Erkundung

Dietmar von Reeken

Inhalt

Kurzbeschreibung
1. Portrait Erkundung
2. Herkunft und Entwicklung
3. Typische Anwendungsfelder
4. Hinweise zur praktischen Umsetzung
5. Literatur

 

Kurzbeschreibung

Unterricht im Klassenzimmer findet - im Idealfall didaktisch gut strukturiert, methodisch abwechslungsreich und konzentriert - in einem eigenen pädagogischen Raum jenseits der gesellschaftlichen Realität statt. Hier setzen Erkundungen als Methode an: Sie bauen auf das Verlassen des Klassenzimmers und des Schulgebäudes mit didaktischer Absicht und zielen auf die Beschaffung von Informationen an außerschulischen Lernorten mit authentischem Charakter. Der Anspruch ist daher die Überwindung der Trennung von Lern- und Lebenssituation.

1. Portrait Erkundung

Erkundungen - auch "Lerngänge", "Lernen vor Ort" bzw. "an außerschulischen Lernorten" genannt - sind durch zwei Elemente gekennzeichnet: das Verlassen der Schule und Aufsuchen von (als solchen konzipierten oder durch den Unterricht erst entstandenen) Lernorten sowie die entdeckend-forschende Absicht, mit der dies geschieht; durch letztere unterscheidet sich die Erkundung deutlich von der bloßen "Besichtigung".

Der besondere Lernwert von Erkundungen liegt auf unterschiedlichen Ebenen:

  • Erkundungen fördern forschendes Lernen von Schülern; sie verlangen und ermöglichen Neugier, Eigenaktivität, Selbstverantwortung und Selbstorganisation und schulen dadurch Methodenkompetenz. Regelmäßig in den Unterricht integriert bauen sie mittel- und langfristig eine "erkundende Haltung" bei den Schülern auf.
  • Erkundungen fördern durch das gemeinsame Arbeiten vor Ort (meist in arbeitsteilig organisierten Kleingruppen) auch soziale Lernprozesse.
  • Erkundungen machen Kindern und Jugendlichen gesellschaftliche Bereiche (z. B. in der Arbeitswelt) erfahrbar, die ihnen sonst verschlossen blieben.
  • Durch Erkundungen können Kompetenzen von Schülern im Umgang mit "fremden" Personen (Erwachsenen), gesellschaftlich-politischen Institutionen und der Öffentlichkeit geschult und Hemmungen abgebaut werden.
  • In Erkundungen können Erfahrungen erworben werden, die in einer ausschließlich symbolischen Repräsentation von Sachverhalten in Form von Texten, Bilden, Begriffen etc. nicht möglich sind. So können sie z. B. den Lärm und die Gerüche einer Fabrik erleben, was einen authentischeren Eindruck von den Arbeitsbedingungen vermittelt, oder den Umgang von Parlamentariern miteinander in kontroversen Debatten beobachten.
  • Durch die Begegnung mit Experten und Betroffenen werden (Vor-)Urteile und Einstellungen in Frage gestellt und findet ein punktueller Perspektivenwechsel statt; das gleiche gilt bei der Übernahme spezieller Rollen durch die Schüler (Beobachter, Interviewer, Fotograf etc.).
  • Erkundungen sind eine methodische Antwort auf Tendenzen zur stärkeren "Öffnung von Schule" und zu einer "gemeinwesenorientierten Schule".
  • Erkundungen fördern schließlich auch durch die Art der Gewinnung des Wissens die Gedächtnisleistungen; außerdem findet eine stärkere Identifikation mit dem "eigenen", Wissen statt.

Allerdings sind auch hier einige Gesichtspunkte zu beachten:

  • Außerschulische Lernorte sind nicht per se anschaulicher als symbolische Repräsentationen; vor Ort können viele Eindrücke auf die noch ungeübten Schülerinnen und Schüler einstürzen, so dass eine konzentrierte, zielgerichtete Arbeit eher verhindert werden kann. Von zentraler Bedeutung ist daher eine Vorbereitung, die den Schülern hilft, sich vor Ort auf Wesentliches konzentrieren zu können, und eine gewissenhafte Auswahl des Lernortes durch den Lehrer.
  • Außerschulische Lernorte liefern nicht gleichsam automatisch "richtiges" Wissen, repräsentieren nicht "die" Wirklichkeit; vielmehr müssen die konkreten Erfahrungen vor Ort immer konfrontiert werden mit abstraktem, theoretischem Wissen, sowohl in der Vorbereitung als auch in der Nachbereitung einer Erkundung. Dies ist nicht ganz einfach, weil die Motivation der Schüler bei der konkreten Arbeit deutlich höher ist als bei der Interpretation und Bewertung der gewonnenen Erkenntnisse und weil die im Handlungsfeld gewonnenen Informationen häufig wesentlich eindrücklicher sind als medial bzw. über Unterrichtsgespräche vermittelte.
  • Erkundungen dürfen nicht nur Eindrücke und Erlebnisse vermitteln; ihrer Aufarbeitung kommt ein wichtiger Stellenwert im Lernprozess zu.
  • Ein sinnvolles Arbeiten vor Ort erfordert ein hohes Maß an Methodenbewusstsein, das sich sowohl auf die "richtige" Anwendung von Methoden (z. B. Fragetechnik) als auch auf den (selbst)kritischen Umgang mit der eigenen Beobachtungsfähigkeit erstreckt.
  • Eine Erkundung ist meist mit einem relativ hohen zeitlichen und organisatorischen Aufwand verbunden.

2. Herkunft und Entwicklung

Die Bedeutsamkeit unmittelbarer Anschauung für menschliche Lernprozesse wird bereits seit Jahrhunderten von Pädagogen hervorgehoben, wobei dies vor allem für Realienfächer galt. In Anknüpfung an Comenius, Rousseau und Pestalozzi betonten auch große Teile der Reformpädagogik den Stellenwert außerschulischen Lernens. In den Unterrichtsfächern setzte sich die Erkundung als Methode sehr unterschiedlich durch: Während sie im geographischen Unterricht schon lange bewährt ist, im Geschichtsunterricht weitgehend anerkannt (wenn auch wohl nicht häufig praktiziert) und in der ökonomische Bildung in Form der Betriebserkundung fest verankert ist, spielt sie in der politischen Bildung bislang nur eine untergeordnete Rolle (wobei allerdings empirische Untersuchungen hierzu fehlen) (vgl. Becker 1988, 102 f.). Neuere pädagogische und didaktische Entwicklungen, wie Forderungen nach vermehrter Handlungs-, Erfahrungs-, Produktions- und Projektorientierung, haben aber auch die Einbeziehung außerschulischer Lernorte in den Politikunterricht - zumindest theoretisch-konzeptionell - befördert.

3. Typische Anwendungsfelder

Prinzipiell sind alle Orte in erreichbarer Entfernung von der Schule, in denen sich politisch-gesellschaftliches Handeln widerspiegelt und die für die Kinder und Jugendlichen Möglichkeiten zu entdeckenden, forschendem Lernen bereit halten, als Ziele von Erkundungen geeignet. Erkundet werden können - mit einer jeweils themenspezifischen unterrichtlichen Einbindung - z. B. Arbeitsbedingungen in Betrieben, die Wohnbedingungen in einem Asylbewerberheim, die politische Kultur im Stadtrat, die Arbeits- und Produktionsbedingungen von Journalisten bei einer Zeitung oder in einer Rundfunkanstalt, die Freizeiteinrichtungen für Jugendliche, die Werbeinszenierungen in einem Kaufhaus, die Informationsstände von Parteien im Wahlkampf, die Manifestation gesellschaftlichen Geschichtsbewusstseins in einem Denkmal usw. (vgl. etwa für den Politikunterricht die Beispiele in Ackermann 1988, für den Geschichtsunterricht: Staatsinstitut 1999). Die Erkundung als Methode ist mittlerweile auch in den meisten Lehrplänen der Bundesländer verankert (vgl. etwa zur Politischen Bildung http://www.lehrplaene.org).

4. Hinweise zur praktischen Umsetzung

Von zentraler Bedeutung für das Gelingen einer Erkundung sind u.a. folgende Aspekte (vgl. hierzu auch Becker 1988, 119-121):

  • Eine Erkundung muss gut geplant sein. Hierzu gehören ggf. vorherige Absprachen mit der Zieleinrichtung (evtl. auch mit einer "Vorerkundung" durch die Lehrkraft), organisatorische Klärungen, eine inhaltliche Vorbereitung durch die Schüler, Entscheidungen über die zu verwendenden, gegenstandsangemessenen Methoden, eine Aufteilung in Arbeitsgruppen usw. Die Planung einer Erkundung sollte in zunehmendem Maße selbstständiger durch die Schüler erfolgen, wobei sie auch diese Planungskompetenz zunächst systematisch im Unterricht lernen müssen.
  • Zur Durchführung vor Ort ist eine Reihe von methodischen Teilkompetenzen erforderlich, die Schüler ebenfalls erst erwerben müssen: Hierzu gehören das "richtige", gezielte Beobachten, das Führen eines Interviews, das Protokollieren von Erfahrungen und Erkenntnissen, das Dokumentieren von Beobachtungen (Skizze, Foto, Audio- oder Videoaufzeichnung usw.), das Arbeiten in Gruppen usw.
  • Auch die Nachbereitung der Erkundung ist unentbehrlich: Hierzu gehören ein Austausch über die Wahrnehmungen (auch die dort entstandenen Gefühle wie Angst, Respekt, Faszination usw.), eine Diskussion der gewonnenen Ergebnisse, der Rückbezug zu den Ausgangshypothesen, -fragestellungen und theoretischen Kategorien und ggf. eine Präsentation der wichtigsten Ergebnisse gegenüber einer schulinternen (Plakate auf dem Schulflur, Ausstellung im Pausenraum, Filmvorführung usw.) oder außerschulischen Öffentlichkeit (Filmvorführung in Jugendzentrum, Artikel in Lokalzeitung usw.). Auch die Reflexion über das eigene (auch methodische) Vorgehen und die Erfahrungen, die man bei der Durchführung gemacht hat, sollten nicht vernachlässigt werden.

5. Literatur

Ackermann, Paul, Hg. (1988): Politisches Lernen vor Ort. Außerschulische Lernorte im Politikunterricht. Stuttgart.

Becker, Franz Josef E. (1988): Erkundung und Befragung als Methode der politischen Bildung. In: Erfahrungsorientierte Methoden der politischen Bildung, Bonn, 97-131.

Becker, Franz Josef E. (1991): Politisches Lernen durch Realbegegnung. Zur Methode von Erkundung und Befragung. In: Methoden in der politischen Bildung - Handlungsorientierung, Bonn, 174-212

Detjen, Joachim (1999): Erkundung/Sozialstudie/Praktikum. In: Mickel, Wolfgang W. Hg. 1999. Handbuch zur politischen Bildung, Bonn, 397-403.

Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung München Hg. (1999): Geschichte vor Ort. Anregungen für den Unterricht an außerschulischen Lernorten. Handreichung für den Geschichtsunterricht an Gymnasien. Donauwörth.

Weißeno, Georg (2000): Erkundung. In: Kuhn, Hans-Werner; Massing, Peter, Hg. Methoden und Arbeitstechniken (= Lexikon der politischen Bildung, Bd. 3). Schwalbach/Ts.: Wochenschau, 37f.

sowi-online Originalbeitrag
© 2004 Dietmar von Reeken, Bielefeld; © 2004 sowi-online e. V., Bielefeld

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