Mechtild Oechsle / Karin Wetterau (Hrsg.): Politische Bildung und Geschlechterverhältnis. Opladen 2000 (Verlag Leske + Budrich)
Das Buch ist eine "feministische Antwort" auf das - als Provokation empfundene - normativ gemeinte Diktum: "Politische Bildung ist geschlechtsneutral". Dabei spricht ja doch einiges für dieses Postulat. Eine Orientierung der politischen Bildung an "wesenseigenen" Bedürfnissen und Interessen eines Geschlechts würde eine "naturhafte" (ontologische) Vorstellung von "Geschlechterdifferenz" voraussetzen, die inzwischen niemand mehr vertritt - schon gar nicht die VerfasserInnen dieses Bandes. Eine an fachwissenschaftlichen Kategorien wie Macht, Herrschaft, Interesse, Solidarität, Demokratie, Freiheit und Gleichheit ansetzende politische Bildung muß nicht per se "geschlechtsblind" sein, wenn sie nur hinreichend - d.h. im Hinblick auf reale Diskriminierung samt ihren Bedingungszusammenhängen - problembewußt ist. Der durchaus noch vorhandene "Geschlechterbias" (Auswahl der Inhalte entspricht eher dem Politikverständnis von Jungen, dem Politikverständnis von Mädchen und ihren Interaktionsformen wird nicht die gleiche Aufmerksamkeit geschenkt) läßt sich auf der Grundlage einer universalistisch konzipierten politischen Bildung sowohl konzeptionell wie unterrichtspraktisch überwinden: Warum auch sollten Mädchen nicht lernen, was Jungen können (sollen)? Eine geschlechterbezogene Normierung könnte sogar eine sozial konstruierte Geschlechterdifferenz verfestigen, die gerade Gegenstand der Kritik ist.
Dennoch ist Anlaß zu kritischem Nachfragen gegeben. Die Zuweisung von ungleichen Chancen auf soziale und politische Teilhabe erfolgt immer noch in gesellschaftlichen Verhältnissen, die in erheblichem Maße durch Geschlechtszugehörigkeit strukturiert werden - und das hat, wie gezeigt wird, immer noch zu wenig bedachte Konsequenzen: Geschlechtsneutral konzipierte Bildungsangebote werden von Jungen und Mädchen nicht in gleicher Weise, sondern geschlechtsspezifisch unterschiedlich wahrgenommen und verarbeitet. Die qua "Geschlecht" vermittelte Selbstwahrnehmung und Identitätsbildung schafft subjektiv und objektiv unterschiedliche Betroffenheit. Eine geschlechtsneutral entfaltete Handlungskompetenz ist nicht unbedingt "verwendungsneutral" in geschlechtlich konnotierten und strukturierten politischen Handlungsfeldern. Analog zum "interkulturellen Verstehen" ist es offenbar notwendig, auch "geschlechtergerechtes Verstehen" zu lernen.
Diese mit zahlreichen Fakten belegten Befunde haben die Herausgeberinnen zu diesem Sammelband inspiriert, der aus einer Ringvorlesung an der Universität Bielefeld und dem dortigen Zentrum für Lehrerbildung hervorgegangen ist. Ihr Anliegen, die bislang vorliegenden geschlechtskritischen Ansätze in der politischen Bildung zu bündeln, weiterzuentwickeln und in den fachdidaktischen Diskurs zu integrieren, wurde auf drei Ebenen realisiert: In einer Zwischenbilanz zur Rezeption der Geschlechterforschung in der Fachdidaktik wird untersucht, welche Relevanz die Kategorien "Geschlecht" und "Geschlechterverhältnis" für die Theorie und Praxis der politischen Bildung haben (Wetterau/Oechsle). Viele Fragen, die sich aus der Defizitanalyse ergeben, werden in einem zweiten Teil aus soziologischer und politikwissenschaftlicher Sicht thematisiert. Umbrüche in den Geschlechterbeziehungen (Angelika Dietzinger), tieferliegende Ursachen der gegen Aufklärungsversuche oft resistenten Vorbehalte gegen die Thematisierung diskriminierender Geschlechterdifferenzen (Michael Meuser), die marginale Rolle von Frauen in der Politik (Beate Hoecker), didaktische Konsequenzen von Paradigmenwechseln in der Geschlechterforschung (Birgit Sauer) und das Geschlechterverhältnis im Spannungsfeld von politischer Regulierung und privater Lebensführung (Sabine Berghahn) werden ebenso untersucht wie - in einem dritten Teil - die daraus ableitbaren didaktischen und z.T. curricularen Konsequenzen (D. Richter, P. Henkenborg, H. Hoppe, B. v. Borries, M. Hempel und S. Arndt). Alles in allem ein Buch, das didaktisch aufschlußreich und weiterführend ist.
Karl A. Otto