Vor diesem Hintergrund unterscheide ich im folgenden allein für den Bereich des Unterrichts - 3. These - in scharfer Verkürzung drei gleichsam "reine Formen" des Verhältnisses von Politik- und Geschichtsunterricht. Sie sind keine willkürlichen didaktischen Setzungen, sondern erfassen didaktische Konzeptionen und Zustände im Grundsätzlichen; diese sind wiederum Ausdruck gesellschaftlicher Verfasstheit und Selbstinterpretation, die sich in der Organisation des staatlich veranstalteten Unterrichts niederschlägt. Diese historisch wechselnden Beziehungen sind im weitesten Sinne selbst ein Politikum, Gegenstand nicht nur wissenschaftstheoretischen und didaktischen, sondern vor allem politischen Streites.
Drei Grundformen des Verhältnisses beider Fächer verdeutliche ich an dem - natürlich schiefen - bildlichen Vergleich, indem ich es mir als unterschiedliches Verhältnis von Kreisen vorstelle.
Beide Fächer verhalten sich wie konzentrische Kreise. Welcher den anderen in sich enthält ist In den Konzeptionen verschiedener Zeiten unterschiedlich, im Grunde aber auch belanglos. Die jüngste Konzeption ist das in den 70er Jahren vieldiskutierte "Integrationsmodell".
Dieses Verhältnis war lange Zeit das herrschende - solange, bis sich aus der noch zaghaften Entwicklung der Staatsbürgerkunde und auf der Basis der Entwicklung der Sozialwissenschaften schließlich ein eigenes Fach herauskristallisierte, das nicht nur als "Gemeinschaftskunde" spezifische Prinzipien bündelte, sondern sich autonom verstand als politischer Unterricht, Gesellschaftslehre, Sozialkunde.
Der Geschichtsunterricht hat sich seit seiner Institutionalisierung im frühen l9. Jahrhundert immer auch als das Fach der politischen Bildung verstanden. Der Konflikt zwischen historischer und politischer Bildung wurde in den Grenzen des Faches selbst ausgetragen Ich erinnere an den Protest Oskar Jägers gegen die Versuche in der Wilhelminischen Zeit den Geschichtsunterricht politisch zu instrumentalisieren, seinen Kreis also genau in den übergeordneten Kreis politischer Bildung einzupassen: "Wenn man fragt, wie sich unser Unterricht national, nationaler, am nationalsten, deutsch, deutscher, am deutschesten gestalten lasse, so antworten wir einfach - indem man sich ... bemüht, ihn immer wahrer zu gestalten."(zit. nach Weymar 1961: 222). Jäger war kein Kritiker des nationalen Staates, war kein Gegner deutscher nationaler Bildung, aber er war ein Gegner der Subordination historischen Lernens unter politische Ziele, anders ausgedrückt, er verteidigte mit dem, was er "Wahrheit" der Historie nannte, den über die "Deutschheit" räumlich, zeitlich und sachlich hinausreichenden Bildungs- und Erkenntnisraum der Geschichte. Anders als Jäger hat der letzte bedeutende Geschichtsdidaktiker, der aus der Weimarer Zeit bis in unsere Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg hinaus gewirkt hat, Erich Weniger, den Geschichtsunterricht in didaktischer Reduktion den Zielen der politischen Bildung untergeordnet. Das Verständnis der Entwicklung des nationalen, republikanischen Staates, der ihn erhaltenden Kräfte und die Fähigkeit, in solchem Staate Verantwortung zu tragen, galt ihm als das "Herz" des Geschichtsunterrichtes, der eine spezifische Form der politischen Bildung sei. Dass Geschichtsunterricht überhaupt sei, wird aus seiner politischen, staatsbürgerlichen Funktion legitimiert (3). Auf ganz andere Weise haben die rudimentären Ansätze einer Neuordnung des Geschichtsunterrichts im Nationalsozialismus und die elaborierten geschichtsmethodischen Instrumente in den kommunistischen Staaten, besonders konsequent in der DDR, den Geschichtsunterricht als politischen Unterricht verstanden - in dem weiten Sinne freilich, dass man auch umgekehrt den politischen Unterricht - Marxismus-Leninismus oder Staatsbürgerkunde - als weltgeschichtlich historischen Unterricht hätte bezeichnen können. Das war möglich durch die Grundannahme des Histomat, die als wissenschaftliche Wahrheit verstandene Geschichtsphilosophie (4).
Die konzentrische Kreisform des Verhältnisses beider Fächer deutet auf ein politisches und historisches Bewusstsein hin, das sich des Sinnes und Zieles der Universalgeschichte oder begrenzterer Sinngebungen, etwa der nationalen Geschichte, gewiss ist und diese Gewissheiten nicht befragen lässt, sondern als historisch evident setzt. Formal macht es dabei keinen Unterschied, ob die politische Bildung, welche den Geschichtsunterricht in ihren Dienst nimmt, auf den dynastisch-monarchischen Staat, die nationale Republik, die "Volksgemeinschaft", die klassenlose Gesellschaft hinzielt: Immer ist es das Ziel politischer wie historischer Bildung, den Heranwachsenden zu befähigen, in &Uml;berzeugung und Handlungsbereitschaft sich in den Dienst dieser historisch-politisch als fraglos richtig verstandenen Zielvorgabe zu stellen.
An dieser Stelle des Gedankens wird man sich die schwierige Frage vorlegen müssen, ob ein solches Verhältnis der Fächer mit seinen Auswirkungen auf die Wahl des Gegenstands, auf Deutung und Werturteil zu verurteilen oder zu rechtfertigen ist, je nachdem, ob die Überzeugung vom Geschichtsverlauf und von der zu erhaltenden oder zu erreichenden politisch-gesellschaftlichen Ordnung richtig oder falsch, besser: erwünscht oder unerwünscht ist. Wir kämen bei einer solchen Behauptung in eine heikle Situation, sobald unser als richtig verstandenes Ziel politischer Bildung möglicherweise durch den Verlauf der Geschichte selbst Korrekturen erfährt. In der deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts ist dies bislang dreimal der Fall gewesen, aber in der Diskussion des Verhältnisses von Geschichts- und Politikunterricht spielt die Figur der konzentrischen Kreise bis in unsere Tage weiterhin eine bedeutende Rolle, indem die Sinn- und Zielrichtungen der Geschichte zugleich mit den Normen richtiger politischer Ordnung neu definiert werden.
So hat Hermann Giesecke in einer lesenswerten Fortführung und Erweiterung der Konzeption von Erich Weniger den Geschichtsunterricht politisch begründet, indem er den noch formalen, republikanischen Staatsbegriff Wenigers erweiterte zum Begriff einer demokratisch verfassten Gesellschaft - nicht etwa wie sie existiert sondern wie sie werden soll (Giesecke 1978). Die Geschichte wird für die Geburt der besseren, der wahrhaft demokratischen Welt zu Hilfe gerufen als Nachweis dafür, dass nichts so bleibt, wie es ist, dass die Welt veränderbar ist, die Zukunft die bessere Alternative zur Vergangenheit sein müsse. Dahinter steht ein Totalentwurf der menschlichen Gesellschaft, wie sie sein soll; daher ist nach Giesecke ohne den Bezug auf die "Kritische Theorie" eine Begründung und Legitimierung des Geschichtsunterrichtes nicht möglich. Bei Annette Kuhn erscheint dann die Geschichte in gleicher Tendenz als eine Kette von Defiziten, aus der die Versuche erinnerungswürdig sind, sie zu überwinden (Kuhn 1974: 15f.) - das ist eine alte Denkfigur, viel klarer als bei den Modernen, aber auch viel vorsichtiger schon dargestellt in Kants Skizze zur Idee einer Universalgeschichte in weltbürgerlicher Absicht (Kant 1968).
Diese Rechtfertigungen historischen Lernens aus emanzipatorisch politischer Zielsetzung sind nur dem Vorzeichen, nicht der Struktur nach unterschieden von jenen, welche die Geschichte als Tradition beschwören, nicht zur Emanzipation, sondern zur Identitätsbildung aufrufen, entweder, um die gegenwärtigen Zustände als gewordene zu rechtfertigen, oder aber, um sie angesichts besserer Vergangenheit zu kritisieren und zur Rückkehr aufzufordern. Ein Musterbeispiel für die "emanzipatorische" Konstruktion des Verhältnisses der beiden Fächer des konzentrischen Kreises waren die Hessischen Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre (1972). Der letzte gegenläufige, affirmativ-konservative Versuch, politische Bildung durch Geschichte unmittelbar zu legitimieren und Geschichte als Beweis des Existenzrechts gegenwärtiger Ordnung zu nehmen, waren die kräftigen - keineswegs aber durchschlagenden - Initiativen einer monarchisch-nationalistischen historisch-politischen Didaktik (5).
Diese Konzepte, mehr oder weniger stringent, mehr oder weniger dogmatisch angelegt, wurzeln in einer Geschichtsgewissheit - begründet in Tradition oder durch Utopie - und im Glauben an die Normativität einer Gesellschaftsvorstellung. Indem sie das historische Lernen darauf ausrichten und in Selektion der Thematik wie der Wertungen allein in diese Perspektive einstellen, verzichten sie darauf, das kritische Potential an der eigenen Interpretation zu mobilisieren, welches die Geschichte bereithält, und fixieren den Schüler auf eine bestimmte historische Lehre. Das ist im Sinne der Traditionalisten politisch verständlich, ganz unverständlich aber in der Denkweise derer, die Emanzipation als Sinn der Geschichte propagieren, jedoch die historischen Formen von Emanzipation selbst der Kritik entziehen. Das zeigt sich z.B. in den didaktischen Entwürfen dieser Art am undifferenzierten, unreflektierten Gebrauch des Begriffs der "Demokratie". Er erscheint als nicht mehr hinterfragbarer Legitimationsbegriff und wird abstrakt (6). Die Vergangenheit wird mediatisiert angesichts des Zukunftsentwurfs. Die ambivalente Geschichte dessen, was alles mit dem Demokratiebegriff sich rechtfertigte, verschwindet. Im Extremfall führt das zum Wirklichkeitsverlust und damit nicht nur zur Verkürzung der historischen, sondern auch zur Untauglichkeit der politischen Bildung. So läuft die Betrachtung des konzentrischen Verhältnisses beider Fächer auf die Frage zu, wie es zu verhindern ist, dass historisches Lernen zur bloßen Bestätigung politischer Doktrin und damit zur Verfälschung von Geschichte missrät - und umgekehrt.
Während man über die in konzentrischen Kreisen zu veranschaulichende Struktur an vielen Beispielen noch lange diskutieren könnte, ist die nächste Figur relativ kurz abzutun: Die nebeneinander stehenden, voneinander isolierten Kreise. Das wäre eine politische Bildung, die den Bezug zur Geschichte, zur Veränderbarkeit der Welt verloren hat und nur noch auf das Funktionieren in gegebenen Systemen abzielt. Eine Art kybernetische Didaktik, die Denken, Urteilen und Verhalten nach der systemimmanenten Rationalität einübt. Herwig Blankertz (1974: 51ff.) hat das beschrieben, und ich gehe hier nicht weiter auf solche Entwürfe ein. Die Entsprechung beim historischen Lernen wäre die Präsentation einer Geschichte, die mit der Gegenwart nichts zu tun haben will, Gegenwartsbezüge als Verformung der historischen Wahrheit ablehnt in der Ansicht, nur auf solche Weise Parteilichkeit und Verzerrung der Geschichte vermeiden zu können. Es gibt solchen gegenwartsabstinenten Positivismus nach großen historischen Enttäuschungen oder Zusammenbrüchen als eine Art Flucht in die Geschichte; aber im Grunde erliegt eine solche Konzeption der bekannten Selbsttäuschung, die ihre geheimen steuernden und sehr gegenwärtigen Antriebe nicht erkennt oder nicht wahrhaben will.
Theoretisch ist über diese Modell nicht viel zu diskutieren. Aber praktisch kann es sich sehr wohl einstellen, wenn sich die Vertreter des Politikunterrichts und des Geschichtsunterrichts, genervt durch jahrelange Auseinandersetzungen oder durch Lehrplan- und Stundentafeln getrennt, auf ihre Bastionen zurückziehen, wenn im Schulalltag kein fachliches Gespräch zwischen beiden zustande kommt, wenn die Lehrpläne nur ein isoliertes Nebeneinander vorsehen und wenn nicht die Lehrer selbst je für sich diese Schwächen durch einen Geschichts- oder Politikunterricht vermeiden, der die Gegenwartsdimension der Geschichte und den Prozesscharakter des Politischen berücksichtigt.
Durchdenkt man dieses Modell nicht bis in seine Konsequenzen, sondern sieht es pragmatisch, kann natürlich eine Menge an für die politische Bildung wichtigem Wissen und auch an nützlichen Verhaltensformen für die Gegenwart herauskommen, kann das Bildungspotential der Geschichte jenseits von politischer Bildung entfaltet werden, kann anschauende Kontemplation, Empathie, kann Staunen geweckt werden. Die Frage ist jedoch, ob dies dem Auftrag der öffentlichen Erziehung entspricht und ob es den Bildungsbedürfnissen der Jugendlichen angemessen ist, wenn der Politikunterricht absieht vom vergangenen Prozess und also auch von der kommenden Geschichte, von der Zukunft, der Geschichtsunterricht aber Menschen in einem Alter, das nach Selbstfindung, nach Deutung der gegenwärtigen Welt strebt, in ein Panoptikum führt, das der alte Mensch vielleicht einordnen kann in Lebenserfahrung und Bildungswissen, um, wie der späte Burckhardt, "weise für immer" zu sein, das dem jungen Menschen aber als belanglos, ohne Beziehung zu seiner eigenen Welt erscheinen wird.
Das dritte Modell lässt sich durch die Figur der sich überschneidenden Kreise veranschaulichen. Geschichtsunterricht und Politikunterricht sind in ihren Lernzielen und in ihren Bildungsperspektiven nicht identisch, aber aufeinander verwiesen. Sie haben ein Gebiet gemeinsamer Gegenstände, Methoden und Ziele sowie gemeinsamer Rückgriffe auf die Bezugswissenschaften. Diesen &Uml;berschneidungsbereich als das eigentliche Feld ihrer Zusammenarbeit gilt es zu bestimmen und von dem jeweils eigenen, geschichts- oder politikspezifischen Feld zu unterscheiden.
Obgleich immer wieder von den Prinzipien politischer Bildung im Geschichtsunterricht hier, von der historischen Perspektive im Politikunterricht dort gehandelt wurde, fehlt es an einer generellen Bestimmung des &Uml;berschneidungsbereiches beider noch weithin. Mit dem Hinweis auf den gemeinsamen Stoff, den die Zeitgeschichte liefert, ist zwar Richtiges, aber durchaus Vorläufiges über die Schwierigkeiten beider Fächer gesagt. Eine Annäherung an die Bestimmung der Gemeinsamkeiten lässt sich vielleicht am besten durch den Versuch erreichen, das Unterschiedliche zu benennen.
Historisches und politisches Lernen zielen gleichermaßen auf den Erwerb von Kompetenzen, sich in Gegenwart und Zukunft unserer Welt zuverlässig zu orientieren und verantwortlich zu verhalten. Aber in verschiedener Weise. Wie in den Bezugswissenschaften des politischen Unterrichts das Erkenntnisinteresse auf die gegenwärtige Gesellschaft zielt, sie zu erklären und ihren praktischen Handlungsbedarf zu ermitteln sucht, so geht es der poetischen Bildung um Erkenntnis der Grundstrukturen dieser Gegenwart und die Vermittlung der Fähigkeit, sich in ihnen angemessen zu orientieren und zu verhalten. Dem widerspricht nicht, dazu gehört vielmehr, dass Erkenntnis der Gegenwart angewiesen ist auf das Wissen und die Erfahrung des Gewordenseins und der Veränderlichkeit der gegenwärtigen Gesellschaft. Mit dieser historischen Perspektive wird nicht die Geschichte selbst zum Ziel der Erkenntnis. Greifen die Sozialwissenschaften in die Vergangenheit zurück, tun sie es, um entweder die Genese der Gegenwart oder, durch historischen Vergleich, ihre Strukturen deutlicher zu erfassen; so auch die politische Bildung, welche bestimmte, dazu dienliche geschichtliche Zustände oder Prozesse in Kontrast oder Ähnlichkeit oder in Betrachtung von Ursache und Wirkung, also als Vorgeschichte der Gegenwart zu deren Erklärung heranzieht. Historisches hat in dieser Perspektive keinen Eigenwert, sondern bleibt notwendig (und bisweilen problematisch) in einer Hilfsfunktion. &Uml;ber diese historischen Verständnishilfen hinaus gibt es für die politische Bildung angesichts der komplizierten gesellschaftlichen Verhältnisse einen so ausgeweiteten Kenntnis- und Einsichtbedarf, den der Geschichtsunterricht bei noch so intensivem Gegenwartsbezug nicht befriedigen könnte, dass schon allein deshalb der politischen Bildung ein breiter Raum eigener Kenntnis- und Einsichtsvermittlung verbleibt (7).
Noch wichtiger für die Begründung der Selbständigkeit politischen Unterrichts: Seine Bildungsziele umfassen den kognitiven Bereich, greifen aber darüber hinaus in den affektiven und instrumentalen Lernzielraum: politische Bildung erfährt ihre Vollendung nicht in der Kenntnis und Einsicht, sondern im politischen und sozialen Verhalten, das aus Einsicht und Engagement zugleich erwächst. Insofern ist der politische Unterricht handlungsorientiert. Hier entsteht nun sein ureigenstes Problem: In einer Gesellschaft hochgradiger Komplexität, in der nur noch Experten einen kleinen Bereich politischen, sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen Lebens zu durchschauen und zu beurteilen vermögen, gilt dennoch das Postulat universaler Partizipation, der Anspruch eines jeden - und an einen jeden -, mindestens über alles Grundsätzliche mitzubestimmen und auf den verschiedensten Wegen an Entscheidungsfindungen teilnehmen zu können, deren Auswirkungen er - häufig nicht einmal auf seine eigenen Interessen bezogen - kaum kalkulieren kann. In dieser Situation die Balance zwischen Kompetenz und Teilhabe zu gewinnen, ist die wichtigste und schwierigste Aufgabe politischer Bildung - der Geschichtsunterricht wird hier bestenfalls mittelbar helfen können.
Politischer Unterricht überschneidet sich - wie gesagt - mit dem Lernzielraum des Geschichtsunterrichts im genetischen oder vergleichenden Rückgriff auf die Geschichte. Der Geschichtsunterricht aber kann sich nicht im Aufweiß von Genese oder Analogie erschöpfen - kann nicht die "Gegenwart" allein zum Maß für die Wahrnehmung der Vergangenheit machen. Er richtet die Aufmerksamkeit darüber hinaus auf die Eigenart der Vergangenheit selbst, die durch ihre gegenwartsbestimmenden Erscheinungen nicht ausdefiniert ist, sondern immer einen &Uml;berschuss an Andersartigem, Fremdem enthält. Er kann uns als abgetan vorkommen und wird von den Fragerichtungen und Erkenntniszielen, auch von den Verhaltensnormen, die der Politikunterricht anstrebt, nicht erfasst, gehört aber zu den wesentlichen Elementen historischer Bildung. Geschichte ist nicht Echo der Gegenwart, sondern Frage, Kommentar, Widerspruch. Als Analogon und durch die Erhellung der Genese der Gegenwart leistet historische Bildung einen Beitrag zur politischen Bildung des Bürgers; als Bemühung um Erkenntnis der Fremdheit, der Andersartigkeit, der besonderen Existenz von Mensch und Gesellschaft, die ganz unabhängig von ihrer Gegenwartsbedeutung von Belang ist, bestimmt er seinen eigenen Lernzielbereich für eine Bildung des Menschen. Auf diesem "immediaten" Zugang zur Vergangenheit muss der Geschichtsunterricht schon deshalb bestehen, weil man nie weiß, welche Vergangenheit für Gegenwart und Zukunft relevant werden wird - das führt uns heute die geschehende Geschichte in Ost- und Südosteuropa vor Augen.
Stärker als durch verborgene Kontinuitäten lässt sich die Eigenbedeutung der Vergangenheit durch unmittelbare humane Relevanz begründen: Gerade Anschauung und Verständnis der zeitlich, politisch, kulturell fremden, unvertrauten, ganz eigenartigen Lebens- und Denkweisen kann Solidarität mit der "Menschheit", ihren Leistungen und ihrem Leiden anbahnen, auch wenn uns beides nicht direkt und real betrifft. Der Geschichtsunterricht bietet damit ein Gegengewicht zum Gegenwartsbezug und zum Selbstbezug - beide haben ja neben ihren pädagogischen Vorzügen auch die Nachteile der Befangenheit. Deshalb wird der Geschichtsunterricht, so wenig er vor der genetischen Erklärung der Gegenwart oder dem Vergleich von Gegenwart und Vergangenheit zurückscheut, immer wieder auch Distanz zur Gegenwart schaffen müssen.
Mit dieser erkenntniserweiternden Distanz bringt er in die politische Bildung einen Reflexionswiderstand ein, der zur Vorsicht und Abwägung bei Urteilen mahnt und den schnellen direkten Handlungsimpuls bremst, den Drang zum Aktionismus zügelt. Dass politisch in der Gegenwart ohne letzte Sicherheit gehandelt werden muss, bleibt davon unberührt - aber es sollte im Wissen um diese letzte Unsicherheit gehandelt werden. Der "Machthaber" muss sich nicht auch als "Rechthaber", gar als alleiniger, fühlen dürfen, und die Bürger sollten aus historischer Kenntnis und Bildung so auftretenden Politikern nicht als den charismatischen Führern folgen, sondern sie mit Skepsis beurteilen können - auch das ist eine handlungsorientierte Zielvorstellung, in der sich Lernziele des Geschichtsunterrichts gerade wegen ihrer Distanz vom unmittelbaren Gegenwartsbezug wieder mit denen des politischen Unterrichts treffen.
Positiv kann man diese Reflexionshürde, die historische Bildung vor politisches Handeln setzt, als "Besonnenheit" bezeichnen. Kern dieser Besonnenheit ist das durch Vergegenwärtigung geschichtlicher Abläufe, Ursachen und Wirkungen gewonnene Wissen um die Ambivalenz und die Kontingenz politischer Programme und Maßnahmen, Planungen und Wirkungen, um die Bedeutung der ungewollten Nebenfolgen und letztlich um die Ungewissheit und also um die ständige Korrekturbedürftigkeit politischen Verhaltens und Handelns.Das ist kein Plädoyer für einen historisch legitimierten Quietismus. Historisches Lernen steht politischem Wollen und Handeln nicht im Wege. Die kognitiven und zugleich "empathischen", den Horizont des Verständnisses über die offensichtlichen Gegenwartsbelange hinaus weitenden Lernziele des Geschichtsunterrichts fügen der Handlungsorientiertheit, die aus politischem Willen, aus Interesse und Vision, aus Einsicht und Moral sich speist, den Verweis auf sekundäre Erfahrung hinzu. Sie kann zugleich Vorsicht und Entschiedenheit bewirken, vor allem aber &Uml;berhebung und falsche Selbstgewissheit verhindern.
Wie die schwierigste Aufgabe des politischen Unterrichts darin besteht, die Spannung zwischen allgemeinem Partizipationsanspruch und hochkomplexer Realität durch politische Bildung verantwortbar zu vermitteln, so die des Geschichtsunterrichts, die Unendlichkeit und Vielfalt historischer Anschauung zu historischer Bildung zusammenzufügen. Beliebigkeit des historischen Wissens, Blindheit des historischen Gefühls, des "Geschichtsbegehrens", ebenso zu vermeiden wie anmaßende Geschichtsgewissheit. Der Versuch, das Lernzielspektrum dieses Faches durch den Leitbegriff des "Geschichtsbewusstseins" zu bündeln und durch die Ausfächerung der dadurch bezeichneten Leistungen zu konkretisieren, steht im Dienst dieses Bemühens, das sich schon lohnt, wenn es nur annäherungsweise sein Ziel erreicht (8).
Dieser Ansatz braucht hier nicht entfaltet zu werden; er gehört zu den ausführlich diskutierten Themen der Geschichtsdidaktik. Im Hinblick auf die indirekte Bedeutung für die politische Bildung soll nur auf den Gegenwartsverständnis und Vergangenheitsdeutung verbindenden Bereich der historischen Wertungen verwiesen werden, die in der Regel in unmittelbarem Zusammenhang mit politischen Positionen der Gegenwart stehen. Alle Legitimierungen politischen Handelns oder politischer Zustände durch historische Bezüge lehrt ein so verstandener Geschichtsunterricht durch die Kritik des historischen Sachurteils und der Zeitanalyse zu schicken, auf ihre Stichhaltigkeit zu befragen, zu differenzieren und damit zuverlässiger zu machen oder als Agitationsfigur abzutun. Dass mit solcher Leistung kontroverse politische Positionen der Verhärtung entzogen und in ein diskursives Verhältnis zueinander gesetzt werden können, ließe sich am Beispiel der internationalen Schulbuchforschung nachdrücklich zeigen.
Der Gedankengang hat uns über den Versuch, den je eigenen Bereich des politischen und historischen Unterrichts zu umreißen, unversehens zu der Einsicht geführt, dass gerade bei Anerkennung der Eigenständigkeit des historischen Bildungsinteresses - neben den direkten Zusammenhängen beider Fächer, also dem Schnittmengenbereich - ein mittelbarer, indirekter Einfluss historischer auf politische Bildung sich ergibt - und zwar gerade dadurch, dass man die eine nicht von der anderen ableitet und beide in konzentrischen Kreisen integriert. Das lässt sich in Umkehrung der Betrachtung auch auf die indirekte Bedeutung eines seine eigenen Ziele entwickelnden politischen Unterrichts für die historische Bildung zeigen. Zur Erklärung und zum Verständnis historischer Zustände, Prozesse, Verhaltensweisen sind die Instrumente der politischen Wissenschaft und der Sozialwissenschaft für den Historiker unerlässlich und anwendbar auch auf vergangene gesellschaftliche, politische und kulturelle Formationen geworden. Der Beitrag der Sozialwissenschaften für die Geschichte als Wissenschaft, aber auch für die Geschichte als Unterricht braucht heute nicht mehr dargetan zu werden; dies ist eine unmittelbare Ergänzung und Hilfestellung, die der politische Unterricht dem Geschichtsunterricht geben kann und sollte. Indem er aber die Gegenwart selbst für Erkenntnis und Verhalten zum Bezugspunkt seiner Ziele macht, stellt er die der Geschichtsbetrachtung immer innewohnende Perspektive der Gegenwartserklärung und der Gegenwartsbezogenheit auch unmittelbar unter einen reflektierten Erkenntniszwang angesichts der nicht mehr unverstanden hingenommenen Gegenwart. Den einer bloß historisch ansetzenden Erklärung der Gegenwart innewohnenden Gefahren der vorschnellen Identifikation und Traditionsbildung, sei es konservativer, sei es progressiver Art, setzt der politische Unterricht durch Erhellung der Komplexität der Gegenwart ein kritisches Fragezeichen an die Seite, indem er seinen eigenen Lernzielen folgt. Wird also der Geschichtsunterricht z.B. jener Legitimierung der Gegenwart aus einem zu pauschalen Begriff der "Demokratie", wie ich ihn eben zitierte, mittels der historischen Erfahrung von der Widersprüchlichkeit dieser Erscheinung dem politischen Urteil Distanz und Besonnenheit geben, so wird der Politikunterricht durch Vergegenwärtigung der komplexen Strukturen unseres demokratischen Systems einer vorschnellen Traditionsbildung und damit falschen Identitätsstiftung, welche etwa von der athenischen Demokratie über die Kommunen des Mittelalters, die ständischen Freiheiten der Magna Charta bis zur Oligarchie des englischen Parlamentarismus im 19. Jahrhundert eine scheinbar historisch schlüssige teleologische Linie zu ziehen geneigt ist, widersprechen müssen und die Eigenart der Gegenwart gegenüber einem falsch verstandenen historischen Traditionsanspruch zu behaupten haben (9).
Ich belasse es bei diesen Andeutungen. Es genügt, wenn daraus die Notwendigkeit hervorgeht, dieses Modell der sich überschneidenden Kreise genauer und am konkreten Fall zu durchdenken und für die Unterrichtsplanung in Richtlinien und Materialien fruchtbar zu machen. Dass dies nur in Zusammenarbeit von Vertretern beider Fächer geschehen kann, liegt auf der Hand.