Die Verhältnisse von Geschichte zur politischen Bildung und von politischer Bildung zur Geschichte stellten sich in den letzten 40 Jahren stets als widersprüchlich dar. Der Grund liegt darin, dass eine Gemeinsamkeit postuliert wurde, obwohl Diskrepanzen deutlicher zutage traten. Erst auf der Grundlage der Unterschiedlichkeiten lassen sich Gemeinsamkeiten erkennen. Das Verhältnis von Geschichte und politischer Bildung stellt sich auf der Ebene der Disziplinen, der Unterrichtsfächer, der Methoden und der Gegenstände dar.
a) Bereits auf der Ebene der Bezugsdisziplinen sind Asymmetrien unverkennbar. Während Geschichtsunterricht in der Geschichtswissenschaft eine eindeutige Bezugsdisziplin besitzt, greift das Fach Sozialkunde/Politik auf Politologie, Soziologie und Volkswirtschaftslehre zurück. Politologie hat sich aber in den letzten Jahren in dieser Trias zur Leitdisziplin entwickelt. Während historisches Lernen sich stärker auf die Bezugsdisziplin Geschichtswissenschaft bezieht, geht politisches Lernen mehr von der erfahrenen politischen Lebenswelt aus. Das eine Fach ist mehr disziplinär, das andere mehr erfahrungsorientiert.
b) Hemmend für eine Zusammenarbeit wirkte sich auch die Ansicht aus, Geschichte und Politologie unterschieden sich durch unterschiedliche Ausschnitte von Wirklichkeit. Die geschichtstheoretische wie die methodologische Diskussion der Politologie haben diese Ansicht aber als unzutreffend erwiesen. Weder kann man der einen Disziplin die Vergangenheit, noch der anderen die Gegenwart zuordnen. Auch die angenommene Zuständigkeit der Geschichtswissenschaft für "die Geschichte" und die der Politikwissenschaft für die "gegenwärtige Lebenswelt" ist unzutreffend. Gegenwart ist ebenso eine Kategorie der Geschichte, wie sich Politik auch der Vergangenheit zuwenden kann.
c) Ebenfalls unzutreffend ist die Annahme von disziplinunabhängigen Gegenständen, auf die sich dann die einzelnen Disziplinen richten müssten. Es gibt keine vorwissenschaftlichen "Gegenstände an sich", die dann nur durch die unterschiedlichen Disziplinen [/S. 320:] erklärt werden müssten. Es ist wissenschaftstheoretisch nicht haltbar, dass eine pädagogische Vereinbarung, sich mit den gleichen Gegenständen zu beschäftigen, schon Integration und politische Bildung ermögliche. Demgegenüber ist festzustellen, dass Gegenstände sich erst durch die verschiedenen disziplinären Sichtweisen konstituieren. "Krieg" ist kein disziplinunabhängiger Gegenstand, sondern je nach disziplinärer Sicht erhalten wir verschiedene Gegenstände, auch wenn die einzelnen Disziplinen den gleichen umgangsprachlichen Namen dafür verwenden.
d) Als Wissenschaftsdisziplinen bzw. Unterrichtsfächer sind "Fächer" spezifische Sichtweisen auf Wirklichkeit, die sich zum Zweck wissenschaftsförmiger Rationalität an Methoden gebunden haben. Wenn Geschichts- und Politikwissenschaft Beiträge zur Orientierung in der Gegenwart leisten sollen, ist es notwendig, dass sie ihre eigenen Fragestellungen und ihre eigenen methodischen Zugriffe nicht aufgeben. Es kommt darauf an, dass in der politischen Bildung gelernt wird, sich der einzelnen Sichtweisen auf Welt zu bedienen.
Politische Bildung ist nicht identisch mit den Erkenntnissen von Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft, Soziologie etc. Zum Zwecke von Bildung müssen die Ergebnisse einer didaktischen Reflexion unterzogen werden. Das geschieht auf drei Ebenen.
(1) Für Politische Bildung sind zunächst und im engeren Sinne Geschichts- und Politikunterricht (bzw. Sozialkunde) zuständig. Sie liefern grundlegende Sach- und Zeitorientierung.
(2) Vom Anspruch her ist politische Bildung aber Unterrichtsprinzip und deshalb sind prinzipiell alle Fächer daran beteiligt. Politische Bildung als Unterrichtsprinzip ist die "permanente, in der didaktischen Konzeption jedes Faches wie bei der didaktischen Planung der einzelnen Unterrichtsthemen mit zu reflektierende Aufgabe aller Fächer" (Sander 1989, 163). In dieser Reflexion wird die politische Dimension des jeweiligen Faches herausgearbeitet, d. h. es wird bestimmt, welchen Beitrag das jeweilige Fach einschließlich seiner Fragestellungen, Methoden und Ergebnisse zur Regelung der herrschaftsgeordneten Angelegenheit menschlicher Gemeinschaften leistet. Der Beitrag der politischen Dimension erschließt sich in drei Hinsichten. (a) Die Reflexion der politischen Dimension liefert eine vertiefte Kenntnis des jeweiligen Fachgegenstandes. So liegt beispielsweise die politische Dimension der französischen Menschenrechtserklärung im Problem der Universalisierbarkeit; der Nationsbildungsprozess des 19. Jahrhunderts steht in Verbindung mit der Reaktivierung von Ethnizität bei gleichzeitig zunehmender weltweiter Migration etc. Angesichts der wieder zunehmenden Personalisierung im Geschichtsunterricht ist erneut daran zu erinnern, dass in dem Verfahren der Personalisierung die Gefahr der politischen Apathie steckt. (b) Politische Bildung als Prinzip erschließt Aspekte des Politischen, die nur von den jeweiligen Fachdisziplinen erhoben werden können. Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht können besser als andere Disziplinen die Wirkung langandauernder Mentalitäten explizit machen. Alltagsgeschichte verdeutlicht Wahrnehmungsmuster alltäglichen Handelns, die politisches Handeln beeinflussen, ohne dass sie erkannt und diskutiert werden. (c) Politische [/S. 321:]Bildung als Prinzip orientiert die fachspezifischen Inhalte auf die Grundprobleme ("Schlüsselprobleme") der gegenwärtigen Situation, so dass diese Probleme von unterschiedlichen Disziplinen bearbeitet werden können.
(3) Politische Bildung ist aber nicht nur schulische Aufgabe. Als politisch gewollter Auftrag ist sie in den Bundes- und Landeszentralen für politische Bildung institutionalisiert. "Die Bundeszentrale hat die Aufgabe, durch Maßnahmen der politischen Bildung im deutschen Volk das Verständnis für politische Sachverhalte zu fördern, das demokratische Bewußtsein zu festigen und die Bereitschaft zur politischen Mitarbeit zu stärken" (§ 2 des Erlasses vom 8. Dezember 1987 über die Bundeszentrale für Politische Bildung).
Eine Aufgabe, die in verschiedene Disziplinen fällt, an verschiedenen Themen bearbeitet wird, von Lehrern mit unterschiedlichem Fachhabitus durchgeführt wird, erzeugt unweigerlich das Bemühen, die Aktivitäten zu bündeln und divergierende Tendenzen zu vermeiden. Die bisher vorgelegten Versuche, die an der politischen Bildung im engeren Sinne beteiligten Fächer (Geschichtsunterricht, politische Bildung, Geographie) zu einem Fach zu verschmelzen (Hessische Rahmenrichtlinien 1972) oder durch Bildung verschiedener Unterrichtstypen zu einer Kooperation zu kommen (Behrmann u. a. 1978), dürften in der Praxis als gescheitert gelten. Weder Gesellschaftslehre als Fach noch ein sogenannter kooperativer Unterricht hat es bisher vermocht, thematische Integration und unterrichtliche Kooperation herzustellen. Aber auch Gesellschaftslehre als Lernbereich steht vor den gleichen Problemen, die die einzelnen Fächer haben, wenn sie keinem schulischen Lernbereich zugeordnet sind. In den letzten Jahren wird wieder der fachübergreifende Unterricht diskutiert, dessen Probleme allerdings über die politische Bildung hinausreichen. Überzeugende Ansätze liegen nicht vor.
Politische Bildung hat den Zweck, Schülern wie Erwachsenen eine Orientierung in der Gegenwart und für die absehbare Zukunft zu geben. Geschichte liefert Orientierung in der Zeit und vermag keine Orientierung für unmittelbares Handeln zu geben. Politik dagegen liefert Orientierung für politisches Handeln, vermag aber keine Orientierung in der Zeit zu liefern. Das Aufzeigen von Handlungsalternativen und Entscheidungen in den je aktuellen Umständen leistet Politik.
Aus der Geschichte lassen sich keine unmittelbaren Handlungsorientierungen für die Gegenwart gewinnen, wie es die konservative Sicht will; es lässt sich aber auch nicht unmittelbar handeln, ohne die geschichtlichen Bedingungen des Handelns zur Kenntnis zu nehmen, wie es voluntaristische und technokratische Positionen wollen.
Das Ziel von politischer Bildung wird meist mit "historisch-politischem Bewusstsein" angegeben. Dieser Bindestrichbegriff verdeckt die unterschiedlichen, aber aufeinander bezogenen Operationen des historischen Bewusstseins und des politischen. Diese beiden grundsätzlich unterscheidbaren Bewusstseinsstrategien richten sich auf unterschiedliche Bereiche. Politisches Bewusstsein ist auf Handeln bezogen und richtet sich vorwiegend auf die Dimension von Macht und Herrschaft, die das Verhältnis von Menschen zuein[/S. 322:]ander strukturiert. Unter dem Gesichtspunkt von Macht und Herrschaft sind die Beziehungen der Menschen untereinander asymmetrisch und bedürfen deshalb der Legitimation. Politisches Bewusstsein zielt auf die Praxis bestimmter Handlungsanweisungen und weiß um Bedingungen und Möglichkeiten politischer Handlungsstrategien in herrschaftsstrukturierten Gesellschaften.
Ein solches direkt auf Handeln orientiertes Bewußtsein ist nicht Gegenstand des historischen Bewußtseins. Historischem Bewußtsein geht es um die Kontingenzerfahrungen der Lebenspraxis und versucht, sie zu bewältigen. Es deutet die kontingenten Ereignisse, indem sie sie zu einem sinnvollen Zeitzusammenhang, zu einer Geschichte verbindet. Erst in einer Geschichte machen verschiedene Ereignisse Sinn. Durch Geschichte können die Menschen ihre Lebensverhältnisse "so ansehen ..., als hätten sie sie gewollt" (Rüsen 1989). Sie geben dem Ereignis denkend einen Sinn. Historisches Bewusstsein gibt deshalb dem politischen Handeln die notwendige Orientierung, die für ein Handeln im Zeitverlauf unerlässlich ist.
Historisches Bewusstsein zielt auf Handlungsorientierung in der Zeit, politisches Bewusstsein auf Bedingungen und Möglichkeiten des Handelns selbst. Auf diese Weise sind beide Bewusstseinsstrategien aufeinander verwiesen. Dass beide Aspekte des historisch-politischen Bewusstseins aufeinander bezogen werden können, dafür sind bestimmte Voraussetzungen unerlässlich. Geschichte muss sich zur Politik so verhalten, dass sie deren Orientierungsprobleme wirklich aufgreift und nicht auf die ästhetischen und exotischen Elemente ausweicht und diese gegen die politische Orientierungsfunktion ausspielt. Politisches Bewusstsein darf dagegen die Reflexion praktischen Handelns auf gegenwartsgebundene Mittel nicht verkürzen, denen Vergangenheitsanalyse und Zukunftsdeutung zur politischen Rhetorik verkommt, ohne Orientierungsfragen "über den Tag hinaus" ernst zunehmen.
Um politische Bildung zu bewirken und nicht nur politisches Wissen zu vermitteln, muss das historisch-politische Wissen durch ein didaktisches Bezugsraster auf Bildung hin strukturiert werden. Es bietet sich ein zweistufiges Verfahren aus historisch-politischen Schlüsselproblemen und politischen Qualifikationen an.
1) Mit den Schlüsselproblemen liegt ein sinnvoller Ansatz vor, gegenwärtige Probleme zum Ausgangspunkt zu machen. Schlüsselprobleme sind gegenwärtige historisch-politische Probleme von struktureller Aktualität. Es sind diejenigen Probleme einer jeden Gegenwart, die für das humane Leben einer Gesellschaft lebens- und überlebenswichtig sind. Diese Probleme sind über die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Parteiungen hinweg als Probleme konsensfähig, obwohl ihre Lösungsvorschläge und -strategien kontrovers sind: Menschenrechte, Umwelt, Meinungsfreiheit in der Mediengesellschaft etc. Schlüsselprobleme helfen, die einzelnen Unterrichtsfächer auf Gegenwartsprobleme hin zu orientieren. Bei der Sozialkunde ist das sowieso der Fall, wie die Konzepte des Fallprinzips und der Konfliktorientierung deutlich machen. Aber auch die wenig offene Werteerziehung macht es, da sie nicht unbefragte, sondern die in der Gegenwart erodierenden Werte ins Zentrum stellt. Die Geschichtsdidaktik hat seit den siebziger Jahren, veranlasst durch die sozialgeschichtliche Wende der Geschichtswissenschaft, den Schritt zum Gegenwartsbezug als Ausgangspunkt für historische Auswahl [/S. 323:]getan. Diese Probleme werden unter den verschiedenen Sichtweisen der Disziplinen zu unterschiedlichen Gegenstandskonstitutionen führen. Schlüsselprobleme leiten in Gegenwarts- und Problemorientierung der politischen Bildungsprozesse. Konkrete Probleme der Schüler wie aktuelle gesellschaftliche Probleme sind Ausgangspunkt für Curriculumkonstruktionen und Unterrichtsplanung.
2) Als Prozesse politischer Bildung müssen Lernprozesse die Schüler und Schülerinnen einbeziehen und die Schlüsselprobleme unter dem Blickwinkel der Lernenden und deren Lebenswelt sehen. Am konsequentesten leistet dies das Konzept der Qualifikationen, das das Land Nordrhein-Westfalen in seinen Richtlinien verfolgt. Qualifikationen verbinden den Inhalts- und Verhaltensaspekt. Der Inhaltsaspekt "Friedensordnungen" wird mit einem Verhaltensaspekt "Fähigkeit und Bereitschaft ... für eine gerechte Friedensordnung ... einzutreten, auch wenn dadurch Belastungen für die eigene Gesellschaft entstehen" (Qualifikation 10 der "Richtlinien für den Politikunterricht" in NRW). Solche Verhaltensaspekte wie Ideologiekritik, Konfliktfähigkeit, altruistische Parteinahme, aktive Friedensfähigkeit etc. machen erst die Dimensionen politischer Bildung deutlich. Die Verhaltensweisen beanspruchen, keine Verhaltensvorschriften, sondern Verhaltensdispositionen zu sein. Das soll durch den Qualifikationsaspekt "Fähigkeit und Bereitschaft" ausgedrückt werden. Allerdings sind bei der Formulierung "Bereitschaft" Zweifel an deren Offenheit anzumelden. Auch wenn Bereitschaft in vielen Qualifikationen durchaus sinnvoll erscheint, sind doch Bedenken angebracht, ob eine offene demokratische Gesellschaft über "Möglichkeit" hinaus zu "Bereitschaft" gehen darf, um damit ein bestimmtes Verhalten festzulegen.
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Mayer, Ulrich; Schröder, J.: Die hessischen Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre - Didaktische Perspektiven und Ergebnisse der Weiterentwicklung 1972-1980. In: Quandt, Siegfried (Hg.): Geschichtsdidaktik und Lehrerfortbildung. Willich o. J.
Mickel, Wolfgang (Hg.) (1979): Politikunterricht im Zusammenhang mit seinen Unterrichtsfächern. München: Ehrenwirth [2].
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Schörken, Rolf (Hg.) (1978): Zur Zusammenarbeit von Geschichts- und Politikunterricht. Stuttgart: Klett [5].
Stein, Edith (1982): Gesellschaftslehre als fächerübergreifender Unterricht. Frankfurt a/M.: Suhrkamp [6].
Links
[1] http://www.leske-budrich.de/
[2] http://www.ehrenwirth.de
[3] http://www.kulturwissenschaftliches-institut.de/bio/joern_ruesen.htm
[4] http://www.uni-giessen.de/fb03/didaktik/Personen/Wolfgang/WOLFGAN.HTM
[5] http://www.klett-cotta.de
[6] http://www.suhrkamp.de