Annette Scheunpflug
'Bildung für Nachhaltigkeit' ist seit der Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio ein immer gebräuchlicher werdender Begriff. In pädagogischer Hinsicht geht es dabei um Bildungskonzepte auf der Basis entwicklungs- und umweltpädagogischer Erkenntnisse. Im Folgenden wird ein Zugang vor dem Hintergrund der Entwicklungspädagogik und der Konzeption des Globalen Lernens gewählt. Im ersten Teil werden einige strukturelle Grundzüge der Globalisierung beschrieben. Vor diesem Hintergrund wird die Lernaufgabe, die mit der Globalisierung verbunden ist, erkennbar. In einem dritten Schritt werden einige wenige didaktische Grundlinien Globalen Lernens in Hinblick auf eine Bildung für nachhaltige Entwicklung umrissen.
I. Die Globalisierung als Perspektive
Globales Lernen versteht sich - in loser Anlehnung an ein Diktum von S. Bernfeld - als die pädagogische Reaktion auf die Entwicklungstatsache zur Weltgesellschaft. Globales Lernen reagiert damit auf die Lernherausforderungen, die sich mit der zunehmenden Globalisierung der Welt ergeben.
1. Die Komplexitätssteigerung von Welt
'Globalisierung' ist zunächst einmal ein vielschimmerndes Schlagwort, das im Moment Konjunktur erlebt. Es wird in unterschiedlichen Bedeutungen verwendet: als Begriff zur Beschreibung der zunehmenden wirtschaftlichen Verflechtungen, als Synonym für Steuerungsprobleme in der Politik oder als normativer Begriff - je nach Perspektive als erstrebenswert oder abzulehnend bewertet.
Im Folgenden wird Globalisierung interpretiert als eine Reaktion von Organisationen wie Staaten oder Industrieunternehmen auf die Komplexitätssteigerung der Welt. Dass die Welt, in der wir leben, immer komplexer wird, ist, seitdem der zweite Satz der Thermodynamik bekannt ist, eine unspektakuläre Binsenweisheit. Eine Komplexitätszunahme lässt sich definieren als eine Informationssteigerung pro Zeiteinheit. Komplexität nimmt, bedingt durch die technische Entwicklung, in rasantem Tempo zu. Soziale Systeme können unter anderem darauf reagieren, indem sie ihre eigene Komplexität ausdifferenzieren, um damit anschlussfähig an diese Entwicklung zu bleiben. Auf der Ebene von Individuen lässt sich diese Entwicklung mit dem Prozess der Individualisierung, also der Ausdifferenzierung der Möglichkeiten einzelner Menschen bzw. der Ausprägung ihrer unterschiedlichen Individualität, beschreiben. Auf der Ebene von Staaten, Industrieunternehmen und anderen Organisationen lässt sich dieser Prozess mit dem Stichwort der Globalisierung benennen. Soziale Systeme steigern ihre Möglichkeiten, wenn sie weltweit agieren. Verschiedene soziale Systeme sind unterschiedlich weit globalisiert: die Wirtschaft, die Kriminalität und die Unterhaltungsindustrie beispielsweise mehr als das Rechtssystem oder das Bildungssystem.
Globalisierung wie auch die Individualisierung sind in meinen Augen als die zwei Seiten einer Medaille zu interpretieren. Beide Verhaltensweisen sind eine Reaktion auf die Steigerung der Komplexität der Welt (vgl. ausführlich Scheunpflug 1997).
2. Verwerfungen und daraus resultierende Entwicklungsaufgaben in der Weltgesellschaft
Für jeden von uns bedeutet diese Entwicklung, dass sich mehr Möglichkeiten eigenen Handelns und Erlebens eröffnen. Die touristischen Möglichkeiten erweitern sich, viele Produkte werden aufgrund der Konkurrenz auf dem Weltmarkt billiger, und es gibt alle Obst- und Gemüsesorten beinahe zu jeder Jahreszeit zu kaufen. Auf der anderen Seite steigt aber auch die Anzahl der Probleme und der Charakter der zu bearbeitenden Herausforderungen verändert sich.
Die Herausforderungen der Einen Welt
Welche Probleme sind es, vor denen die Menschheit steht? Die Herausforderung der globalisierten Welt werden unterschiedlich beschrieben. Für die entwicklungspolitische Debatte ist der jährliche 'Bericht über die menschliche Entwicklung' des UNDP (United Nations Development Program) von Bedeutung. Im jüngsten Bericht des UNDP (1999, S.3), der sich unter der Titel "Globalisierung mit menschlichem Antlitz" explizit mit den Herausforderungen der Globalisierung für eine humane Weltgesellschaft beschäftigt, werden folgende Entwicklungsaufgaben für die Eine Welt genannt:
- Es gilt, ungleiche Rechtsverhältnisse und Rechtsverständnisse über einen ethischen Diskurs, v.a. in Hinblick auf die Durchsetzung der Menschenrechte, zu bearbeiten.
- Die ungleichen Wirtschafts- und Handelsverhältnisse (in Hinblick auf eine Weltwirtschaftsordnung) stellen nach wie vor ein ungelöstes Problem dar.
- Ein großer Teil der Menschen im Süden - aber auch eine zunehmende Anzahl im Norden - leben in Armut bzw. unter dem Existenzminimum. Diese Problemlast gilt es zu bewältigen.
- Die Mitbestimmungsmöglichkeiten sind auf der Erde sehr ungleich verteilt.
- Menschen sind weltweit, vor allem aber in Staaten des Südens - zunehmend Sicherheitsrisiken und Gefährdungen, z.B. durch bewaffnete Konflikte, durch Bürgerkriege und durch Kriminalität ausgesetzt.
- Über Nachhaltigkeit ist dem exponentiellen Ansteigen des Ressourcenverbrauchs und der Zerstörung unserer natürlichen Umwelt Einhalt zu gebieten.
Es mag verwundern, dass 'Nachhaltigkeit' hier als eine Perspektive unter anderen firmiert und nicht - wie zum Beispiel im Modellversuch der Bund-Länder-Kommission üblich - als Oberbegriff verwendet wird. Je nach Perspektive - ob man von der Seite der Menschenrechte, Fragen der Weltwirtschaftsordnung oder globaler Umweltgefährdungen auf unsere globalisierte Welt blickt - wird der Zugriff ein anderer sein. Die Entwicklung zu einer Weltgesellschaft kann unter ganz verschiedenen Blickwinkeln bearbeitet werden. Diese unterschiedlichen Begriffe sind aus erkenntnistheoretischer Perspektive sinnvoll; denn eine komplexe Herausforderung kann nicht 'ganzheitlich' bearbeitet werden. Aus erkenntnistheoretischen Gründen wissen wir seit Kant, dass 'Ganzheitlichkeit' vielmehr eine regulative Idee ist, eine "Denunziation der Wirklichkeit im Denken" (Treml o.J., S.237). Eine mehrperspektivische Annäherung ist deshalb der Komplexität des Gegenstandes angemessen.
Die Art der Herausforderungen
Die oben genannten globalen Probleme sind von einer spezifischen Qualität. Ich stelle diese Qualität vereinfacht dar - wohl wissend, dass es sich um eine idealtypische Vereinfachung handelt.
Zeitdimension
Probleme im lokalen Horizont sind in ihrer zeitlichen Dimension erfahrbar. Der Zeitraum, in dem sie sich ereignen, ist biographisch erfahrbar. Globale Effekte zeigen eine Erscheinungsform in der Zeit, die häufig über eine Generation hinausweisen und damit nicht mehr unmittelbar erlebbar sind. Sie sind geprägt durch lange Zeiträume und damit von einer Zukunfts- und Vergangenheitsüberlastung sowie sogenannten 'Schlafzeiten' zwischen Ursachen und Wirkungen (lange Zeit lassen sich keine Auswirkungen bemerken). Ein Beispiel für ein solches Phänomen ist das Ozonloch. Es wird (vermutlich), würden wir alle heute unser Verhalten radikal umstellen, erst in dreißig Jahren auf diese Veränderung reagieren.
Raumdimension
Lokale Effekte sind sowohl in der Ursache wie auch in ihrer Wirkung auf einen konkreten Raum bezogen. Globale Effekte kennen keinen klaren Raumbezug, sie sind quasi raumlos im Raum. Kursschwankungen in Währungssystemen sind - das sah man bei der Asienkrise - zwar zum Teil räumlich in ihren Ursachen konzentriert, wirken in ihren Folgen aber entgrenzt. Die amerikanische Filmindustrie ist in ihrem Entstehungsort klar lokalisierbar, allerdings in ihrer Verbreitungsform universalisiert.
Kausalitätsmuster
Lokale Effekte lassen häufig klare Kausalitätsbeziehungen zwischen Ursachen und Wirkungen erkennen. Dabei wird leicht vergessen, dass Kausalitätsmuster Beobachtungskategorien zur Strukturierung der uns umgebenden Wirklichkeit sind und häufig mehr über unsere Denkgewohnheiten und Vorwissen als über das beobachtete System aussagen. Je komplexer Phänomene sind - und globale Effekte sind komplexe Phänomene (s.u.)., desto häufiger sind wir verleitet ein zu einfaches oder gar falsches Kausalschema zu unterstellen:
- Globale Effekte können sich über ungewollte Nebenfolgen aufschaukeln, so dass der berühmte Schmetterlingsflügelschlag in China einen Hurrikan in den USA bewirkt oder ein Versprecher bei einer Pressekonferenz anlässlich der Demonstrationen in der DDR das Ende des Ost-West-Gegensatzes einläutete.
- Globale Effekte sind potenziell subjektlos. Damit lassen sich "Schuldige" gegen die opponiert werden kann, immer weniger identifizieren. Die Beschwichtigungsformeln nehmen zu und es wird immer schwieriger, sich mit den klassischen Mitteln der politischen Einflussnahme (Boykott, Demonstration etc.) zu artikulieren. Wer ist der Schuldige für Armut, Arbeitslosigkeit oder die anhaltenden Konflikte in Angola oder im Sudan? Gegen wen sollte protestiert, auf wen Einfluss genommen werden?
- Gleichzeitig - und das macht die Situation so schwierig - ist es nicht so, dass es keine Ursachen gäbe. Nur: Sie sind komplex miteinander verwoben. Schwierige Situationen lassen sich nicht durch eine Handlung lösen, sondern durch ein Strukturarrangement, das die in diesem Netz agierenden Personen und Institutionen zu einem selbstorganisierten Richtungswechsel zwingt. So etwas zu durchdenken und planerisch umzusetzen ist schwierig. Zudem gibt es auch Dinge, die klar in ihren Ursachenstrukturen benennbar sind. Es gilt also unterschiedliche Kausalitätsmuster zu unterscheiden.
- Nichtlineare Kausalitätsmuster lassen Entwicklungen entstehen, deren Verlauf nur schwer vorhersehbar ist. Dies bringt für alle Kausalplanungen unvorhersehbare Schwierigkeiten mit sich.
- Indirekte Kausalitätsmuster führen auch dazu, dass der Absichts-Wirkungs-Zusammenhang ebenfalls durchbrochen ist. Gute Absichten können in katastrophale Folgen münden.
Informationsdichte
Lokale Effekte sind potenziell durch wenige Informationen gekennzeichnet, während globale Effekte durch viele Informationen zu beschreiben sind. Zudem sind globale Effekte mehr als die Summe ihrer Teile, auch die Summe ihrer lokalen Anteile, d.h. sie spielen sich auf einer neuen Emergenzebene ab.
Die Unterscheidung in globale und lokale Herausforderungen ist von einer anderen Qualität als die Unterscheidung in Probleme im Nah- und Fernbereich. Nach wie vor gibt es Probleme, die sich ausschließlich in einem begrenzten Bereich abspielen und auch aus diesem ihre Dynamik beziehen: Umkippende Gewässer aufgrund lokaler Umweltverschmutzungen örtlicher Einleitungen, Verkehrsprobleme durch falsche Entscheidungen vor Ort zum öffentlichen Nahverkehr oder geringe Bildungsausgaben, da in ein Militärsystem investiert wird. Immer häufiger verschränken sich lokale und globale Probleme miteinander. Die falsche Entscheidung zum Öffentlichen Personennahverkehr ist zwar vor Ort nicht angemessen gefällt worden, sie mag aber durch globale Wirtschaftsverflechtungen, etwa geringes Steueraufkommen aufgrund ungleicher Wettbewerbsbedingungen in der Weltwirtschaft oder Benzinpreisen in teuren Devisen bedingt sein. Die lokale Umweltverschmutzung wird durch eine nahegelegene Papierfabrik bedingt, die durch schadstoffbelastete Produktion und geringe Umweltaufmerksamkeit den Anschluss an den Weltmarkt versucht etc. Diese Verschränkungen nennt Ulrich Beck 'Globalität'.
Globale Herausforderungen lassen sich damit nicht mehr so leicht sinnlich erfahren. Handlungstiefen verändern sich und Entscheidungsspielräume nehmen ab. Diese Situation erfordert Entscheidungen unter der Perspektive, nicht alle Determinanten eines Problems zu kennen. Angesichts des exponentiellen Wissenswachstums wächst die Menge dessen, was individuell nicht gewusst wird, enorm an. Damit steigt das individuelle Nichtwissen im Verhältnis zum gesellschaftlichen Wissen: Der Umgang mit dem eigenen prinzipiellem Nichtwissen wird deshalb zu üben. Fremdheit und Vertrautheit sind zudem nicht länger mehr - wie Menschen es über Jahrhunderte gewohnt waren - nach geographisch-räumlichen Entfernungen geordnet. Der Umgang mit Fremdheit und interkulturelles Lernen werden deshalb immer wichtiger.
3. 'Globales Lernen' als Konzept
Aus entwicklungspolitischer Perspektive ist 'Globales Lernen' die Konzeption, die den Anspruch vertritt, auf diese Herausforderungen pädagogisch zu reagieren. Globales Lernen stellt die Frage nach weltweiter Gerechtigkeit und den wirtschaftlichen und sozialen Möglichkeiten eines Zusammenlebens auf diesem Planeten in den Vordergrund. Dabei geht es zum einen um das Überleben der Einen Welt, zum anderen um das gute Leben heutiger und zukünftiger Generationen auf diesem Globus (vgl. ausführlich Scheunpflug/Schröck 2000).
Globales Lernen ist Anfang der neunziger Jahre aus der entwicklungspolitischen Bildung entstanden. Die entwicklungspolitische Bildung kann auf eine über fünfzig Jahre währende Geschichte zurückblicken (vgl. im Überblick Scheunpflug/Seitz 1995). Sie hat in diesem Zeitraum politische Erkenntnisse im Kontext mit Entwicklungsfragen wie auch pädagogische Strömungen aufgegriffen. Seit den siebziger Jahren werden ökologische Fragestellungen im Kontext von Umwelt und Entwicklung reflektiert und dazu pädagogische Materialien erstellt (vgl. die diesbezügliche Untersuchung von Scheunpflug/Seitz/Treml 1992; publ. 1993). Beispielsweise hat 'Brot für die Welt' in den siebziger Jahren mit der "Aktion 'e'" Umweltfragen v.a. hinsichtlich des eigenen Lebensstils in den Vordergrund gestellt (Fleischkonsum, Rohstoff- und Energieverbrauch im Norden etc.). Gerade Institutionen der Entwicklungspolitik und der entwicklungspolitischen Bildung waren es, die als Regierungs- wie als Nichtregierungsorganisationen konzeptionell die 'Erklärung von Rio' einforderten und vorbereiteten. In der deutschsprachigen entwicklungspolitischen Bildung wird die Erklärung von Rio und die Forderung nach einer Bildung für nachhaltige Entwicklung eher als eine Bestätigung bisheriger konzeptioneller Zugänge aufgefasst, denn als Aufforderung zum Paradigmenwechsel, wie dies tendenziell in der Umweltpädagogik der Fall ist.
Unabhängig davon, ob man den Überbegriff für diese entwicklungs-, umwelt- oder friedenspädagogischen Lernaufgaben 'Bildung für eine nachhaltige Entwicklung' oder 'Globales Lernen' nennt, eines dürfte deutlich sein: Die Probleme, die es zu bewältigen gibt, sind überdimensional und die möglichen Zugänge zu ihnen vielfältig. Unterschiedliche Zugänge und historische Traditionen der Bearbeitung von Themen sind der Komplexität der Herausforderung angemessen und sollten geschätzt und nicht abgewertet werden.
II Die Lernaufgabe
1. Die Lernaufgabe im engeren Sinn
Die globale Herausforderung, vor der die Menschheit steht, ist nicht zu unterschätzen. Wenn für Menschen die Umgebung als unübersichtlich und komplex erscheint, gibt es zwei Möglichkeiten: Man kann die umgebende Wirklichkeit vereinfachen und sie skch so zurechtinterpretieren, dass sie in das eigene Weltbild passt. Oder man kann die eigene Bewusstseinsstruktur komplexer werden lassen, also lernen. Die heutige Situation lädt - gewissermaßen als Gegenreaktion - zu Vereinfachungen und Fundamentalisierungen ein. Das lässt sich vielerorts erleben.
Es ist also eine große didaktische Aufgabe, Schülerinnen und Schüler zu ermöglichen, die Entwicklung zur Weltgesellschaft angemessen verstehen und in Worte fassen zu können. Das Verstehen globaler Prozesse ist unter dieser Perspektive ein wichtiges Lernziel, das Anschlussmöglichkeiten für die spätere Biographie ermöglicht. Verstehensprozesse anzuregen ist eine originäre Aufgabe der Schule. Diese in Hinblick auf globale Prozesse zu erfüllen ist noch nicht gelungen und bleibt daher ein wichtiges Entwicklungsziel in Hinblick auf die Qualitätssicherung schulischen Lernens. Gerade aufgrund der Komplexität der Situation müsste das Lernziel eigentlich heißen, verstehen zu lernen, dass wir diese Situation nicht hinreichend verstehen können. Das 'Verstehen des Nichtverstehens' so zu organisieren, dass es weitere Anschlussmöglichkeiten an Lernen bietet, ist die Herausforderung.
Das Lernziel globale Prozesse zu gestalten, also aktive Lösungsmöglichkeiten zu suchen und diese handelnd anzubahnen, ist ein sehr ehrgeiziges Lernziel. Es setzt, soll diese Gestaltungsanregung nachhaltig sein und nicht nur einen durch Lehrkräfte motivierten Aktionismus darstellen, Verstehensprozesse voraus. Gestaltungskompetenz im Sinne nachhaltiger Entwicklung zu erlernen kann kleinschrittig auf unterschiedlichen Ebenen erfolgen, indem Einzelkompetenzen in Hinblick auf Globale Herausforderungen vermittelt werden.
2. Die Krise der Einen Welt als Lernkrise
Die Integration von Entwicklungsthemen in den Bildungskanon bedeutet deshalb noch nicht, auf die Weltgesellschaft und den mit ihr verbundenen Herausforderungen angemessen vorzubereiten. Gerade die spezifische Qualität globaler Prozesse bedeutet Lernprozesse zu initiieren, die über die Vermittlung von Fachwissen weit hinausgehen.
In meinen Augen ist die Krise der Einen Welt eine Lernkrise. Nach der These der evolutionären Psychologie ist das Denken und die Gefühls- und Motivationswelt von Menschen an die Lebensbedingungen des Pleistozäns als der für die Menschheitsentwicklung längsten Periode angepasst. Diese Lebensbedingungen sind durch unmittelbare Tat-Folge-Zusammenhänge und durch Herausforderungen im konkreten Nahbereich gekennzeichnet. Menschen haben (noch) nicht gelernt, ihr Denken und Handeln daran anzupassen, dass sie längst diesen Mesokosmos der unmittelbaren Umgebung verlassen haben und global agieren (vgl. Scheunpflug 2000a; 2000b). Viele Experimente des Psychologen Dietrich Dörner (vgl. z.B. Dörner 1989) bestätigen die auch von Biologen (vgl. im Überblick Neumann u.a. 1999) oder Philosophen (vgl. Vollmer 1993) geäußerte Position, dass wir in unserem Denken noch zu wenig die heutige Globalisierung und Komplexität bewältigen.
Die Untersuchungen Dörners machen deutlich, dass nicht das Fachwissen für einen angemessenen Umgang mit komplexen weltgesellschaftlichen Herausforderungen verantwortlich ist. In einer seiner experimentellen Untersuchung hatten Versuchspersonen die Aufgabe, schwierige und komplexe Situationen aus dem Umwelt- und Entwicklungsbereich zu lösen. Ein Computer wurde mit den Daten eines afrikanischen Entwicklungslandes Anfang der sechziger Jahre und den umgebenden politischen Rahmenbedingungen gefüttert. Die Versuchspersonen hatten die Aufgabe, das Land zu regieren. Bei durchschnittlichen Versuchspersonen kam es nach ca. 88 Monaten politischen Handelns zu einer katastrophalen Hungersnot. Was hatten die Versuchspersonen gemacht? Sie reagierten vor allem in Hinblick auf den Nahbereich, berücksichtigten die unmittelbar erkennbaren Faktoren und vergaßen Fern- und Nebenwirkungen. Sie handelten ohne vorherige Situationsanalyse und flüchteten in viele unterschiedliche Projekte. Solange sich keine negativen Effekte zeigten, waren die Versuchspersonen von ihrem eingeschlagenen Weg überzeugt (vgl. Dörner 1989). Gleichzeitig wurde aber auch deutlich, dass es sehr wohl Versuchspersonen gab, die diese Anforderungen lösen konnten. Sie zeichneten sich durch "mehr Nachdenken und weniger 'Machen' aus". Erfolgreiche Versuchspersonen produzierten mehr Entscheidungen bzw. mehr Entscheidungen pro Absicht und handelten damit komplexer. Sie erkannten Probleme früher und überprüften ihre Entscheidungen wesentlich häufiger durch Nachfragen und "Warum-Fragen". Menschen, die ein Land zur Blüte brachten, vagabundierten nicht durch verschiedene Themen hindurch, sondern verfolgten ihre Fragen konsequent. Sie ließen sich außerdem nicht so schnell ablenken wie nicht erfolgreiche Versuchspersonen (und hatten damit einen hohen Stabilitätsindex bei geringem Innovationsindex). Außerdem strukturierten sie ihr eigenes Verhalten häufiger vor und reflektierten es, sie delegierten weniger Verantwortung und konnten besser mit Zeit umgehen. Diese Faktoren korrelierten nicht mit der Intelligenz der Versuchspersonen. Insgesamt unterschieden sich erfolgreiche Versuchspersonen von nicht erfolgreichen in ihren Persönlichkeitsmerkmalen durch
- ein breites Allgemeinwissen,
- einen Vorrat an Strukturprinzipien,
- Selbstsicherheit statt Angst,
- Entscheidungsfreude,
- bessere Einschätzung der Wichtigkeit von Problemen,
- die Bereitschaft, Hypothesen zu prüfen und zu korrigieren,
- mehr und tiefere Warum-Fragen und
- die Fähigkeit, Unbestimmtheit zu ertragen (vgl. Vollmer 1993, S. 19/50).
Lernen für eine nachhaltige Entwicklung bedarf deshalb eines umfassenden Bildungsverständnisses, das über die Vermittlung neuen Fachwissens deutlich hinausgeht. Es bedeutet mehr als nur die Integration neuer Inhalte sondern vor allem auch Aspekte der Vermittlung von Inhalten.
Ein solches Bildungsverständnis bedarf auf der Sachebene des Wissens über die Herausforderungen zur Entwicklung der Weltgesellschaft, aber auch des Einübens in den Umgang mit der Tatsache, dass in der Beurteilung komplexer Sachverhalte immer zu wenig Wissen zur Verfügung steht. Deshalb muss man lernen, mit sachlichen Widersprüchen umzugehen, Wissen zu erwerben bzw. Expertisen einzuholen und unter den Bedingungen des Nichtwissens aller Faktoren abgewogene Entscheidungen zu fällen. Zudem ist hinreichend abstraktes Denken zu lernen; denn die Probleme der Weltgesellschaft zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie sinnlich nur noch schwer erfahrbar sind und sich außerhalb unserer unmittelbaren mesokosmischen Erfahrung bewegen. Auf der Sozialebene ist zu lernen, dass Fremdheit und Vertrautheit sich immer weniger regional verorten lassen. Ambiguitätstoleranz bedarf interkultureller Erfahrungen und interkultureller Kompetenzen. Unterschiedliche Menschen, Erfahrungshintergründe und Sozialerfahrungen sind unabdingbar. Dabei spielen sprachliche Kompetenzen, etwa in Hinblick auf die reine Fremdsprachenkompetenz aber auch bzgl. einer genauen und deeskalierenden Ausdrucksfähigkeit eine wichtige Rolle. Angesichts des schnellen sozialen Wandels in der zeitlichen Dimension unserer Welterfahrung ist zum Umgang mit Ungewissheit eine hohe Strukturierungs- und Methodenkompetenz unabdingbar. Nachstehende Tabelle fasst die Aspekte eines Bildungsverständnisses in der Weltgesellschaft zusammen.
Herausforderung durch die Weltgesellschaft | Lernaufgaben | Lerninhalte |
sachlich: Einhaltung der Menschenrechte, Umwelt, Entwicklung, Globalisierung, Medien, Migration, Sicherheit | Umgang mit Wissen und Nichtwissen | - Wissen im Bereich von Umwelt und Entwicklung - Einüben in den Umgang mit sachlichen Widersprüchen und mit Perspektivenwechsel - Lernen von Abstrakta und konkretem Handeln |
sozial: Veränderung von Fremdheit und Vertrautheit | Umgang mit Vertrautheit und Fremdheit | - Kennen lernen unterschiedlicher Menschen, Lebensstile und Sozialerfahrungen - Erwerb interkultureller Kommunikationskompetenz und differenzierter Sprache |
zeitlich: Schneller sozialer Wandel | Umgang mit Gewissheit und Ungewissheit | - Strukturierungs- und Methodenkompetenz |
Tabelle 1: Aspekte eines Bildungsverständnisses in der Weltgesellschaft
III Didaktische Aspekte
Ein solches Bildungsverständnis für eine nachhaltige Entwicklung steht vor einigen didaktischen Herausforderungen, von denen im Folgenden einige - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - genannt werden.
1. Das Übertragungsproblem vom Globalen in das Lokale
Menschen sind vor allem in Hinblick auf ihre Gefühlswelt im Nahbereich verankert und erleben deshalb diesen als dominant. Globales Lernen bedient sich aus diesem Grunde häufig des didaktischen Kunstgriffes, abstrakte Vernetzungen der Einen Welt durch Verankerungen im Lokalen und Konkreten zu veranschaulichen. Globale Vernetzungen werden beispielsweise durch konkrete Biographien oder bekannte Entwicklungsprojekte veranschaulicht. Dieses Verfahren ist legitim und kommt dem menschlichen Erkenntnishorizont entgegen. Allerdings lassen sich durch dieses Prinzip der Veranschaulichung wichtige Qualitäten globaler Prozesse, wie Rückkoppelungseffekte, nicht vermitteln. Im Gegenteil, diese werden durch eine solche Form der Veranschaulichung im Lokalem potenziell blockiert. Für Rückkoppelungseffekte eignet sich beispielsweise eine Veranschaulichung durch simulative Prozesse, etwa in Computer-Spielen. Die didaktische Aufgabe ist es also, zu unterscheiden, an welchen Stellen eine Übertragung und Veranschaulichung globaler Prozesse in die lokale Erfahrbarkeit möglich und sinnvoll ist und an welchen nicht. Eine didaktische Regel könnte lauten: Übertrage in den lokalen Nahbereich, wo immer es geht, da dies menschlichem Lernen entgegenkommt. Lass' dies aber sein, wenn die spezifische Qualität globaler Prozesse dadurch nicht erkannt wird!
2. Moralische Appelle und Empathie
Angesichts der Komplexität globaler Prozesse können uns moralische Gefühle oder Empathie für bestimmte Bevölkerungsgruppen enorm betrügen. Allerdings ist es angesichts der globalen Komplexität an vielen Stellen auch schwer, überhaupt Einfühlungsvermögen für andere Menschen zu entwickeln. Diese Spannung ist für die Initiierung pädagogischer Lernprozesse nicht einfach auszutarieren. Die Gefahr, Menschen unrealistisch zu idealisieren ('Der gute Wilde') ist gegeben. Es ist angemessen, einerseits moralische Appelle vorsichtig zu verwenden und andererseits über globale Spielregeln und deren Einhaltung (zum Beispiel in Hinblick auf die Einhaltung der Menschenrechte) nachzudenken.
3. Erfahrung und Reflexion
Konkrete Lernerfahrungen durch persönliches Erleben sind wichtig. Authentizität beschreibt allerdings immer eine partikulare Erfahrung - eine Erfahrung, die in einer anderen Situation ganz anders aussehen könnte. Menschen sind zum Lernen aus motivationaler Perspektive auf eigene Erfahrungen angewiesen und hören gerne die Erfahrungen anderer. Austausch von Schülern, Studierenden und Lehrenden in Länder des Südens und des Ostens sowie Bildungskooperationen sind deshalb sinnvoll. Diese Formen bedienen unsere evolutionäre Prägung in Hinblick auf konkrete und erfahrbare Sozialerfahrungen. Globales Lernen sollte solche eigenen Erfahrungen ermöglichen.
Darüber hinaus ist es aber - angesichts der dargestellten Struktur globaler Herausforderungen - von Wichtigkeit, konkrete Erfahrungen in ihren abstrakten Implikationen zu reflektieren bzw. in einen allgemeineren Zusammenhang zu stellen. Hierzu bedarf es angesichts zunehmend fragmentierter und partikularer Erfahrungshorizonte einer Theorie bzw. der theoretischen Reflexion. In dieser Situation wird theoretische politische Allgemeinbildung von besonderer Bedeutung, da sie zersplitterte individuelle Erfahrungen kognitiv miteinander zu verbinden erlaubt. Während der Umgang mit abstrakten Heuristiken im Mathematikunterricht eine Selbstverständlichkeit darstellt, ist dies in sozial- und geographiekundlichen Fächern der Schule keine Selbstverständlichkeit. Ethische Reflexion, Selbstreflexion und das Nachdenken über die Grundlagen von Kultur und Gesellschaft sind wichtige Aufgaben Globalen Lernens.
4. Wissen und Handeln
Globales Lernen sollte Wissen über unsere Eine Welt und deren Herausforderungen vermitteln. Dies passiert - trotz kontinuierlicher Verbesserung beispielsweise der Curricula und Schulbücher in den letzten Jahren - noch nicht in hinreichendem Maße. Hier ist ein stärkeres Engagement der Schule, das den gesellschaftlichen Veränderungen der Einen Welt Rechnung trägt, noch zu entwikeln. Modellversuche sind sicherlich ein weiterer Schritt in diese Richtung.
Darüber hinaus entsteht ein Qualifikationsbedarf durch die Art der Vermittlung fachlicher Inhalte. Es sollte gelernt werden, sachliche Widersprüche auszuhalten und Dinge von unterschiedlichsten Perspektiven zu sehen. Internationalität und Interdisziplinarität sind Formen, diesen Perspektivenwechsel herzustellen. Gerade der internationale Perspektivenwechsel ist in vielen Bildungsangeboten zu gering ausgeprägt und sehr durch die US-amerikanische Majoritätskultur - und damit einem verschwindend geringem Bruchteil kultureller Weltentwürfe - geprägt. Unterschiedliche Lebensstile sind kennen zulernen. Ein wichtiger Bestandteil Globalen Lernens auf der Sozialebene ist das Einüben einer differenzierten Sprache und das Erlernen eines sensiblen Umgangs mit unterschiedlichen Sprachen und Kommunikationsformen. Der Aufbau kommunikativer Kompetenz, von Fragehaltungen, Umgang mit Nichtverstehen, Offenheit zu Nachfragen sowie Sensibilität für unterschiedliche Körpersprachen sind wichtige Kompetenzen in einer globalisierten Weltgesellschaft und helfen bei der Vermeidung von Konflikten. Fremdsprachenkompetenz außerhalb des Englischen wird zu wenig gefordert und trainiert. Entwicklungspolitische Bildung, die für ein Leben in einer global vernetzten Welt qualifizieren möchte, erfordert Methoden, die diesem Anliegen entsprechen. Neben der Wissensvermittlung und dem sinnlichen Erleben anderer Kulturen sollten Arbeitsformen, die sowohl inhaltlich-fachliches Lernen wie auch methodisches, sozial-kommunikatives und affektives Lernen ermöglichen, ein stärkeres Gewicht in der Bildungsarbeit erhalten. Globales Lernen bezieht sich deshalb explizit auf die Vermittlung von Fach-, Methoden- und Sozialkompetenz in Hinblick auf den Umgang mit der Einen Welt.
Handlungskompetenz muss sich also nicht auf größere Projekte in Hinblick auf eine Verbesserung der globalen Situation (etwa durch ein konkretes Projekt zur Verbesserung der Ökobilanz einer Schule oder eine Projektunterstützung in der Entwicklungszusammenarbeit) beziehen. Vielmehr sind Handlungskompetenzen in Hinblick auf soziale Ausdrucksmöglichkeiten, interkulturelle Kompetenzen oder Trainingsmaßnahmen zur Konfliktlösung ebenso sinnvoll - und eventuell nachhaltiger. Sie vermitteln Anschlussmöglichkeiten angesichts einer unübersichtlichen Entwicklung zur Weltgesellschaft und qualifizieren damit für das zukünftige Leben.
Literatur
Dörner, Dietrich: Die Logik des Misslingens, Rowohlt: Hamburg 1989.
Neumann, Dieter/Schöppe, Arno/Treml, Alfred K. (Hg.): Die Natur der Moral. Evolutionäre Ethik und Erziehung, Hirzel: Stuttgart 1999.
Scheunpflug, Annette: Lebenswelten von Kindern in Zeiten zunehmender Globalisierung. In: aej studientexte. Zeitschrift für Konzeption und Geschichte Evangelischer Jugendarbeit. Themenheft Kinder - Kirche - Kirchenkids...? Lebenslagen von Kindern und konzeptionelle Ansätze und Modelle in der Kirche, H. 1, 1997, S. 19 - 29.
Scheunpflug, Annette (2000a): Steinzeitjäger im Cyberspace. Der alte Adam stolpert ins Dritte Jahrtausend. In: Bild der Wissenschaft, H. 1/2000, S. 28 - 32.
Scheunpflug, Annette: Lernen: Mit der Steinzeitausstattung in das Cyberspace? Teil 3 der Serie 'Biowissenschaft und Pädagogik'. In: Pädagogik, H.3/2000, im Druck.
Scheunpflug, Annette/Seitz, Klaus: Die Geschichte der entwicklungsbezogenen Bildungsarbeit. Zur pädagogischen Konstruktion der Dritten Welt, 3 Bände, IKO: Frankfurt/Main 1995
Scheunpflug, Annette/Seitz, Klaus/Treml, Alfred K.: Die ökologische Dimension des Lernbereichs "Dritte Welt". Zwischenergebnisse aus einem Forschungsprojekt zur Geschichte der entwicklungsbezogenen Bildung. In: Becker, Egon (Hg.): Jahrbuch Dritte Welt 1992, IKO: Frankfurt/Main 1993, S. 311 - 330.
Scheunpflug, Annette/Schröck, Nikolaus: Globales Lernen, Brot für die Welt: Stuttgart 1999.
Treml, Alfred K.: Ganzheitlichkeit - affirmative oder kritische Kategorie? Ökumenisches Lernen als ganzheitliches Lernen. In: Orth, Gottfried (Hg.): Dem bewohnten Erdkreis Schalom. Beiträge zu einer Zwischenbilanz ökumenischen Lernens. Comenius-Institut: Münster o.J., S. 233-242.
UNDP [United Nations Development Program]: Globalisierung mit menschlichem Antlitz. Bericht über die menschliche Entwicklung 1999, Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen: Bonn 1999.
Vollmer, Gerhard: Was können wir wissen? In: Deutsches Institut für Fernstudien (Hg.): Funkkolleg Der Mensch. Anthropologie heute. Tübingen 1993, Studieneinheit 19.
Keywords: Bildung für nachhaltige Entwicklung, Entwicklungspädagogik, globales Lernen, Globalisierung, Lernaufgabe