Henkenborg: Zur Philosophie des Politikunterrichts: Zum Kern politischer Bildung in der Schule

Peter Henkenborg

1. Die Philosophie des Politikunterrichts: Fragen und Thesen

In seiner Untersuchung zur Psychologie professionellen Wissens entwickelt Rainer Bromme eine Topologie professionellen Lehrerwissens. Zu dessen Bausteinen zählt er u.a. eine Wissensform, die er "Philosophie des Schulfaches" nennt. Damit meint Bromme, dass Lehrer Auffassungen darüber haben müssen, "wofür der Fachinhalt nützlich ist" und was seinen Kern ausmacht (Bromme 1992: 98ff.). Im alltäglichen Politikunterricht scheint eine "Philosophie des Politikunterrichts" zu fehlen oder zumindest unklar zu sein. Fachdidaktische Untersuchungen zum Politikunterricht lassen sich nämlich so zuspitzen: Politische Bildung scheitert nicht selten an einem unpolitischen Politikunterricht, in dem oft unklar, beliebig und zufällig ist, was Politik eigentlich ist und welches Kerncurriculum das Fach auszeichnet (Henkenborg/Kuhn 1997).

Was also ist der spezifische Beitrag der politischen Bildung zur schulischen Bildung? Ich möchte meine Antwort in zwei Thesen entwickeln. Die erste These: Auf der Zielebene liegt die Aufgabe politischer Bildung als eigenes Unterrichtsfach, aber auch als Schulprinzip und Unterrichtsprinzip darin, bei Kindern und Jugendlichen Demokratie-Lernen durch die Entwicklung der Schlüsselqualifikation politische Mündigkeit zu fördern. Die zweite These: Auf der Gegenstandsebene besteht der spezifische Beitrag der politischen Bildung zur schulischen Bildung in einer als Deutungslernen arrangierten und durch Lernwege strukturierten, schüleraktiven Auseinandersetzung mit den Schlüsselproblemen der Gegenwart und absehbaren Zukunft aus der Perspektive der Sozialwissenschaften, die im Unterricht durch kategoriale Grundfragen hergestellt wird.

2. Aufgabe und Leitziel politischer Bildung: Demokratie-Lernen durch Schlüsselqualifikationen

Politische Bildung findet ihre Gründungsidee in einer Aufgabe, die für eine demokratische Gesellschaft grundlegend und unverzichtbar ist: Im Politikunterricht sollen Kinder und Jugendliche Demokratie-Lernen. Politische Bildung soll eine Schule der Demokratie sein und als Schulprinzip, als Unterrichtsprinzip sowie als eigenständiges Schulfach zur Einbürgerung der Demokratie beitragen [vgl. dazu den Beitrag von Karl-Heinz Breier in dieser Ausgabe; d. Red.]. Kinder und Jugendliche sollen durch politische Bildung Bürgerqualifikationen, Selbstvertrauen und ein breites Spektrum an Interessen ausbilden und dadurch lernen, sich selbst als Subjekte der Demokratie zu begreifen. Politische Bildung verwandelt das Kernproblem der Politik - die Sicherung des Miteinanderauskommens - so in eine pädagogische Grundfrage: Wie können Menschen in der Gesellschaft lernen ihr Zusammenleben zu gestalten? Die Frage ist also: Welche Schlüsselqualifikationen sollen Kinder und Jugendliche im Politikunterricht erwerben, damit sie ihr Zusammenleben friedlich gestalten können und sich tatsächlich als Subjekte der Demokratie begreifen können?

In der Pädagogik und auch in der politischen Bildung gib es, darin besteht der zweite Baustein, eine Tradition, die Ziele von Erziehung und Bildung in einem kritisch-gesellschaftlichen Sinn als Schlüsselqualifikationen zu beschrieben (Der Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen 1987; Weinbrenner u.a. 1991, Negt 1999 und von Hentig 1999). Im Sinne solcher Ansätze kann man sagen: Demokratie-Lernen soll die Schlüsselqualifikationen vermitteln, die als bürgerschaftliche Kompetenzen vor allem jene qualifikatorischen Voraussetzungen umfassen, die für die Übernahme einer Bürgerrolle in der Demokratie notwendig sind.

Diese Idee des Demokratie-Lernens durch Schlüsselqualifikationen kann auf der Zielebene politischer Bildung in einer Lernzielmatrix (vgl. Tab. 1) dargestellt werden. Deren Grundgedanke lässt sich so zusammenfassen: Politische Mündigkeit (a) als eine kognitive, pragmatische und affektiv-habituelle Struktur (b) besteht aus acht aufeinander verweisende Schlüsselqualifikationen (c).

Tab. 1: Demokratie-Lernen und Schlüsselqualifikationen: Lernzielmatrix für die politische Bildung

Politische Mündigkeit
henk-pf-ou henk-pf-ou henk-pf-ou henk-pf-ou
Schlüsselqualifikationen
henk-pf-r
Kognitive
Dimension
henk-pf-u
Pragmatische
Dimension
henk-pf-u
Affektiv-habituelle
Dimension
henk-pf-u
Identitätskompetenz
Kompetenz der Selbst- und Fremdwahrnehmung
Ich - Wir - Ihr
 
 
Politikkompetenz
Fähigkeit und Bereitschaft zur politischen Teilhabe und Gestaltung
reflektiertes Beobachten - Intervention - Partizipation
 
 
Toleranzkompetenz
Fähigkeit, mit pluralen und kontroversen Weltverständnissen umzugehen
Konsens - Differenz - Kompromiss
 
 
Gerechtigkeitskompetenz
Wahrnehmungsfähigkeit für Recht und Unrecht, für Gleichheit und Ungleichheit
richtig /gerecht - falsch/ungerecht
 
 
Ökonomische Kompetenz
Fähigkeit, in Knappheitssituationen wirtschaftlich zu handeln
Kosten-Nutzen-Optimierung
 
 
Historische Kompetenz
Erinnerungs- und Utopiefähigkeit
Früher - Heute - Morgen
 
 
Ökologische Kompetenz
Pfleglicher Umgang mit Natur
bewahren /unterlassen- verändern/tun
 
 
Technologische Kompetenz
Gesellschaftliche Wirkungen begreifen und Unterscheidungsvermögen entwickeln
Gestaltbarkeit - Verträglichkeit
1. Anbahnung:
Wissen (Fakten, Regeln, Begriffe, Definitionen)
2. Entfaltung:
Erkenntnisse gewinnen (z.B. Bezug auf eigene Situation; Regelmäßigkeiten; Entwicklungszusammenhänge)
3. Gestaltung:
interrationale Urteilsfähigkeit
zweckrationale Urteile (Effizienz)
moralische Urteile (Legitimität)
präferenzielle Urteile (Wohlergehen)
1. Kommunikatives Lernen
a) Anbahnung: Meinungen äußern
b) Entfaltung: Gespräche führen (z.B. zuhören, fragen, argumentieren)
c) Gestaltung: Dialoge/ Diskussionen (z. B. diskutieren, kooperieren, integrieren)
2. Methodisches Lernen
a) Anbahnung: Fähigkeiten wie z. B. hören, lesen, beschreiben, sammeln, nachschlagen, informieren, erläutern, ordnen
b) Entfaltung: Fertigkeiten wie z.B. gegenüberstellen, anordnen, vergleichen, unterscheiden, strukturieren, Folgen entwickeln, abstrahieren, zusammenfassen, Analogien bilden
c) Gewohnheiten: Lernen des Lernens; Methodenkompetenz
1. Anmutung: Interesse
Äußerungen anderer deuten, eigene Anmutungen bewusst machen und in Fragestellungen umsetzen
2. Entfaltung: Bewerten
Beweggründe für die fremden Handlungen finden und sich mit ihnen auseinander setzen
3. Gestaltung:
a) Persönliche Überzeugungen und Identifikationen
b) Politische Tugenden
demokratische Sittlichkeit, z.B. Toleranz, Solidarität, Zivilcourage, Gerechtigkeit, Phronesis, Bereitschaft zu rationaler Kommunikation

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a) Die Grundlagenkompetenz, die politische Bildung vermitteln soll, kann man in der Tradition fachdidaktischen Denkens politische Mündigkeit nennen. Politische Mündigkeit meint die gleichzeitige Befähigung zu Autonomie und Verantwortung. Der Begriff "Mündigkeit" beschreibt das Persönlichkeitsideal einer demokratischen Gesellschaft. Das bedeutet, dass der Mensch sein Leben aktiv, frei und aus Einsicht gestaltet, dass er autonom am politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben teilnimmt und dass er seine Pflichten, aber auch seine Rechte kennt und wahrzunehmen in der Lage ist. Insofern bedeutet Mündigkeit im Umkehrschluss zum Kantschen Begriff der Unmündigkeit, dass sich der Mensch seines Verstandes ohne Leitung eines anderen bedienen kann, d.h. selbstbestimmt und verantwortungsfähig Entscheidungen trifft, denkt und handelt. Das bedeutet auch, dass der mündige Mensch die Strukturen seiner Lebensbedingungen kritisch reflektiert und durchschaut. Insofern ist der Begriff der Mündigkeit nicht nur auf die Förderung des Individuums konzentriert, sondern ist zugleich auf eine Veränderung der Gesamtgesellschaft ausgerichtet, da alle gesellschaftlichen Verhältnisse, die dem Mündigwerden der Individuen entgegenstehen, zu kritisieren sind.

Im Anschluss an die Sozialphilosophie von Rawls hat Brumlik drei anspruchsvolle Konkretisierungen für eine Idee von Mündigkeit vorgeschlagen. Mündige Personen zeichnen sich dadurch aus, "dass sie oder er wissen und fühlen: worum es ihnen bei der Verwirklichung ihres Lebens geht; wie das Prädikat ´gerecht´ auf Institutionen, Rechtssysteme oder ganze Gesellschaften jeweils sinnvoll anzuwenden ist; und wie im Lichte solcher Gerechtigkeitsgrundsätze auch noch die eigenen Konzeptionen eines guten Lebens verändert werden können" (Brumlik 1997, 18).

b) Dieser allgemeine Begriff politischer Mündigkeit lässt sich in einem zweiten Schritt im Anschluss an klassische Lernzieltaxonomien in eine kognitive, pragmatische und affektiv-habituelle Struktur politischer Mündigkeit ausdifferenzieren. Jede dieser Strukturen kann dann in die Stufe der Anbahnung, der Entfaltung und der Gewohnheit unterteilt werden. Die kognitive Struktur politischer Mündigkeit umfasst Wissen, Erkenntnisse und kognitive Urteile. Die pragmatische Struktur politischer Mündigkeit umfasst die Ebenen des kommunikativen und methodischen Lernens. Die affektiv-habituelle Struktur umfasst die Dimension der Betroffenheit, Gefühle, Gesinnungen, Wertvorstellungen, der politischen Tugenden und der Handlungsbereitschaft.

c) In einem dritten Schritt lässt sich die Grundlagenkompetenz politische Mündigkeit schließlich in acht Schlüsselqualifikationen ausdifferenzieren. Die Funktion dieser Schlüsselqualifikationen liegt auf der normativen Ebene politischer Bildung darin, dass sie im Sinne politischer Mündigkeit als Kriterien für eine kritische Auseinandersetzung mit Politik und Gesellschaft und den eigenen Präferenzen dienen können. Auf der unterrichtspraktischen Ebene liegt ihre Funktion darin, Lehrerinnen und Lehrern die Formulierung von Lernzielen zu ermöglichen. In diesem Verständnis der Ziele politischer Bildung ist ökonomische Kompetenz sicher eine wichtige Kompetenz, die aber in den komplexen Zusammenhang politischer Mündigkeit eingeordnet und mit den anderen Schlüsselqualifikationen vermittelt werden muss. Dadurch lässt es sich dann vermeiden, Schlüsselqualifikationen generell und ökonomische Kompetenz im besonderen auf bloße Anpassungsqualifikationen an ökonomische Bedingungen zu reduzieren.

3. Der inhaltliche Kern politischer Bildung: Kategoriale Auseinandersetzung mit Schlüsselproblemen der Gegenwart und Zukunft aus der Perspektive der Sozialwissenschaften

3.1 Politische Bildung als kategoriale Bildung

Theorie und Praxis politischer Bildung sind in den letzten Jahren stark durch die Idee der Schlüsselprobleme bestimmt worden, wie sie in der Politikdidaktik insbesondere von Wolfgang Hilligen und Wolfgang Sander und in der bildungstheoretischen Didaktik durch Wolfgang Klafki entwickelt wurden: Die Schlüsselprobleme der Gegenwart und absehbaren Zukunft sollen das inhaltliche Zentrum des Politikunterrichts sein. Wolfgang Sander hat diesen Ansatz mit einem einfachen Satz beschrieben: ,,Die Aufgabe der politischen Bildung ist die systematische unterrichtliche Auseinandersetzung mit politischen Grundproblemen der Gegenwart und der absehbaren Zukunft aus sozialwissenschaftlicher Perspektive" (Sander 1989: 159). Solche Schlüsselprobleme sind dann z.B. Demokratie, soziale Gerechtigkeit, Frieden, Umwelt, neue Technologien, Internationalisierung, Ich-Du-Beziehungen.

Dennoch enthält Sanders Beschreibung der Aufgaben politischer Bildung eine Unklarheit: Was ist die Perspektive der Sozialwissenschaften in der politischen Bildung? In der Antwort auf diese Frage liegt eine Schlüsselstelle, um den inhaltlichen Kern politischer Bildung zu bestimmen. Meine Antwort schließt an die Tradition kategorialer Bildung an: In politikdidaktischen Theorien kategorialer Bildung etwa bei Giesecke, Sutor, Breit oder Massing wird die Perspektive der Sozialwissenschaften, bzw. der Politikwissenschaft, durch kategoriale Grundfragen hergestellt (Henkenborg 1997).

Fachdidaktische Kategorien stellen nach Sutor eine Sammlung von "Grund- oder Standardfragen" dar, die wir heute "gemäß unserem geschichtlich entwickelten Politikverständnis an Politik stellen müssen" um das Verallgemeinerbare und Exemplarische von Politik aufzuschließen (Sutor 1984 II, 70). Sie bilden für ihn im Anschluss an Klafkis Unterscheidung von drei Schichten des Elementaren das "Elementare im eigentlichen Sinne, die aufschließenden Einsichten und Verfahrensweisen, die kategorialen Voraussetzungen geistiger Aneignung und Bewältigung" (ebd). Mit Giesecke kann man sagen: Ein Schlüsselproblem politisch zu analysieren, heißt "politische Fragen" an dieses Problem zu stellen "und eine Frage muss, wenn sie sich als politische Frage ausweisen will, zumindest eine politische Kategorie beinhalten" (1974, 160). Die besondere Fachkompetenz des Politiklehrers liegt für Giesecke gerade darin, dass dieser die "gemeinsame intellektuelle Bearbeitung des immer schon vorhandenen politischen Bewußtseins nach organisierbaren Kategorien und Verfahrensregeln" professionell arrangieren kann (1973, 139).

Solche kategorialen Ansätze sind auch in anderen Fachdidaktiken, z.B. in der Geschichtsdidaktik (Arbeitskreis für Geschichtsdidaktik 1991; Mayer/Pandel 1976 ) und in der Wirtschaftsdidaktik (Dauenhauer 1997, Kruber 2000) entwickelt worden. Vergleicht man die Aussagen in den verschiedenen Fachdidaktiken, lassen sich fünf didaktische Funktionen von Kategorien für die Planung, Durchführung und Analyse von Unterricht beschreiben, die:

  • Ordnungsfunktion, d.h. Kategorien ermöglichen eine Strukturierung von Stoffen und von Wissen;
  • Reduktionsfunktion, d.h. ermöglichen Lehrerinnen und Lehrer einen didaktischen Blick auf die Gegenstände des Unterrichts, sie sind Instrumente der Inhaltsauswahl um das für politische Bildung Bedeutsam-Allgemeine zu ermitteln;
  • Erkenntnis- und Bewertungsfunktion, d.h. Kategorien ermöglichen eine Differenzierung politischer Urteile;
  • Kommunikationsfunktion, d.h. Kategorien sind Sprachen (Argumentationsformate), die eine Auseinandersetzung mit Schlüsselproblemen als Deutungslernen im Unterricht ermöglichen;
  • Transferfunktion, d.h. kategoriales Wissen kann von Stoffgebiet zu Stoffgebiet mitgenommen werden.

Die Frage ist nun, welche Grundfragen an Politik der Politikunterricht stellen muss, um in der Auseinandersetzung mit den Schlüsselproblemen der Gegenwart und absehbaren Zukunft die Perspektive der Sozialwissenschaften herzustellen.

3.2 Fachdidaktische Kategorien politischer Bildung

Tab. 2.: Fachdidaktisches Kategorienmodell als Problemanalyse

Bezogenheit von Politik auf eigene Situation
Deutungsmuster Gefühle Betroffenheit/Bedeutsamkeit Verstehen Identifikation
henk-pf-ou henk-pf-ou henk-pf-ou henk-pf-ou
Situation
Was ist?
Optionen
Welche Ziele und welche Lösungen sind möglich?
Konsequenzen
Welche Lösungen sind durchsetzbar und welche Konsequenzen sind mit den Lösungen jeweils verbunden?
Entscheidung
Was soll sein?
  • Betroffene/ Beteiligte
  • Bedürfnisse/ Interessen
  • Problemdruck/ Leidensdruck
  • Gewordenheit
  • Globalität
  • Ziele
  • Prinzipienkonflikte/ Dilemmata
  • Alternativen
  • Ungewissheit
  • Chancen/ Gefahren
  • Grenzen
  • Macht/ Herrschaft
  • Normen
  • Institutionen/ Organisationen
  • Kommunikation
  • Konflikt
  • Konsens
  • Differenz
  • Kompromiss
  • Partizipation
  • Effizienz
  • Legitimität
  • Wohlergehen
  • Entscheidungen

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Das Kategorienmodell, das ich hier vorstellen möchte, stützt sich auf drei Bausteine: Es stellt erstens eine Sammlung sozialwissenschaftlich und fachdidaktisch begründeter Kategorien dar. Politische Bildung kann das Grundproblem - das Problem des Miteinanderauskommens - nur durch den Bezug auf unterschiedliche Bezugsdisziplinen bearbeiten. Das Fach Sozialkunde zeichnet sich im Unterschied zu den meisten Schulfächern deshalb durch ein besonderes Merkmal aus: Politische Bildung kann sich nicht auf eine Bezugswissenschaft, z.B. die Politikwissenschaft beziehen, sondern benötigt den Bezug auf unterschiedliche Bezugsfächer, z.B. auch die Soziologie, die Geschichte, die Ökonomie, die Rechtswissenschaft oder Psychologie. In meinem Kategorienmodell versuche ich deshalb insbesondere politikwissenschaftliche, soziologische, rechtliche und geschichtliche Kategorien zu integrieren, die durch schülerorientierte Kategorien (Bezogenheit von Politik auf die eigene Situation: Deutungsmuster, Gefühle, Betroffenheit/Bedeutsamkeit, Verstehen , Identifikation) ergänzt werden.

Das Kategorienmodell ist zweitens in Form einer Problemanalyse angeordnet. Solche Lernwege können im Politikunterricht eine dreifache Funktion übernehmen: Sie sind erstens gleichsam Modelle des Politischen, in denen das Exemplarische und Verallgemeinerbare von Politik in modernen Demokratien erkennbar wird. Lernwege ermöglichen als Artikulationsschemata des Unterrichts zweitens eine zeitliche und thematische Gliederung einer Unterrichtseinheit, einer Unterrichtsstunde und damit des Unterrichtsverlaufes. Sie gewährleisten dadurch drittens einen gerichteten Prozess der Urteilsbildung, der durch eine sinnvoll aufeinander bezogene Abfolge von Erkenntnisschritten strukturiert ist. Die Fachdidaktik hat eine Reihe solcher politischer Lernwege entwickelt, z.B. die klassischen Lernwege einer Problemanalyse von Hilligen und Sutor; die Fallanalyse von Kaiser; das von Massing vertretene Modell des policy-Kreislaufes; die "Gerichtshöfe der Vernunft" oder den Ansatz der Dilemmata-Stunde; für die Thematisierung der Zukunftsdimension die von Peter Weinbrenner weiter entwickelten Methoden der Zukunftswerkstatt und der Szenario-Methode und das Modell der entscheidungsorientierten Selbstreflexion von Kahlert. Die Kategorien können auch diesen Lernwegen zugeordnet und mit schüleraktiven Methoden verknüpft werden, so dass politische Bildung als Deutungslernen entwickelt werden kann.

Drittens versucht das Kategorienmodell die Kategorien systematisch in fachdidaktische Schlüsselfragen zu übersetzen. (1)

a) Fachdidaktische Kategorien und Politikwissenschaft

Der politikwissenschaftliche Kern von Politik lässt sich im Anschluss an Thomas Meyer (2000) durch drei Elemente beschreiben, die auch fachdidaktisch bedeutsam sind. Erstens durch einen Politikbegriff: Politische Bildung benötigt einen gemeinsamen Fokus, der einerseits offen genug für die unterschiedlichen Ansätze ist, und der andererseits in der Lage ist, einen Zusammenhalt des Faches zu organisieren. Einen solchen Fokus kann die politische Bildung nur in einem weiten Politikbegriff finden (Sander 1989: 145). Dafür eignet sich immer noch die bekannte Formulierung von Rohe: "Politik geschieht und entsteht immer und überall dort, wo Menschen den öffentlichen Aspekt ihres gesellschaftlichen Lebens zu regeln versuchen" (1994: 136). Die Inhalte politischer Bildung beziehen sich dann nicht nur auf das öffentlich-politische System, den Staat oder die Regierung, sondern auf alle gesellschaftlichen Beziehungen, die durch Macht, Herrschaft oder Autorität gekennzeichnet sind, z.B. auf die Schule, die Familie, Freundschaften, die Ökonomie.

Das zweite charakteristische Element von Politik liegt "im gleichzeitigen Wirksamwerden der drei Dimensionen Form (Polity: Verfassung, Staat, politisches System), Inhalt (Policy: Problem, Programm) und Prozess des Politischen stattfindet" (Meyer 2000: 55). Die Gesamtheit dieser drei Faktoren und die spezifische Form ihres Zusammenwirkens bezeichnet Meyer als ,,Logik des Politischen". Tatsächlich lassen sich die fachdidaktischen Kategorien den drei Dimensionen des Politischen zuordnen.

  • Inhalt des Politischen: Problemdruck/Leidensdruck, Ziele, Prinzipienkonflikte/Dilemmata, Ungewissheit, Chancen/Gefahren, Gewordenheit, Globalität;
  • Form des Politischen: Normen, Institutionen/Organisationen, Grenzen, Legitimität, Wohlergehen, Effizienz;
  • Prozess des Politischen: Konflikt, Konsens, Differenz, Kompromiss, Kommunikation, Betroffenheit/Beteiligte, Partizipation;

Die Frage ist, welche didaktische Bedeutung diese Logik des Politischen für den Kern politischer Bildung hat. Mit Wolfgang Hilligen lässt sich darauf Folgendes antworten: In der politischen Bildung geht es bei der Auseinandersetzung mit Schlüsselproblemen immer um diese drei Dimensionen, um das Erkennen der Aufgaben, die im Zusammenhang mit einem Problem gelöst werden müssen, um die Analyse der Auseinandersetzungen, die mit einem Problem verbunden sind und um das Wissen um die institutionellen Voraussetzungen, die eine Rolle spielen (Hilligen 1991: 25). Das dritte Element, durch das Meyer den politikwissenschaftlichen Kern von Politik beschreibt, sind die Kategorien selbst. Natürlich spielen politikwissenschaftliche Kategorien für die politische Bildung eine starke Rolle. Unabhängig vom Streit der Fachdidaktiker um einen weiten oder engen, politologischen oder soziologischen Politikbegriff zeigen empirische Untersuchungen, dass Lehrerinnen und Lehrer im alltäglichen Politikunterricht auf einen Kategorienkern zurück greifen: Beteiligte, Interessen, Entscheidungen, Ideologie, Konflikt, Macht, Partizipation, Recht oder Legitimität. Dieser Kategorienkern wird erstens in der Politikwissenschaft selbst herkömmlicherweise zum Ausgangspunkt traditioneller Definitionen des Politischen genommen (Rohe 1994: 152ff.; Meyer 2000: 60ff.). Der Kategorienkern folgt zweitens dem Grundmodell klassischer Gesellschaftstheorien, das nach Giddens durch das Grundmotiv bestimmt wird, das ,,Problem der Ordnung zu lösen". Klassischen Gesellschaftstheorien geht es um die Frage, wie es gelingen könne, den Zusammenhalt der Gesellschaft angesichts von Interessenunterschieden und mit ihnen verbundenen Interessenkonflikten zu gewährleisten (Giddens 1996: 24). Im Zentrum der klassischen Gesellschaftstheorien steht die Aufklärung der Beziehungen zwischen Interessen, Ideen und sozialstrukturellen Bedingungen. Schließlich wird dieser Kategorienkern von den meisten fachdidaktischen Kategorienmodellen geteilt (Henkenborg 1997). Politische Bildung kann also auf einen theoretisch begründeten und im Professionswissen von Politiklehrern eingelagerten Kategorienkern zurück greifen.

b) Fachdidaktische Kategorien und Soziologie

Neben politikwissenschaftlichen Kategorien umfasst das Kategoriensystem besonders soziologische Kategorien, z.B. Normen, Kommunikation, Institution und Organisation, Macht und Herrschaft. Über solche klassischen soziologischen Grundbegriffe hinaus bezieht das Kategoriensystem solche Kategorien mit ein, die in neuen soziologischen Gesellschaftstheorien bedeutsam sind. Denn: Die Diskussionen in der Politikwissenschaft über das ,,Neue in der Politik", über die ,,Erfindung des Politischen", über Postmoderne, Risiko-, Kommunikations- und Erlebnisgesellschaft oder über Individualisierung und Globalisierung sind Indizien dafür, dass sich die Politik, wie die Gesellschaft überhaupt, grundlegend wandeln. Die Frage ist deshalb, um welche Kategorien der fachdidaktische Kategorienkern erweitert werden sollte, um Modernisierungsprozesse in der Gesellschaft angemessener reflektieren zu können. Um diesen Wandel der Gesellschaft auch in kategoriale Grundfragen für den Politikunterricht übersetzen zu können, bedarf politische Bildung solcher Kategorien, die "zwei Gravitationszentren" (Peters 1993: 14ff.) dieses Wandels beschreiben: Einerseits Kategorien, die auf das Problem der ,,Entstrukturierung des Sozialen" (ebd.: 14ff.) reagieren, also z.B. Ambivalenz, Ungewissheit, Differenz, Dissens, Grenzen, Risiko, Globalität, die eine starke Rolle in postmodernen Theorien und Theorien reflexiver Modernisierung spielen. Anderseits Kategorien, die versuchen das Problem der "Semantisierung des Sozialen" (ebd.: 16ff.) zu bearbeiten, d.h. der Eigenlogik der symbolischen Dimension von Vergesellschaftung und von symbolischen Praktiken, z.B. durch Kategorien wie Deutungsmuster, Gefühle, Kommunikation. Tatsächlich gibt es also in modernen Gesellschaftstheorien Kategorien des Politischen, ohne die eine Aufklärung über Schlüsselprobleme nicht gelingen kann. So lässt sich das Schlüsselproblem Ökologie nicht ohne wichtige Kategorien der Theorien reflexiver Modernisierung, z.B. Ungewissheit, Globalität oder Risiko analysieren. Das Problem des spannungsreichen Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen, Ethnien oder Religionen lässt sich kaum ohne Kategorien postmoderner Gesellschaftstheorien bearbeiten: Ambivalenz, Differenz und Grenzen. Und die Probleme sozialer Ungleichheit und der Demokratie lassen sich nicht ohne konstruktivistische Kategorien analysieren, z.B. Gefühle oder Deutungsmuster (Henkenborg 2000a).

c) Fachdidaktische Kategorien und Geschichte und Ökonomie

Dass zwischen politischer und historischer Bildung ein starker Zusammenhang besteht, spiegelt sich in dem Kategoriensystem dadurch wider, dass es auch einschlägige Kategorien der Geschichtsdidaktik einbezieht, z.B. Gewordenheit, Verstehen, Identifikation, Macht und Herrschaft, Rechtfertigung (Mayer 1976).

Für den Zusammenhang von Politikunterricht und Ökonomie ist interessant, dass sich durchaus Überschneidungen zwischen diesem politikdidaktischen Kategoriensystem und Kategoriensystemen der Wirtschaftsdidaktik finden lassen. Das betrifft Kategorien wie Bedürfnisse, Normen, Institutionen, Entscheidungen, Effizienz oder Knappheit. Allerdings spielt die Mehrzahl ökonomischer Basiskategorien in den politikdidaktischen Kategoriensystemen bislang keine Rolle, z.B. volkswirtschaftliche Kategorien wie Arbeitsteilung, Erwartung, Markt, Wettbewerb, Geld, Wirtschaftskreislauf, Instabilität. Ebenso bleiben betriebswirtschaftliche Kategorien in der politischen Bildung bislang zumeist unberücksichtigt (Dauenhauer 1997, Kruber 2000). Hier können beide Fächer weiterhin voneinander lernen.

4. Schluss

Ich wollte zeigen, dass der Politikunterricht seine Philosophie des Schulfaches auf der Ziel- und Inhaltsebene u.a. aus vier zusammenhängenden Bausteinen entwickeln sollte: Demokratie-Lernen, Schlüsselqualifikationen, politische Mündigkeit, Schlüsselprobleme und kategoriale Bildung. Dadurch ist die politische Bildung in der Lage, ein eigenes Profil unter den Fächern zu entwickeln. Gleichzeitig bieten das Konzept der Schlüsselqualifikationen und das Modell kategorialer Bildung auch Möglichkeiten der Kooperation, aber auch der Abgrenzung zwischen dem Politikunterricht und dem Fach Ökonomie in einem gemeinsamen Lernfeld.

Anmerkung:

Die Schlüsselfragen können hier nicht dokumentiert werden, vgl. dazu Henkenborg 2000b.

Literatur:

Arbeitskreis für Geschichtsdidaktik (1991): Historische Bildung heute. Kategorienbildung im Geschichtsunterricht. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, H. 6, 1991, S. 15-24

Bromme, Rainer (1992): Der Lehrer als Experte. Bern, Göttingen, Toronto

Brumlik, Micha (1997): Politische Bildung - Braucht sie eine normative Theorie. In: Kursiv, H. 4, 1997, S. 12-19

Dauenhauer, Erich (1997): Kategoriale Wirtschaftsdidaktik. Bd.1. Münchweiler

Giddens, Anthony (1996): Konsequenzen der Moderne. Frankfurt/M

Giesecke, Hermann (1974): Didaktik der politischen Bildung, München

Giesecke, Hermann (1978): Rollen und Funktionen des Politiklehrers. In: Ackermann, Paul: Politiklehrer-Ausbildung. Analyse und Dokumentation, Bonn, S. 129-143

Harms, Hermann/ Breit, Gotthard (1990): Zur Situation des Unterrichtsfachs Sozialkunde/Politik und der Didaktik des politischen Unterrichts aus der Sicht von Sozialkundelehrerinnen und -lehrern. Eine Bestandsaufnahme. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Zur Theorie und Praxis der politischen Bildung, Bonn, S. 13ff.

Henkenborg, Peter (1997): Gesellschaftstheorien und Kategorien der Politikdidaktik. Zu den Grundlagen einer fachspezifischen Kommunikation in der politischen Bildung. In: Politische Bildung, H. 2, 1997, S. 95-121

Henkenborg, Peter/ Kuhn, Hans-Werner (1998): Der alltägliche Politikunterricht. Schwalbach/Ts.

Henkenborg, Peter (2000): Politische Bildung und sozialer Wandel - neue Anforderungen an die Kategorien politischer Bildung. In: Oechsle, Mechthild/ Wetterau, Karin (Hrsg.): Politische Bildung und Geschlechterverhältnis. Opladen, S. 223-246

Henkenborg, Peter (2000b): Werte und kategoriale Schlüsselfragen im politischen Unterricht. In: Breit, Gotthard; Schiele Siegfried (Hrsg.): Werte in der politischen Bildung. Schwalbach/Ts., S. 263-287

Hentig von, Hartmut (1999): Ach, die Werte! Über eine Erziehung für das 21. Jahrhundert. München/Wien

Hilligen, Wolfgang (1991): Didaktische Zugänge in der politischen Bildung. Schwalbach/Ts.

Kruber, Klaus-Peter (2000): Kategoriale Wirtschaftsdidaktik - der Zugang zur ökonomischen Bildung. In: Gegenwartskunde H. 3/2000, S. 285-296

Mayer, Ulrich/ Pandel, Hans-Jürgen (1976): Kategorien der Geschichtsdidaktik und Praxis der Unterrichtsanalyse. Stuttgart

Meyer, Thomas (2000): Was ist Politik? Opladen

Negt, Oskar (1999): Kindheit und Schule in einer Welt der Umbrüche. Göttingen

Patzelt, Werner J. (1997): Einführung in die Politikwissenschaft. Passau

Peters, Bernhard (1993): Die Integration moderner Gesellschaften. Frankfurt am Main

Rohe, Karl (1994): Politik. Begriffe und Wirklichkeiten. Stuttgart, Berlin, Köln

Sander, Wolfgang (1989): Zur Geschichte und Theorie der Politischen Bildung. Allgemeinbildung und fächerübergreifendes Lernen in der Schule. Marburg

Sutor, Bernhard (1984): Neue Grundlegung politischer Bildung. 2 Bd. Paderborn


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