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Startseite > Historische und politische Bildung > Beiträge 1990-2004 > Hedtke, Reinhold (2003): Historisch-politische Bildung – ein Exempel für das überholte Selbstverständnis der Fachdidaktiken > 2. Disziplinbezüge und Erkenntnisweisen als Problem

2. Disziplinbezüge und Erkenntnisweisen als Problem

Fachdidaktiken und fachlich definierte Bildungen müssen sich zu möglichen wissenschaftlichen Bezugsdisziplinen, Erkenntnisweisen und Paradigmen in ein Verhältnis setzen. Sie müssen entscheiden, worauf sie sich beziehen wollen und worauf nicht. Als vorrangig wird traditionell der Disziplinbezug betrachtet. Von der Bezugsdisziplin erwarten viele Fachdidaktiken die entscheidende Stütze ihrer Identität. Zumindest in den Sozial- und Kulturwissenschaften wird diese Stütze aber immer brüchiger.

 

2.1 Bezugsdisziplinen

Bei den jeweils vorherrschenden Bezügen auf fachwissenschaftliche Disziplinen haben historische und politische Bildung zu Beginn des 21. Jahr- [/S. 115:] hunderts wenig Gemeinsamkeiten. Die Fachdidaktik der historischen Bildung bezieht sich eher eindeutig und dominant auf Geschichtswissenschaft, die Fachdidaktik der politischen Bildung eher mehrdeutig und in wechselnden Gewichtungen auf Politikwissenschaft, Soziologie und Ökonomik; auch Zeitgeschichte spielt eine gewisse Rolle. Diese Differenz bezeichnet Pandel als Asymmetrie auf der Ebene der Bezugsdisziplinen (1997, 319 [1]). Seine Diagnose einer Asymmetrie gilt allerdings nur noch bedingt, da sich in der Politikdidaktik die Anhänger eines monodisziplinären Bezugs auf die Politikwissenschaft eher aus fachpolitischen denn aus fachdidaktischen Gründen immer mehr durchsetzen. Nichtsdestotrotz: Geschichtsdidaktik und Politikdidaktik beziehen sich auf unterschiedliche Disziplinen.

Verlässt man die globale Ebene dieser Großdisziplinen und betrachtet ihre Binnendifferenzierung, relativiert sich die bezugsdisziplinäre Differenz, und die traditionelle disziplinäre Trennschärfe verblasst. Einerseits differenzieren sich die traditionellen Disziplinen immer stärker aus und werden zu Großdisziplinen, deren Leitdifferenz in eine Mehrzahl unterschiedlicher Teildifferenzen zerfällt.

Andererseits arbeiten viele der Disziplinen, die zu einer der Großdisziplinen Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft oder Soziologie, aber auch Ökonomik, gehören, immer häufiger mit überdisziplinär geteilten Paradigmen. Es bilden sich disziplinübergreifende Paradigmen mit gemeinsamen Theoriekonzepten und Methodologien heraus. Beispiele sind der Rational-Choice-Ansatz in Soziologie, Ökonomik und Politikwissenschaft oder der Neue Institutionalismus in Ökonomik, Politikwissenschaft und Wirtschaftsgeschichte (vgl. Hedtke 2002).

Aus diesen Gründen wird es immer schwieriger, im Bezug auf eine Großdisziplin ein unterscheidungskräftiges und kommunikationsfähiges Proprium für Geschichtsdidaktik und für Politikdidaktik zu finden.

 

2.2 Erkenntnisweisen

Erkenntnisweisen könnten eine verlässlichere Orientierung als Großdisziplinen bieten. Die paradigmatisch unscharfe Gestalt der Disziplinen könnte durch deren unterschiedliche Erkenntnisweisen oder Methodologien schärfer konturiert werden. Man kann versuchen, über die Erkenntnisweisen eine je spezifische disziplinäre Identität zu begründen. Dazu benötigt man als Grundlage eine Typologie von Erkenntnisweisen. Für die Kulturwissenschaften hat Hans-Jürgen Pandel jüngst eine Typologie vorgeschlagen [2] (Pandel 2001): historisch-hermeneutische, kritisch-dialektische, empirisch-analytische, quantitativ-statistische, narrativ-faktuale und empathisch-fiktionale Erkenntnisweise.

Aber auch hier stößt man bald wieder auf das Problem der Trennschärfe: Man kann diese Erkenntnisweisen - und auch sämtliche Erkenntnisweisen, die man durch andere Typologien erhalten würde - nicht disziplinär trennscharf einzelnen Fachwissenschaften zuordnen. Eine bestimmte Erkenntnisweise kann zum Fundament mehrerer Disziplinen gehören, eine Disziplin kann sich auf mehrere Erkenntnisweisen gründen. [/S. 116:] Nehmen wir die quantitativ-statistische Verfahrensweise als Beispiel. Wir finden sie als prominentes methodologisches Muster in Disziplinen aus unterschiedlichen Großdisziplinen: in der Wirtschaftsgeschichte, in der Wirtschaftssoziologie, in der Wahlforschung, in der Wirtschaftsstatistik und in der empirischen Makroökonomik. Wenn nicht Gegenstände, sondern Erkenntnis- und Frageweisen Disziplinen konstituieren, stehen sich die genannten Disziplinen wechselseitig wesentlich näher als den Großdisziplinen, denen sie jeweils zugerechnet werden.

Ein zweites Beispiel ist die historisch-hermeneutische Verfahrensweise. Auch sie wird multidisziplinär verwendet. Prominente Exempel dafür sind die historisch-kulturvergleichende Kapitalismusanalyse von Max Weber, die Sinndeutung des Demokratiebegriffs durch Wilhelm Hennis (Hennis 1973), phänomenologische Analysen von Lebenswelten in der Schütz'schen Tradition oder wissenssoziologische Untersuchungen nach dem Berger-Luckmann-Ansatz (Berger/Luckmann 1969).

Die Einsicht in die Unschärfe der Relation Großdisziplin - Erkenntnisweise bedeutet nun keineswegs, dass man auf eine möglichst scharfe Unterscheidung der wissenschaftlichen Erkenntnisweisen verzichten könnte oder sollte. Ganz im Gegenteil [2], die Erkenntnisweisen repräsentieren spezifische Sichtweisen auf die Welt, und zusammen mit den angewendeten Methoden konstruieren sie erst die unterschiedlichen Welten und ihre Gegenstände (Pandel 2001).

Deshalb könnten die Erkenntnisweisen nur um den Preis eines radikalen Erkenntnisverlustes aufgegeben werden (Pandel 1997 u. 2001). Insbesondere aus fachdidaktischer Sicht halte ich es für kontraproduktiv, Erkenntnisweisen unkontrolliert zu mischen und tendenziell zu homogenisieren. Ganzheitlichkeit ist ein fachdidaktischer Irrweg.

 

2.3 Neuordnung der Disziplinen?

Es bleibt festzuhalten, dass man die traditionelle Ordnung der Disziplinen nicht mehr überzeugend mit deren spezifischen Erkenntnisweisen begründen kann. Wenn Erkenntnisweisen konstitutive Faktoren von Disziplinen (und von Erkenntnisobjekten) sind, viele Disziplinen aber mit mehreren Erkenntnisweisen arbeiten und viele Erkenntnisweisen zu mehreren Disziplinen gehören, dann müsste man die Disziplinenordnung reorganisieren - wenn man Wert auf eine klare Systematik legen würde.

Wissenschaftsgeschichtliche und wissenschaftssoziologische Grundeinsichten warnen aber vor diesem Unterfangen. Zwar sind fachwissenschaftliche und fachdidaktische Strukturen historisch kontingent, aber daraus Hoffnungen abzuleiten, man könne sie ändern und neu schneiden, ist recht kühn. Bereits die öffentliche Absichtserklärung, diese Strukturen auch nur kommunikativ verflüssigen zu wollen, bedeutet eine Herausforderung. Dennoch: Die Debatte muss geführt werden - auch und gerade in den sozial- und kulturwissenschaftlichen Fachdidaktiken.

Denn in der zunehmenden Lockerung der festen Kopplungen zwischen Erkenntnisweisen und Disziplinen liegen Chancen für die Fachdidaktiken. Sie können und müssen nun nach fachdidaktischen Kriterien entscheiden, welche Erkenntnisweisen für ihre Leitziele, Leitthemen und Leitkategorien [/S. 117:] - und für ihre fachpolitische Profilierung - besonders geeignet sind und welche nicht. Wie weit sie dabei gehen können, ist noch unklar. Kann man etwa eine Großdisziplin "historisch-sozialwissenschaftliche Didaktik" denken, deren unterschiedliche Disziplinen sich nach Erkenntnisweisen konstituieren? Könnte sich beispielsweise eine dieser Disziplinen durch die Kombination von historisch-hermeneutischer (intentionale Erklärung) und narrativ-faktualer (narrativistische Erklärung) Erkenntnisweise konstituieren? Diese Fragen müssen hier noch offen bleiben.

Die Fachdidaktiken müssen natürlich auch entscheiden, wie sie die ausgewählten Erkenntnisweisen curricular anordnen, thematisieren, methodisch realisieren und zueinander in Beziehung setzen wollen. Im Feld historisch-politischen Lernens kann ein sinnvolles Arrangement der einschlägigen Erkenntnisweisen nur erreicht werden, wenn die beteiligten Fachdidaktiken miteinander kommunizieren und kooperieren. Das gilt nicht nur für schulische, sondern auch für universitäre Bildung.

 

2.4 Fachinterne Divergenz und Integration

Die Großdisziplinen entpuppen sich also bei näherer Betrachtung als multimethodologisch und die Erkenntnisweisen als multidisziplinär. Innerhalb der Großdisziplinen bilden sich eigenständige Disziplinen heraus, charakteristisch ist fachinterne Divergenz. Die Vorstellung eines methodologisch mehr oder weniger geschlossenen Faches, auf das sich Fachdidaktik beziehen zu können meint, entpuppt sich immer mehr als fachpolitische Strategie und fachdidaktische Fiktion - und es kann sein, dass das fachdidaktische Bild von der Bezugsdisziplin in den Sozial- und Kulturwissenschaften nie etwas anderes als Fiktion gewesen ist.

Geschichtsdidaktik hat es schon längst mit Geschichtswissenschaften statt mit Geschichtswissenschaft zu tun, und Politikdidaktik sieht sich mit einer Mehrzahl von Politikwissenschaften konfrontiert - von der Soziologie ganz zu schweigen. Pandel konstatiert [2], "[d]ie quantitativ arbeitende Wirtschaftsgeschichte hat methodisch mehr Gemeinsamkeiten mit der Ökonomie als mit der weitgehend hermeneutischen Mediävistik" (Pandel 2001). Damit stellt sich die fachdidaktische Aufgabe einer Integration unterschiedlicher Fächer und Erkenntnisweisen schon innerhalb der jeweils ausgewählten einzelnen Bezugsdisziplin. Es ist eine verbreitete Illusion zu glauben, dass die Spannweite und Diversität dessen, was didaktisch innerhalb einer Großdisziplin zu integrieren wäre, wesentlich geringer sei als zwischen zwei Großdisziplinen wie Geschichtswissenschaft und Politikwissenschaft.

 

2.5 Fachinterne Divergenz und Integration

Wir haben es also im kultur- und sozialwissenschaftlichen Feld mit einem ausgeprägten Pluralismus der Erkenntnisweisen, Disziplinen und Paradigmen zu tun, der vielgestaltige Kombinationen hervorbringt und erlaubt. Diese Situation gibt den Fachdidaktiken der historischen und der politischen Bildung einen relativ hohen Freiheitsgrad bei ihren konstitutiven Entscheidungen: der Wahl von Erkenntnisweisen und Bezugsdisziplinen. [/S. 118:]

So gesehen wird die historisch gewachsene und fachpolitisch gesteuerte Zuordnung und Ausdifferenzierung von Großdisziplinen und Disziplinen für Fachdidaktiken zu einem, aus theoretischer Sicht zweitrangigen Aspekt ihres Selbstverständnisses. Das gilt besonders für Fachdidaktiken, die sich an Leitkategorien wie Geschichtsbewusstsein orientieren oder die sich an Politikbewusstsein oder Wirtschaftsbewusstsein orientieren könnten. Sie machen es sich zur Aufgabe, diese gesellschaftlich konstruierten, kollektiv geteilten und unterschiedlichen "Bewusstseine" zur Sprache zu bringen, erlebbar zu machen, zu beschreiben, zu irritieren, aufzuklären, weiterzuentwickeln und zu reflektieren. Als Wissenschaften vom fachspezifischen Lernen könnten sie ihr Interesse auf die nachwachsende Generation konzentrieren. Wie sich Fachdidaktiken auf Disziplinen und Erkenntnisweisen beziehen, sollten sie danach entscheiden, welche Erkenntnisweisen und welche Disziplinen leistungsfähige Beiträge zur Bearbeitung der fachdidaktischen Leitfragen und zur Aufklärung ihres Forschungsgegenstandes liefern können. So würde sich etwa eine Politikdidaktik, die sich durch die Leitkategorie Politikbewusstsein definiert, wesentlich stärker als bisher auf Kommunikationssoziologie, Medienforschung, Wissenssoziologie, Sozialpsychologie, Sozialisationsforschung und Demoskopie beziehen müssen - und auf Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik!

 
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Quell-URL (modified on 14/01/2013 - 15:15): https://www.sowi-online.de/node/825

Links
[1] https://www.sowi-online.de/pandel_geschichte.htm%23pandel_geschichte_nr1
[2] http://www.sowi-onlinejournal.de/2001-1/pandel.htm