Was wir von der Geschichte, von vergangenen Ereignissen festhalten, sind immer selektive Erinnerungen. Das gilt für Individuen, die ihre Geschichte in eine Biographie (1) einbauen. Das gilt auch für Gesellschaften, die vergangene Ereignisse in ihre Historiographie einbauen. Die erinnerte Geschichte ist also immer weniger als die Abfolge von Ereignissen. Sie ist aber zugleich mehr als das: Eine Historiographie gibt – wie eine Biographie – vergangenen Ereignissen einen Sinn (2). Die in modernen Gesellschaften evolutionär sich steigende Historiographisierung vergangener Ereignisse führt somit in ein Paradox: Sie zwingt einerseits zu immer mehr Selektivität und sie erzeugt immer mehr Sinn.
Das Paradox besteht darin, dass die steigende Selektivität des historischen Bewusstseins das Sinnproblem zum Thema macht. Man kann dann diese Selektivität beklagen. Das führt zur Moralisierung des historischen Bewusstseins (3). Historisches Bewusstsein wird des Vergessens angeklagt und Erinnerungsarbeit wird eingefordert. Oder man verzichtet auf einen emphatischen Begriff von historischem Bewusstsein und akzeptiert, dass jede Selektivität irgendeinen Sinn hat. Das führt zu Zynismus (4). Das historische Bewusstsein wird Kontingent gesetzt. Je komplexer die vergangenen Ereignisse werden, um so beliebiger wird das, was wir als Erinnerung, als historisches [/S. 352:] Bewusstsein, festhalten. Steigende Selektivität in der Wahrnehmung von Geschichte provoziert also Reaktionen, die zugleich mehr Sinn erzeugen. Moralismus und Zynismus sind Umgangsformen mit Geschichte, die im Beklagen der Selektivität neuen Sinn im Umgang mit der Geschichte erzeugen.
Die heute zu beobachtende Historisierung der Vergangenheit – etwa in Broszats Vorschlag einer Historisierung der Nazizeit – verschärft das oben genannte Paradox noch (5). Die Forderung nach einem historischen Bewusstsein führt zur Thematisierung der Selektivität kollektiver Wahrnehmungs- und Erfahrungsmodi der Vergangenheit und provoziert zugleich die Suche nach Sinn in der Vergangenheit. Sie zwingt uns zu sehen, dass das, was wir wahrnehmen wollen, nicht mehr von den vergangenen Ereignissen abhängt. Es hängt davon ab, welches historische Bewusstsein wir haben wollen. Es hängt davon ab, welchen Gebrauch wir von der Geschichte machen wollen (6). Je selektiver wir mit Geschichte umgehen, um so mehr Sinn wird erzeugt. Und je mehr Sinn produziert wird, um so mehr nimmt Kommunikation über Geschichte zu. Man kann dies als einen Rationalisierungseffekt von »Modernität« sehen: Je moderner die Gesellschaft ist, um so umfassender wird historische Kommunikation – bei gleichzeitigem Rückgang unseres Wissens über Geschichte als solche! »Modernität« besteht darin, dass historisches Bewusstsein kommunikativ verflüssigt wird.
Kommunikative Verflüssigung verunsichert. Das gehört zur Grunderfahrung der Aufklärung und damit zur Grunderfahrung von Modernität. Es gibt nichts mehr, das kommunikativem Zugriff entzogen werden kann (7). Diese Verunsicherung provoziert den Rückgriff auf Selbstverständliches. Der Rückgriff auf eine Volksseele, auf eine Kulturnation und heute auf regionale Zugehörigkeit sind Gegenstrategien gegen die kommunikative Verflüssigung der Welt. Auch der Rückgriff auf ein objektiviertes historisches Bewusstsein gehört zu diesen Gegenstrategien. Die Objektivität einer Vergangenheit – ob positiv oder negativ bewertet, spielt zunächst keine Rolle – gibt Sinn im Fluss sich beschleunigender Kommunikation über Gesellschaft in der Gesellschaft. Hier hat der Begriff der kollektiven Identität seinen theoriestrategischen [/S. 353:] Platz (8). Kollektive Identität ist ein Versuch, ein Identisches im Fluss der Kommunikation festzuhalten. Gegen die kommunikative Verflüssigung der Welt wird – in der Praxis wie in der Theorie – Identität gesetzt.
Doch die kommunikative Verflüssigung historischen Bewusstseins macht auch vor kollektiver Identität nicht halt. Der Rückgriff auf ein Identisches entkommt nicht dem Phänomen kommunikativer Verflüssigung. Identitätskommunikation erschwert den unmittelbaren Rückgriff auf historische Muster kollektiver Identität. Über kollektive Identität lässt sich trefflich streiten. Wenn heute nationale Identität gegen »neue« politische Identitäten ausgespielt und zu europäischer Identität hochstilisiert wird, dann handelt es sich um das, was ich Identitätskommunikation nennen möchte (9).
Am Beispiel der Identitätskommunikation in den neuen sozialen Bewegungen möchte ich diese neue Stufe historischer Bewusstseinsbildung und kollektiver Identitätsbildung diskutieren. Die Frage nach neuen kollektiven Identitäten in den neuen [/S. 354:] sozialen Bewegungen wirft darüber hinaus die Frage auf, ob wir heute mit dem Begriff der kollektiven Identität überhaupt noch sinnvoll arbeiten können oder ob ihm notwendig jene Naturalisierung sozialer Beziehungen innewohnt, die mit kommunikativer Verflüssigung inkompatibel ist. Es scheint zumindest schwierig zu sein, ein »postkonventionelles« Konzept kollektiver Identität durchzuhalten (10). Letztlich stellt sich damit die Frage, ob ein postkonventioneller Begriff kollektiver Identität überhaupt möglich ist. Wenn man zu dieser abschätzigen Schlussfolgerung gezwungen wäre, dann läge der Verdacht immer nahe, dass kollektive Identitätssuche in einer kommunikativ durchrationalisierten Welt pathogener Natur ist (11).
Die Suche nach Identität ist zwar der Stachel, der zu permanenter Kommunikation zwingt. Doch Identität gefunden zu haben bedeutet auch das Ende von Kommunikation. Darin liegt das pathogene Potential von Identitätssuche systematisch begründet. Doch dagegen arbeitet der Prozess der Identitätskommunikation. Jede Analyse aktueller Identitätsbildung ist daher gezwungen, Identitätssuche und Identitätskommunikation scharf zu trennen. Die Annahme eines pathogenen Potentials in den aktuellen Versuchen kollektiver Identitätskonstruktion ist daran zu messen, inwieweit Identitätskonstrukte kommunikabel, das heißt strittig bleiben beziehungsweise inwieweit sie diese Kommunikation beenden können. Am Grade der Blockierung von Identitätskommunikation ist deshalb das Rationalitätspotential aktueller Formen kollektiver Identitätssuche zu messen (12).