft unumgänglich, es erleichtert das Zusammenleben und das gegenseitige Verständnis der Gruppen und ist gerade in Deutschland angesichts der pluralistischen Züge unserer Geschichte besonders notwendig. Die Pluralität unserer Identitäten darf nicht durch eine Einheitsideologie einer Großgruppe, auch nicht durch die einer Nation verdeckt werden (B II Exkurs I). Ferner kann der Geschichtsunterricht das Phänomen der Legitimation gegenwärtiger Verhältnisse aus geschichtlicher Erinnerung aufzeigen und dadurch kritisch machen, vielleicht sogar schützen gegen die Gefahr der Kurzschlüssigkeit und Ideologisierung. Zwar ist die öffentliche Pflege geschichtlicher Erinnerung nicht nur legitim, sondern auch in einer demokratisch verfassten Gesellschaft notwendig, die sich an der Vergewisserung ihrer Ursprünge nicht hindern lassen sollte angesichts der Perversion von Tradition durch Diktaturen. In der Bundesrepublik Deutschland haben wir einen eklatanten Mangel an öffentlicher Traditionspflege. Aber nach den Maßstäben von Humanität, Rationalität und Demokratie ist sie nur legitim als [/S.:225] Ausdruck der Bereitschaft, das Bestehende auch messen zu lassen an dem im Ursprung positiv gemeinten Sinn einer freien Ordnung. Deshalb löst kritisch-rationaler Unterricht auf der Basis dieser Maßstäbe positive geschichtliche Legitimation und Identität nicht auf, sondern reinigt sie, gibt ihr eine rational tragfähige Grundlage.

Hermann Giesecke bezeichnet die historische Selbstvergewisserung der demokratischen Gesellschaft als eine Aufgabe des Unterrichts und grenzt die dabei zu zeichnende "politische Biographie" dieser Gesellschaft gegen ein geschlossenes und verbindliches Geschichtsbild ab (Giesecke 1974, 58 ff.). Dem kann ich voll zustimmen, sehe jedoch in den Diskussionen der siebziger Jahre Anlass hinzuzufügen, dass in der Rückfrage heutiger Demokratie nach ihren Ursprüngen die Offenheit des Demokratiekonzepts und der Geschichtsdeutung einander entsprechen müssen. Es darf nicht eine partikulare Richtung die Traditionen des demokratischen Verfassungsstaates für sich allein in Anspruch nehmen, etwa um ihr Programm als die allein legitime Einlösung demokratischer Verheißungen zu verabsolutieren. Kritischer Geschichtsunterricht verträgt sich mit keiner Art von Einbahn- und Endpunkt-Denken, ganz gleich ob es sich "national" oder "sozialistisch" oder "emanzipatorisch" vorführt. Solches Denken wird der Ambivalenz und der Kontingenz des Geschichtlichen und der Offenheit der Zukunft nicht gerecht.

Schließlich kann Geschichtsunterricht die Identitätsfindung von Individuen, von Gruppen und Gesamtgesellschaft zwar nicht selbst und unmittelbar leisten, aber Möglichkeiten dazu anbahnen, indem er das Verhältnis von Zustimmung und Kritik prinzipiell offenhält, sich dabei jedoch nicht in angebliche Wertneutralität flüchtet, sondern die Sinn- und Wertfragen an den konkreten historisch-politischen Gegenständen offen zur Sprache bringt. Identitätsfindung steht dann nicht im Gegensatz zu Kritik, sie ist freilich nicht eine neben anderen stehende und in gleicher Weise erfüllbare Funktion des Unterrichts, sondern nur eine Möglichkeit jenseits der unmittelbaren Ziele. Was Wissenschaft und Schule in einer pluralistischen Gesellschaft leisten können, ist Humanisierung durch Rationalisierung, Ordnung der Vorstellungswelt in dialogischer Auseinandersetzung. Gelebte Identitäten müssen durch diesen Prozess hindurch wie durch eine Feuerprobe und erweisen sich nur so als tragfähig in einem kontrollierten Selbstverständnis der Individuen und Gruppen wie auch für das friedlich-freiheitliche Zusammenleben in den inner- und zwischenstaatlichen Konfliktfeldern.

 

4. Integration oder Koordination der Fächer?

Da alle tiefer reichenden politischen Probleme der Gegenwart eine geschichtliche Dimension haben, deren Aufarbeitung für das Gegenwartsverständnis hilfreich, oft sogar unentbehrlich ist, wurde in manchen Konzepten historisch-politischer Bildung gefolgert, Geschichte ließe sich gleichsam ohne Rest in Gegenwartskunde oder Gesellschaftslehre oder Politikunterricht integrieren. Der Beitrag der Geschichte zur politischen Bildung würde sich dann darin erschöpfen, die geschichtliche Entwicklung gegenwärtiger Probleme zu erschließen. Unterrichtsorganisatorisch sollte das so aussehen, dass anlässlich gegenwärtiger Probleme und Konflikte zurückgefragt wird nach ihrer Entstehung und Entwicklung. Im methodisch unzulänglichen Falle führt dies dazu, Geschichte zum "Steinbruch", zum Arsenal für Versatzstücke innerhalb gegenwärtiger interessenbedingter und ideologischer Positionen zu degradieren. Aber die Analyse der geschichtlichen Herkunft gegenwärtiger Probleme kann durchaus auch den Erfordernissen historischer Methode genügen, und ohne Zweifel liegt in solcher Erklärung ein wesentlicher Beitrag der Geschichte zur politischen Bildung. Dennoch ist es ein Kurzschluss zu meinen, auf diese Weise ließe sich Geschichte befriedigend in Politikunterricht integrieren.

Gegen diese Versuche soll hier zunächst gar nicht wissenschaftstheoretisch und prinzipiell argumentiert werden. Wenn man voraussetzen kann, dass ein Lehrer in Geschichte und Sozialwissenschaften gründlich ausgebildet ist, dann kann es für ihn und für seine [/S.:226] Schüler eine reizvolle Aufgabe sein, bestimmte Gegenstände bzw. Themen, die durchaus nicht nur aus der Gegenwart zu stammen brauchen, sowohl in historischer als auch in sozialwissenschaftlicher Perspektive mit den entsprechenden Kategorien und Methoden zu bearbeiten. Geschichts- und Sozialwissenschaften sind sich zumal seit der Entwicklung historischer Sozialwissenschaft nicht mehr so fern und fremd, dass man sie nicht auch im Unterricht aufeinander beziehen könnte. Das ist prinzipiell in zwei Weisen möglich. Erstens kann man den gleichen Gegenstand im Wechsel zwischen historischer und sozialwissenschaftlicher Perspektive angehen. Zweitens kann man unterschiedliche Gegenstände beider Fächer vergleichender Fragestellung unterwerfen; etwa, indem man eine historische Strukturanalyse früherer Institutionen und Systeme neben eine gegenwartsbezogene Systemanalyse stellt, eine historische Konstellationsanalyse neben eine politikwissenschaftliche Fallanalyse. Die beiden Disziplinen überschneiden sich in ihren Methoden und Kategorien, wenn sie sich auch nicht völlig decken; sie unterscheiden sich wie jede wissenschaftliche Disziplin von der anderen durch ihre spezifische Perspektive, durch ihr Formatobjekt (Schieder 1977; Sutor bei Mickel 1979).

Aber mit solchen Versuchen, die den kundigen Fachmann voraussetzen, wären die beiden Fächer nicht integriert. Bei näherem Zusehen, nämlich bei dem Versuch festzulegen, was denn inhaltlich aus Geschichte und Gegenwart miteinander in Beziehung gesetzt oder in Parallele zueinander bearbeitet werden soll, erweist sich Integration unterrichtsorganisatorisch und gegenständlich als unmöglich. Dies lässt sich schon an den Versuchen, geschichtliche Entwicklungen und gegenwärtige Problemlagen aufeinander zu beziehen, erkennen. Wie weit kann und soll man im Politikunterricht Gegenwartsprobleme und -phänomene in ihre Vergangenheit zurückverfolgen? Die Deutschlandfrage beginnt aktuell mit dem Jahr 1945, hat aber freilich sehr viel weiter zurückreichende Wurzeln. Die Geschichte unserer politischen Parteien reicht ins 19. Jahrhundert, ebenso das sozialstrukturelle Problem des Verhältnisses von Kapital und Arbeit, die Institutionen sozialer Sicherheit und vieles andere. Die Geschichte des Parlamentarismus beginnt im Mittelalter, die des Rechtsstaates in der frühen Neuzeit, die der modernen Demokratie spätestens in der Aufklärung. Kurzum, es ist historisch gesehen immer willkürlich, mit den Rückfragen in die Geschichte an einer bestimmten Stelle kaltzumachen. Vor allem aber gewinnt die Genese unserer heutigen tieferreichenden Probleme in allen Fällen schon vom Umfang her den Charakter eines eigenen Themas, das unterrichtsorganisatorisch nicht mehr in die Bearbeitung eines aktuell-gegenwärtigen Problems einzuordnen ist. Für eine erste vorläufige Orientierung im Politikunterricht mag es oder muss es oft genügen, einige Stichworte zur geschichtlichen Entwicklung einzuführen. Aber gerade deshalb ist es auch um politischer Bildung und um eines fundierten Gegenwartsverständnisses willen nötig, unabhängig davon Geschichte breiter und gründlicher zu betrachten. Man kann Geschichte nicht gleichsam nebenher bei Gelegenheit aktueller Probleme und Konflikte abhandeln.

Es handelt sich bei der geschilderten Schwierigkeit allerdings nur scheinbar um eine rein unterrichtsorganisatorische. Just an dem Konzept politischer Bildung, wie wir es hier entwickelt haben, lässt sich die Erkenntnis ablesen, dass ein unter Handlungs- und Zukunftsperspektiven auf politisches Urteilen zielender Politikunterricht nur die eine Seite politischer Bildung ausmacht und dringend der Ergänzung durch einen Geschichtsunterricht bedarf, dessen Ziel historische Ortsbestimmung der Gegenwart lautet. Die geschichtliche Dimension der Gegenstände, mit denen der Politikunterricht sich befasst, ist unter der Kategorie der Geschichtlichkeit allein, die uns oben als eine unter vielen Kategorien begegnet ist (vgl. C III 1), gar nicht hinlänglich erfasst. Denn Geschichtlichkeit durchdringt auch alle anderen Kategorien des Politischen, auch diese haben geschichtlichen Charakter. Heutige Interessen und ihre Interpretationen, die Ideologien, die sozialen Strukturen, das geltende Recht und die Institutionen, die Machtverhältnisse und schließlich unsere normativen Vorstellungen von Legitimität und Zumutbarkeit, von individueller und politischer Freiheit, von sozialer Gerechtigkeit und von Frieden sind allesamt geschichtlich geworden [/S.:227] und bedürfen deshalb um politischer Bildung willen historischen Verstehens. Bildhaft ausgedrückt heißt dies: Geschichte trifft nicht wie in einem einzigen Punkt auf unsere Gegenwart, sondern bestimmt diese als breiter Strom, der aus der Vergangenheit auf uns zukommt. Geschichte ist deshalb nicht punktuell von einzelnen Problemen und Konflikten der Gegenwart her angemessen erfassbar. Deshalb darf Geschichte gerade auch um politischer Bildung willen nicht reduziert werden auf die Bearbeitung der Genese heutiger Probleme. Er muss vielmehr didaktisch kategorial eigenständig gefasst werden, wenn historische Ortsbestimmung der Gegenwart nicht an einem zu engen Ansatz scheitern soll.

Unter diesem Aspekt erweist sich als das Hauptproblem der Geschichtsdidaktik nicht die Frage nach kategorialen und methodischen Lernpotentialen der Geschichte; darin ist vielmehr relativ leicht ein gewisser Konsens zu erzielen (Rohlfes 1974, Sutor bei Mickel 1979) und die dort verarbeitete Literatur). Das schwierigere Problem ist die Bestimmung der Inhalte geschichtlicher Bildung, die für eine historische Ortsbestimmung der Gegenwart unabdingbar sind. Diese Aufgabe kann nur gelöst werden, wenn wir nicht nur aus unserer Gegenwart in die Geschichte zurückfragen, sondern zugleich umgekehrt den Versuch machen, die Gegenwart im geschichtlichen Zusammenhang zu begreifen. Nur so lassen sich fatale Verengungen vermeiden, die in der Vergangenheit immer wieder vorgekommen sind. Zwar hat die Geschichtsdidaktik nach dem Zweiten Weltkrieg nacheinander einige Verengungen überwunden, so die nationalstaatliche durch die Hereinnahme europäischer und weltgeschichtlicher Perspektiven; so die personalisierende und idealisierende Geschichtsbetrachtung durch stärkere Berücksichtigung der Sozialgeschichte als Bereich und der Strukturgeschichte als Aspekt seit Ende der sechziger Jahre. Umso erstaunlicher ist es, dass immer wieder neue Verengungen von einem einseitig verstandenen Gegenwartsbezug her didaktisch legitimiert werden. Neben dem weiter oben schon zurückgewiesenen emanzipatorischen Ansatz einseitiger Geschichtsbetrachtung hat sich in den sechziger und siebziger Jahren im Zuge der Diskussion um Fächerintegration besonders eine inhaltliche Verengung ausgewirkt, nämlich eine Verkürzung unserer Geschichte auf die Zeit etwa seit der Aufklärung und der Französischen Revolution.

Es ist im Prinzip nichts einzuwenden gegen ein inhaltliches Überwiegen neuzeitlicher und zeitgeschichtlicher Themen; denn je mehr wir an unsere Gegenwart herankommen, umso stärker haben wir es mit unserer eigenen unmittelbaren Vorgeschichte zu tun, umso vielfältiger werden die Bezüge zu heutigen Fragen, die historisch aufweisbar und erfahrbar sind. Historisch fundiertes Gegenwartsverständnis ist daher viel stärker auf Detailkenntnis etwa aus dem 19. und 20. Jahrhundert angewiesen als auch solches aus Antike und Mittelalter. Dennoch muss die Vorstellung, die Genese unserer Zeit reiche nur bis zur Aufklärung zurück, als ein unhistorischer Kurzschluss bezeichnet werden. Vielmehr ist gerade unsere Gegenwartssituation sowohl innergesellschaftlich wie zwischenstaatlich derart, dass ihre historische Ortsbestimmung einer universalgeschichtlichen Sicht bedarf. So treten etwa die Eigenarten und Probleme einer industriell-technisch bestimmten Gesellschaft umso deutlicher hervor, je mehr man sie im Kontrast zu vorindustriellen Gesellschaftsformen betrachtet. Das Zusammenwachsen der Völker der Erde zu einer Verkehrs-, Wirtschafts- und Kommunikationseinheit stellt heute die Kunst der Politik vor Aufgaben, die in ihrer Besonderheit erst in universalgeschichtlicher Anschauung hervortreten. "Wird Politik zur Weltpolitik, so ist die weltgeschichtliche Besinnung ihr notwendiges Korrelat" (Bergsträßer 1963, 36). Die Auswahlfrage für eine historische Ortsbestimmung der Gegenwart kann daher didaktisch nur sinnvoll diskutiert werden, wenn man zunächst davon ausgeht, dass die ganze Geschichte der Menschheit mögliches Arbeitsfeld für einen Geschichtsunterricht ist, der zum Gegenwartsverständnis beitragen soll. Aus diesem Feld unübersehbarer möglicher Gegenstände darf dann freilich nicht beliebig und willkürlich ausgewählt werden; denn es geht um unsere Geschichte, um den Zusammenhang unserer Gegenwart mit unserer eigenen Vergangenheit. [/S.:228]

Folgende Auswahlaspekte, die in didaktischer Literatur, freilich in unterschiedlicher Gewichtung, alle diskutiert werden, scheinen mir unentbehrlich für den didaktischen Entwurf eines Geschichtsunterrichts, der ohne Verengung der Aufgabe historischer Ortsbestimmung der Gegenwart dienen soll:

  • Fragen aus der Gegenwart an die Geschichte: Welche fundamentalen und permanent aktuellen Probleme unserer Zeit bedürfen der historischen Aufklärung?
  • Fragen nach unserem Selbstverständnis aus der Geschichte: Welche geschichtlichen Kräfte und Entwicklungen haben uns, unsere Zeit, unsere Gesellschaft, ihre Ordnungs- und Lebensformen grundlegend geprägt?
  • Fragen nach Geschichte als Alternative: Welche Phänomene unserer Tradition sind so abgeschlossen, dass sie im Vergleich und Kontrast das Spezifische unserer Zeit klarer erkennen lassen?
  • Fragen nach der Geschichte als anthropologisch-soziales Erfahrungsfeld: Welche geschichtlichen Phänomene und Ereignisse sind besonders geeignet (und wissenschaftlich erschlossen), zu menschlicher Selbsterkenntnis und zur sozialen Erfahrung von Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Handelns beizutragen?
  • Fragen nach Geschichte als Erkenntnisproblem: Welche Gegenstände sind besonders geeignet und wissenschaftlich aufbereitet zur Vermittlung kategorialer Einsichten und methodischer Fähigkeiten im Umgang mit Geschichte sowie zur Klärung geschichtlichpolitischer Grundbegriffe?

Gewiss lässt sich mit Hilfe dieser Aspekte kein Kanon notwendiger Gegenstände begründen. Aber es lassen sich die Umrisse eines Feldes von Themen zeichnen, das im ganzen als unsere deutsche und europäische Geschichte im weltgeschichtlichen Zusammenhang zu bezeichnen wäre. Daher sollte der Geschichtsunterricht unserer öffentlichen Schulen auf jeden Fall Teilthemen aus folgenden Themenkreisen enthalten:

  • Sozialstrukturen und politische Ordnungsformen vorindustrieller Gesellschaften in einer auf die europäische Entwicklung bezogenen Auswahl (etwa: Neolithische Revolution und Hochkulturen; Griechische Polis; Römische Republik und ihre Entwicklung vom Stadtstaat zum Imperium; Reich, Kirche und Feudalordnung im Mittelalter).
  • Der Umbruch des europäischen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems und die Ausformung des Staates zu Beginn der Neuzeit (etwa: Frühkapitalismus und Frühkolonialismus; Reformation und Religionskriege; Absolutismus und europäisches Staatensystem).
  • Die geistig-politische und wirtschaftlich-soziale Grundlegung der modernen Zeit im 18. und 19. Jahrhundert (Aufklärung und westlich-liberale Demokratie; Industrielle Revolution, Soziale Frage und unterschiedliche Konzepte ihrer Bewältigung; Liberalismus und Nationalstaat in Deutschland).
  • Weltkriege und Weltkrisen im 20. Jahrhundert (Imperialismus und Erster Weltkrieg; Demokratie, Faschismus/Nationalsozialismus und Kommunismus; Zweiter Weltkrieg und Ost-West-Dualismus einschließlich Deutsche Frage; Entkolonialisierung und Entwicklungsproblematik).

Damit haben wir weder einen fertigen Themenkatalog, noch soll hier plädiert werden für den chronologischen Durchgang durch die Geschichte. Was die Struktur und die Reihenfolge einzelner Themen betrifft, so legt gerade die Vielfalt der kategorialen, der methodischen und inhaltlichen Aspekte, die in der Geschichtsdidaktik heute diskutiert werden, eine gewisse Abkehr vom nur chronologischen Durchgang nahe. Dies käme auch der Koordination des Geschichtsunterrichts mit dem Politikunterricht zugute. Der Widerstand gegen diese Konsequenz stammt aus dem Missverständnis, damit würde auf Chronologie als Ordnungsprinzip überhaupt verzichtet. Sie muss gesichert werden, aber sie darf uns nicht dazu zwingen, etwa in der siebten Klasse dem Schüler schwierige kulturhistorische Vergleiche mit fernen Zeiten zuzumuten und ihn mit seinen Fragen zu unserer un[/S.:229]mittelbaren Vergangenheit, die ihm durch Eltern und Großeltern noch begegnet, auf die Abschlussklasse zu vertrösten. Zudem bleibt der chronologisch geordnete Durchgang durch die Geschichte, auch wenn er thematisch und perspektivisch mehr oder weniger stark strukturiert ist, doch allzu leicht an der Oberfläche der Ereignisse und verstößt damit sowohl gegen die Erfordernisse struktureller Geschichtsbetrachtung als auch gegen die der Lernpsychologie (strukturiertes Lernen). Sinnvoll und fruchtbar scheinen hingegen Ansätze, in denen versucht wird, die kategorialen und methodischen Lernpotentiale der Geschichte unterschiedlich strukturierten Thementypen zuzuordnen und sie damit zu sichern (Rohlfes/Jeismann 1974 und Behrmann/Jeismann/Süssmuth 1978). Dementsprechend seien hier in Orientierung an unseren obigen Auswahlaspekten einige beispielhafte Hinweise gegeben:

  • Die historische Problemanalyse erhellt eine gegenwärtige Problemlage durch Aufarbeitung ihrer Geschichte (Deutschlandfrage; Nahost-Konflikt).
  • Der thematische Längsschnitt untersucht die Gegenwartswirkung und/oder die "lange Dauer" geschichtlicher Phänomene (geistliche und weltliche Gewalt; deutsch-polnisches Verhältnis).
  • Der epochenspezifische Querschnitt erarbeitet die Eigenart und Andersartigkeit früherer Lebensformen und sozialer Strukturen (Griechische Polis; Feudalordnung im Mittelalter).
  • Die historische Situationsanalyse macht synoptisch die Komplexität einer Konstellation deutlich und/oder rekonstruiert sie als Entscheidungssituation (Ausbruch des Ersten Weltkrieges; 20. Juli 1944).
  • Der historiographische Vergleich macht die Perspektivität und Relativität historischer Erkenntnis sichtbar (das Bild Cäsars oder Luthers oder Bismarcks im Urteil von Zeitgenossen und Nachwelt; Ergebnisse deutsch-polnischer Schulbuchkonferenzen).

Ein in dieser Weise anspruchsvoller, thematisch strukturierter Geschichtsunterricht ist auf Sekundarstufe II umso eher möglich, je gründlicher auf Sekundarstufe I gearbeitet wurde. Aber auch hier muss vor dem Irrtum gewarnt werden, der nur chronologische Durchgang durch die Geschichte sichere ausreichende Geschichtskenntnisse. Jeder Geschichtslehrer weiß, dass sehr rasch in das Vergessen zurücksinkt, was in früheren Jahren behandelt wurde, wenn es nicht entweder ständig direkt wiederholt oder durch neue Fragestellungen in immanenter Wiederholung aufgegriffen wird. Zu letzterem bietet ein thematisch stärker strukturierter Geschichtsunterricht aber auf jeden Fall die bessere Gelegenheit als der einfach chronologische Durchgang. An ihm streng festzuhalten, heißt auf jeden Fall ferner Absage an die Koordination von Geschichts- und Politikunterricht. Denn letzterer bewegt sich auch auf den Jahrgangsstufen jedenfalls in der Gegenwart, auf denen sich der Geschichtsunterricht heute leider noch allzu oft ohne jeden Gegenwartsbezug mit fernen und früheren Zeiten beschäftigt.

 

5. Integration von Zeitgeschichte und Politikunterricht

So nachdrücklich wir gerade um politischer Bildung willen für einen eigenständigen, aber mit dem Politikunterricht koordinierten Geschichtsunterricht plädiert haben; für das, was man Zeitgeschichte zu nennen pflegt, stellt sich das Problem anders. Hier scheint mir Integration nicht nur möglich, sondern geboten. In den fünfziger und sechziger Jahren hat man zwischen zeitgeschichtlichem und politischem Unterricht kaum unterschieden. Erst durch die stärkere sozial- und politikwissenschaftliche Ausrichtung des letzteren sind die Fachperspektiven auseinandergetreten und unterscheidbar geworden. Dies hat aber stellenweise auch dazu geführt, dass Politikunterricht zeitgeschichtlich leer, zeitgeschichtlicher Unterricht sozialwissenschaftlich blind geworden ist.

Was Zeitgeschichte ist, lässt sich nicht für längere Zeit in Jahreszahlen fixieren. Ihr Beginn verschiebt sich ständig, wenn auch unmerklich, und sie mündet in die offenen poli[/S.:230]tischen Probleme der Gegenwart, aus denen sie viel unmittelbarer als die Geschichtswissenschaft sonst ihre Frageimpulse und ihr Erkenntnisinteresse bezieht. Zeitgeschichte umgreift einen unmittelbar politisch wirksamen Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart (Kampmann 1968). Aber dieser Zusammenhang ist kein objektiver Bestand, der uns Zeitgenossen gegenüberstünde und mit den distanzierenden Mitteln Wissenschaftlicher Forschung allein bearbeitet werden könnte. Vielmehr ergibt sich seine Eigenart gerade daraus, dass wir in ihn hineinverwoben sind, und eben dies macht die Integration von Zeitgeschichte und Politikunterricht notwendig.

Zeitgeschichte ist die Geschichte der jeweils lebenden Menschen, für uns also die erlebte Geschichte der heute Lebenden. Für das geschichtlich-politische Bewusstsein der Lebenden wird Zeitgeschichte nicht durch Geschichtsschreibung erschlossen, mag auch die Wissenschaft mit mehr oder weniger Erfolg dies versuchen. Sie wird vielmehr von denen, die sie erlebt haben, unmittelbar mental interpretiert, erzählt oder verschwiegen, gedeutet und in politische Zusammenhänge eingebracht. Sie treibt die Menschen noch um und ist so auf viel elementarere Weise politisch wirksam als die Geschichte, die jenseits unserer Lebensspanne liegt. Wir haben es also bei Zeitgeschichte immer mit einem sehr engen Ineinander von subjektiver und objektiver Betroffenheit zu tun.

Zeitgeschichte so verstanden ist aber immer die Geschichte mindestens zweier, in der Regel dreier und mehr Generationen, die objektiv Verschiedenes erlebt haben und auch das gemeinsam Erlebte subjektiv unterschiedlich verarbeiten und deuten. In den fünfziger und sechziger Jahren war die Auseinandersetzung mit dem Scheitern der Weimarer Republik, mit dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg unsere notwendige zeitgeschichtliche Thematik. Spätestens seit dem Mentalitätsschub der "Studentenrevolte" gegen Ende der sechziger Jahre wurde dann die Nachkriegsentwicklung selbst zum zeitgeschichtlichen Gegenstand. Die Bundesrepublik Deutschland ist mehr als 30 Jahre alt, sie umfasst eine längere Zeitspanne als Weimarer Republik und Nationalsozialismus zusammen. Ihre Anfänge liegen für die heutige Schuljugend weiter zurück als für die Nachkriegsjugend der Erste Weltkrieg. Zeitgeschichte als die unterschiedlich erlebte Geschichte der heute Lebenden erfordert daher einen Kommunikationsprozess zwischen den Generationen, und eben dieser Prozess ist zentraler Bestandteil politischer Bildung. Es geht um die kommunikative und dialogische Vermittlung von Frageperspektiven und Erfahrungen zwischen den Generationen. Darin gibt es heute erhebliche Defizite.

So werden die Erfahrungen der älteren Generation, die in den Zusammenhang der Gründungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland gehören, seit langem nur mangelhaft ins Gespräch gebracht. Dies ist einer der gefährlichsten Mängel unserer politischen Bildung, weil es bedeutet, dass das Sinnkonzept unserer politischen Ordnung der nachwachsenden Generation nicht aus seinem geschichtlich-politischen Kontext begreifbar und nachvollziehbar gemacht wird. Wenn die ältere Generation ihre Position entweder nur autoritär behauptet oder nachgiebig räumt, statt sie gesprächsbereit zu vertreten und damit Erfahrungen zu vermitteln, dann gerät das Gleichgewicht zwischen Tradition und Fortschritt in Gefahr, dann gewinnen erfahrungslos zukunftsorientierte, ideologieanfällige und utopische Vorstellungen die Oberhand, und das Bestehende erscheint rasch nur noch im negativen Licht. Das Abschneiden der geschichtlichen Perspektive in der sozialwissenschaftlichen Lehrerausbildung hat bereits dazu geführt, dass heute eine ganze Generation junger Lehrer Politikunterricht erteilt ohne genügenden zeitgeschichtlichen Hintergrund und ohne den Blick für die Notwendigkeit, unsere heutigen Probleme im Zusammenhang der letzten drei Jahrzehnte zu sehen. Damit aber trägt Politikunterricht nicht mehr zum Kommunikationsprozess zwischen den Generationen im beschriebenen Sinne bei.

Ob es sich um die Deutschlandfrage handelt, um den Ost-West-Konflikt und die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus, um Friedenssicherung und Rüstungsproblematik, um Dritte Welt und Entwicklung, um die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland und die in ihrem Rahmen verlaufenden politischen Prozesse, um Wirtschaftsordnung, [/S.:231] Konjunktur- und Sozialpolitikum unsere Medienlandschaft oder um Fragen der Bildungspolitik, keine dieser Fragen kann unter der Zielsetzung politischer Urteilsbildung hinlänglich begriffen werden ohne den zeitgeschichtlichen Zusammenhang der Jahrzehnte seit dem Zweiten Weltkrieg. Damit soll nicht gesagt sein, der Nationalsozialismus mit seinen fundamentalen sozialstrukturellen, politischen und geistigen Erschütterungen sei aus unserem zeitgeschichtlich-politischen Fragehorizont schon herausgerückt. Er wird vielmehr noch für einige Zeit auch in den hier geforderten zeitgeschichtlichen Kommunikationsprozess hineingehören. Aber auch auf diesem Feld wurde in den vergangenen Jahren eine politisch rationale und moralisch verantwortbare Auseinandersetzung zwischen den Generationen nicht nur durch beiderseitige Fehlhaltungen, sondern auch durch das Auseinanderreißen der geschichtlich-historischen und der gegenwärtig-sozialwissenschaftlichen Betrachtungsweise gestört. Der Versuch politischen Urteilens ohne Kenntnis zeitgeschichtlicher Zusammenhänge führt zu bodenlosem Politisieren und zu unverantwortlichem Gerede; eine nicht auf politische Fragestellungen hin strukturierte Zeitgeschichte ertrinkt in der Fülle beliebiger Einzelheiten. Zeitgeschichte und Politikunterricht gehören zusammen. Politikunterricht ohne Zeitgeschichte bleibt leer, Zeitgeschichte ohne Politikunterricht bleibt blind.

Aus dieser unabweisbaren Einsicht die Konsequenzen für Lehrerbildung, Stundentafeln und Lehrpläne zu ziehen, ist eine dringende Notwendigkeit, wenn politische Bildung an unseren öffentlichen Schulen so etabliert werden soll, dass sie endlich ihren Namen verdient.

 

Literatur

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Rohlfes, Joachim; Jeismann, Karl-Ernst (Hg.) (1974): Geschichtsunterricht. Inhalte und Ziele. Arbeitsergebnisse zweier Kommissionen. Stuttgart: Klett (Beiheft zur Zeitschrift "Geschichte in Wissenschaft und Unterricht").

Schieder, Theodor; Gräubig, Kurt (Hg.) (1977): Theorieprobleme der Geschichtswissenschaft (Reihe "Wege der Forschung" der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft). Darmstadt: Wiss. Buchges.

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Süssmuth, Hans (Hg.) (1980): Geschichtsdidaktische Positionen. Bestandsaufnahme und Neuorientierung. Paderborn: UTB 954.

Sutor, Bernhard [4] (1979): Geschichte als politische Bildung. In: Mickel, Wolfgang W. (Hg.): Politikunterricht im Zusammenhang mit seinen Nachbarfächern. München: Ehrenwirth [5], Seite 82ff.

Sutor, Bernhard [4] (1979): Zum Verhältnis von Geschichts- und Politikunterricht. Politische Bildung im Fächerbund. In: Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament [6]". Nr. 34/35, Seite 31ff.

 
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[1] http://www.uni-potsdam.de/u/LpB/Mitarbeiter/Behrmann/behrmann.htm
[2] http://hermann-giesecke.de/index.htm
[3] http://www.klett-cotta.de
[4] http://www.ku-eichstaett.de/ECTS/faecher/politik/fachrichtungen/erziehung/sutor
[5] http://www.ehrenwirth.de
[6] http://www.das-parlament.de/