Expertenhearing zum Arbeitsmarkt der Zukunft

Birgit Weber

Inhalt

1. Subjektive Impressionen eines Projekttages zur Berufsorientierung: ein "wirkliches" und ein "so genanntes" Expertenhearing
2. Podiumsdiskussion oder "Experten"-Hearing
3. Expertenhearing der Zukunftskommissionen zum Arbeitsmarkt der Zukunft
4. Anmerkung
5. Zur Autorin

Materialien:

Mat. 1: Die Ausgangssituation
Mat. 2: Aufgaben und Ablauf
Mat. 3: Zukunftskommission der Friedrich-Ebert-Stiftung
Mat. 4: Bericht an den "Club of Rome"
Mat. 5: Kommission für Zukunftsfragen (Bayern/Sachsen)

1. Subjektive Impressionen eines Projekttages zur Berufsorientierung: ein "wirkliches" und ein "so genanntes" Expertenhearing

Engagierte Pädagogen initiierten einen Tag zur Berufsorientierung für die Jahrgangsstufe 11. Experten von außen wurden geladen und Workshops geplant. Es gab Aktivitäten, an denen die Jugendlichen partizipieren und je nach individuellem Bedarf sich engagieren oder auch lediglich konsumieren konnten.

9:00-10:00

Der Einstieg fand statt durch ein "explosives" Podium zur Zukunft der Arbeit. Ein linker Sozialpädagoge apologierte mit marxistischem Vokabular das Ende der Arbeit und apostrophierte neue Verteilungsmodelle gesellschaftlichen Reichtums. Der Vertreter der Industrie- und Handelskammer huldigte Wachstum und Wettbewerb unterstützt durch Deregulierungsmaßnahmen und Kostensenkungsmodelle. Die anfänglich interessierten und wachen Gesichter der Schülerlnnen veränderten allmählich ihren Ausdruck. Ein lernbedeutsames Thema ging an vielen Schülerlnnen vorbei. Die Diskutanten waren im Schlagabtausch bemüht. Die Werbung für ein Verständnis ihrer Positionen kam nicht zuletzt aufgrund der Sprache bei einem Großteil des Publikums nicht an. Ohne Diskussion ging es in die Arbeitsgruppen und Workshops, deren Aufgabe nicht unbedingt die Aufarbeitung dieser Diskussion war.

10:30-13:15

Einen solchen Workshop leitete ich. Ich war eine der so genannten "Expertinnen" von außen, die mit den Schülerlnnen "irgendeine Art von Rollenspiel zum Thema" durchführen sollte, das - wie sich für die Schüler am Morgen des Tages herausstellte - am Ende des Projekttages öffentlich vor der Jahrgangsstufe aufzuführen war. Welche Entscheidung von Schülerlnnen getroffen wird, die die Wahl zwischen Workshops haben,
- bei denen sie sich einsetzen können, wenn ihnen danach ist, bei denen sie persönlich etwas mitnehmen oder es auch lassen können oder
- bei denen von ihnen in drei Stunden ein Ergebnis erwartet wird, dass sie vor der gesamten Jahrgangsstufe und deren Lehrerschaft aufführen sollen, bei einem Lerngegenstand, von dem sie unter Umständen gar keine Ahnung haben,
liegt auf der Hand. Den drei Teilnehmern, die sich freiwillig für mein "Rollenspiel" gemeldet hatten, wurden zwangsweise noch diejenigen zugeschlagen, die sich überhaupt nicht entscheiden konnten.
Mit anderen Worten: für ein Gelingen einer Arbeitsgruppe, von der Großes erwartet wurde, herrschten die "besten" Voraussetzungen. Während des Wartens wurde dann auch mein Eindruck von der Plenumsdiskussion bestätigt: "Nichts haben wir verstanden, aber auch gar nichts!", hieß es. Einer plötzlichen Eingebung folgend, ermunterte ich sie, in dem jetzt vorzubereitenden Expertenhearing zum ähnlichen Thema das nachzuholen, was die Diskutanten am Morgen versäumt hatten. Sie hätten nun die einmalige Gelegenheit zu zeigen, dass sie besser als die offiziellen Vertreter zum Verständnis über die Problematik bei ihren Mitschülern beitragen könnten. Die nicht als Wink aus der pädagogischen Trickkiste zu verstehende, sondern ernst gemeinte Aufforderung führte tatsächlich dazu, dass die Schülerlnnen sich trotz anfänglichen deutlichen Widerwillens auf das Vorhaben einließen. Nachdem "Ich habe gar keine Ahnung von Politik", "Wir verschwinden aber vorher" und "Ich sag aber nix vor all den Leuten" abgearbeitet war, begann die produktive Vorbereitung auf das Expertenhearing. Der heilsame Druck der öffentlichen Darbietung führte zu einer kritischen und um Verständnis bemühten Auseinandersetzung mit den Texten, die eine als bloßer Selbstzweck verstandene rezeptive Aufnahme kaum bewirkt haben könnte. Ob ich dies und jenes mal erklären könne, waren häufig angemahnte Forderungen, die mir verdeutlichten, wie intensiv sich die Teilnehmer mit der Materie beschäftigten und die mir darüber hinaus eine Partizipation an den unterschiedlichen Gruppenprozessen und eine Kenntnis ihres jeweiligen Standes ermöglichten. Die halbstündige Pause wurde freiwillig auf eine Viertelstunde reduziert.

13:30-14:10

Alle meine Sorgen, die so genannte Jugend von heute arbeite vielleicht doch nur nach extrinsischen Anreizen, wenn sie irgendeine Belohnung in Form von Schein oder Note bekomme, oder sie würde vor Ende des Projekttages doch noch verschwinden, schließlich war ich ja keine langfristige Sanktionsinstanz, waren unnötig. Die Schülerlnnen stellten die erarbeiteten Konzepte dar und diskutierten ohne Talkshow-Allüren. Im Gegensatz zur "wirklichen" Expertendiskussion beteiligte sich auch das Plenum an der Diskussion, wenngleich verständlicherweise nach einem anstrengenden Morgen gegen 14:00 Uhr etwas abgehangen und doch weniger schlapp als am Morgen. Inwiefern allerdings eine Verständnis- und eine Urteilsbildung durch Abstimmung und Begründung bei der Zuhörerschaft eingetreten war, konnte nicht mehr ermittelt werden, da meinen "Experten" von wohlmeinenden "Projekttagbeendern" mit "Mikrofongewalt" diese Chance genommen wurde.

2. Podiumsdiskussion oder "Experten"-Hearing

(1) Podiumsdiskussionen mit Experten, die weder vor- noch nachbereitet werden, sind didaktisch wertlos. Die angebotenen Problemdefinitionen, Ursachenerklärungen und Strategien müssen in ein Modell eingebettet, in ihren Auswirkungen geprüft und reflexiv verglichen werden, soll nicht die rhetorische Kraft des Redners den Ausschlag für die Urteilsbildung geben. Auch muss den Schülerlnnen eine Möglichkeit gegeben werden, sich angesichts der unterschiedlichen Positionen selbst eine begründete Stellungnahme zu erarbeiten. [/S. 22:]

Mat. 1 Die Ausgangssituation
Im Rahmen des Bündnis für Arbeit sind Experten eingeladen zur Verbesserung der Beschäftigungssituation.
4 Mio. Arbeitslose beträgt die offizielle Arbeitslosenquote. Man schätzt zusätzlich zwei Millionen Arbeitslose, die sich, weil sie keine Unterstützung erwarten, nicht arbeitslos melden. Weitere zwei Millionen befinden sich in Übergangsmaßnahmen. Die Beschäftigungslücke ist also erheblich, selbst wenn man davon ausgeht, dass bis zu 20 % dem Arbeitsmarkt nicht wirklich zur Verfügung stehen.
Aufgrund des technischen Fortschritts und auch angesichts des internationalen Wettbewerbs stellt sich für viele die Frage, ob es jemals wieder Vollbeschäftigung geben kann und wie letztlich die sozialen Probleme, die mit Massenarbeitslosigkeit verbunden sein können, gelindert werden.
Zur Darstellung ihrer Positionen zur Verringerung der Beschäftigungslücke und zum Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage sind geladen
- die Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen
- die Autoren des Berichts an den Club of Rome "Wie wir arbeiten werden"
- die Zukunftskommission der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Neben diesen Experten nehmen auch PolitikerInnen und Verbändevertreter teil, die sich ein Bild über die Möglichkeiten zur Beeinflussung des Arbeitsmarktes machen wollen, aber auch selbst Positionen entwickelt haben. Ihnen ist daran gelegen, sich einem begründeten Konzept anzuschließen oder auch ein Strategiemix zu ermitteln.


Mat. 2 Aufgaben und Ablauf

Politiker und Verbandsvertreter

  1. Teilt Euch in Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter sowie in Repräsentanten der unterschiedlichen Parteien auf.
  2. Einigt Euch darauf, welche gesellschaftlichen Ziele durch Maßnahmen zur Linderung der Beschäftigungslücke nicht verletzt werden dürfen und welche Ziele für Euch Vorrang haben.
  3. Entwickelt Strategien zur Realisierung Eurer Ziele.

Expertengruppen

  1. Erarbeitet die Grundpositionen der Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigung.
  2. Die Darstellung sind knapp gehalten. Wenn Ihr die anderen von Eurer Position überzeugen wollt, müsst Ihr nach Beispielen suchen, die Eure Positionen veranschaulichen.
  3. Stellt Eure Konzeption zur Lösung der Arbeitsmarktprobleme unter ein öffentlichkeitsträchtiges Motto, das Eure Forderung besonders charakterisiert.

I. Plenum

  1. Im ersten Teil des Hearings stellen die drei Expertengruppen ihre Konzepte vor.
  2. Die Zuhörer ordnen sich per Abstimmung dem Konzept zu, das ihren Zielen entgegen kommt und ihren Vorstellungen am ehesten entspricht.

Gruppensitzungen

  1. Die Zuhörer entwickeln eine begründete Stellungnahme für ihre Zuordnung.
  2. Die "Experten" stellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit den jeweils anderen Konzepten heraus.

II. Plenum

  1. Die Zuhörer begründen ihre Wahl.
  2. Die Experten stellen eine Liste mit Gemeinsamkeiten und Unterschieden auf.
  3. Abschließend findet eine Abstimmung über die gegenübergestellten Vorschläge statt.

Reflexion

Das auf diese Weise erarbeitete Konzept wird hinsichtlich seiner arbeitsmarktpolitischen Relevanz und seiner Zielkonflikte geprüft.


(2) Podiumsdiskussionen, die bei den Lernenden nicht angekommen sind, können dennoch einen didaktischen Beitrag erfüllen, wenn sie das Interesse wecken, es besser zu machen als die so genannten Experten. Sie können damit einen Beitrag zur Klärung der Sachen und Stärkung der Menschen (Hentig) machen.
(3) Inwiefern ein Expertenhearing zu beschäftigungspolitischen und arbeitsmarktpolitischen Fragen ökonomisches Verständnis bei bisherigen Laien entwickeln oder nur Anreize geben kann, sich mit neuen Ideen auseinander zu setzen und sie in ihren Wirkungszusammenhängen und Kreisläufen nachzuvollziehen, bleibt zu prüfen.
Bei manchen Expertenhearings stellt sich die Frage, wer die wirklichen Experten sind und wie die Kommunikation zwischen Experten und Laien ausgestattet sein sollte.
Es gibt keine Rezepte für didaktisches Handeln in komplexen Situationen. Es bedarf des reflexiven Praktikers mit vielfältigem Handlungsrepertoire, dem die didaktischen Praxisanregungen lediglich als Ideengeber, Hilfen, Anreize zur situationsadäquaten und zielgruppengerechten Abwandlung dienen können.

3. Expertenhearing der Zukunftskommissionen zum Arbeitsmarkt der Zukunft

Im Folgenden werden Materialien für ein Expertenhearing zum Arbeitsmarkt der Zukunft zusammengestellt. Es handelt sich dabei um die drei Positionen, die im Rahmen der Zukunftskommissionen der Freistaaten Bayern und Sachsen, der [/S. 23:]

Mat. 3 Zukunftskommission der Friedrich-Ebert-Stiftung
"Das Modell Deutschland [...] ist durch eine dynamische Ökonomie, ein kooperatives Politiksystem, einen Sozialstaat mit breiter Sicherungswirkung und eine traditionelle geschlechtsspezifische Arbeitskraft gekennzeichnet" (14). "Zu Beginn der 90er Jahre verlor [...] das Modell [...] seine Leistungsfähigkeit [...]." Die außerordentliche Verschärfung des internationalen Wettbewerbs (führte) [...] in der Konjunkturkrise zu Anfang der 90er Jahre zu einem tiefen Einbruch der industriellen Produktion [...]." (16).
"In der bundesdeutschen Standortdebatte werden [...] die Kostengesichtspunkte zu stark betont und die Strukturprobleme zu wenig berücksichtigt." (17f.) "Eine konsequente Kostensenkungsstrategie führt nach Ansicht der Kommission auf einen Entwicklungspfad, der in einer 'sozialen Sackgasse' endet, [...] eine primär auf Wachstum setzende Strategie wegen ihrer unkalkulierbaren Risiken in eine 'ökologische Sackgasse" (20). "Stattdessen ist die Kommission zu der Überzeugung gekommen, dass die gegenwärtigen Schwierigkeiten der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft nur durch Strategien überwunden werden können, die geeignet sind, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, sozialen Zusammenhalt und ökologische Nachhaltigkeit auszubalancieren."
Die Kommission hat "vier 'Projekte' ausgewählt, die exemplarisch zeigen, wie unter der Anforderung der ökonomischen, sozialen und ökologischen Verträglichkeit zukunftsweisende Strategien entwickelt werden können [...]". (21f.)
  • "Verbesserung der Innovationsfähigkeit und Stärkung der Humanressourcen":
"Die deutsche Wirtschaft muss in ihren angestammten Märkten auf ihren vorhandenen Stärken aufbauen und sich mit Spitzentechnologie dynamisch weiterentwickeln. Hinzu kommt die Erschließung neuer Märkte, z.B. in Bereichen der Informationstechnik, Multimedia und Biotechnologie" (26).
Der zweite Ansatzpunkt ist die Transformation des Bildungs- und Ausbildungssystems in Richtung der Entwicklung breiterer Qualifikationsprofile, der Verbindung von allgemeinem und beruflichem Lernen und der Schaffung eines institutionellen Rahmens für die Weiterbildung.
Als dritter Ansatzpunkt gilt nicht der Rückzug des Staates, sondern die Modernisierung staatlicher Dienstleistung (vgl. 28f.).
  • "Verbesserte Beschäftigungsmöglichkeiten für Nicht-Qualifizierte":
"Die Kommission hat sich davon überzeugt, dass die rundum beste Lösung zur Sicherung des Existenzminimums ohne Inkaufnahme beschäftigungsschädlicher Nebenwirkungen die Einführung des [...] 'Bürgergeldes' wäre. Dieses würde [...] eine ganze Reihe [...] Sozialleistungen zusammenfassen und durch eine einzige, auf den Bedarf des ganzen Haushalts bezogene Geldleistung ersetzen. [...] Aus beschäftigungspolitischer Sicht liegt der entscheidende Vorteil [...] in der [...] Art der Anrechnung des eigenen Einkommens" (31), wodurch der Arbeitsanreiz erhalten, Arbeitskosten gesenkt und Einkommen nicht unter dem Existenzminimum gedrückt wird. Als pragmatischere Alternative gilt die Subventionierung der gering entlohnten Beschäftigungsverhältnisse (vgl. 32).
"Wenn die [...] erzielbaren marktgerechten Einkommen unter sozialen Gesichtspunkten unzureichend erscheinen, dann muss eine auf Integration gerichtete Verteilungspolitik diese Einkommen aufbessern, statt die betreffenden Arbeitsplätze zu vernichten." (33)
  • "Wandel der Familie und Beschäftigungskrise als Herausforderungen an eine Politik sozialer Integration":
Die sozialen Sicherungssysteme sollen die Aufnahme der Erwerbsarbeit erleichtern, strukturneutral hinsichtlich Teilzeit- oder Vollzeit, selbständiger oder abhängiger Erwerbsarbeit sein, auf das Individuum bezogen und durch eine kollektive Grundsicherung ergänzt werden. (vgl. 36f.)
  • "Umweltverträgliche Lebens- und Wirtschaftsweise":

Die Kommission hält die "ökologische Steuerreform für einen wichtigen Hebel zur Abkoppelung des Umweltverbrauchs vom wirtschaftlichen Wachstum. Eine Verteuerung der Umweltnutzung in Verbindung mit einer Verbilligung des Einsatzes von Arbeit im Zuge einer aufkommensneutralen Reform des Steuer- und Abgabensystems verspricht [...] die Harmonisierung ökologischer, ökonomischer und sozialer Interessen." (38)
Gekürzte Zusammenstellung aus der Kurzfassung der Zukunftskommission der Friedrich-Ebert-Stiftung 1998 für wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, sozialen Zusammenhalt und ökologische Nachhaltigkeit


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Mat. 4 Bericht an den Club of Rome
"Arbeit, genau genommen jede produktive Tätigkeit, ist der augenfälligste und grundlegendste Ausdruck unserer Persönlichkeit und unserer Freiheit. Wir sind zuallererst das, was wir tun. Daher ist es zwingend notwendig, dass die Menschen im Rahmen von sozialpolitischen Maßnahmen als menschliche Wesen aufgefasst werden, die eine Chance verdient haben, 'sich selbst zu produzieren'. [...]"

"Ein Kernpunkt ist [...] die Neudefinition der Rolle von privaten und öffentlichen Initiativen und Tätigkeiten. [...] Der Staat, auf internationaler, nationaler und lokaler Ebene, könnte auf unterschiedliche Weise dahingehend eingreifen, dass er das Äquivalent einer Grundbeschäftigung anbietet, die rund zwanzig Stunden pro Woche umfasst, was etwa 1000 Stunden jährlich entspricht. Organisiert wäre sie auf vielfältige Weise und in unterschiedlich großen Zeitabschnitten. Das sollte nicht einfach nur als Teilzeitarbeit aufgefasst werden, sondern als Basiseinheit offizieller Arbeit. Diese grundlegende Schicht der Arbeit sollte nach einem garantierten Mindestsatz bezahlt werden, der übereinstimmt mit dem Gedanken eines negativen Einkommenssteuersystems. Die Annahme der Arbeit dieser ersten Schicht ist eine notwendige Voraussetzung für die Auszahlung von staatlichen Leistungen, die nach den individuellen Bedürfnissen als Gehalt verteilt werden, wobei regionale und lokale Unterschiede u.Ä. in Rechnung gestellt werden. Wer aus welchen Gründen auch immer nicht bereit ist, seine Arbeitskraft als Gegenleistung für ein Grundeinkommen, das ihm eine bescheidene Existenz sichern wird, zur Verfügung zu stellen, der wird keinen Anspruch auf die Auszahlung von staatlichen Leistungen haben. Über diese erste Schicht bezahlter Beschäftigung hinaus sollten sämtliche Interventionen von Regierungsseite oder staatlicher Seite untersagt werden, so dass die erste Schicht in der Praxis einerseits ein Minimum an Betätigungsfeldern als soziales Netz bietet, andererseits aber die maximale Entfaltung privater Initiativen garantiert und stimuliert." (233ff.)

"Wir meinen, dass in einer modernen Gesellschaft die Beseitigung der Angst, ohne jede Beschäftigung zu bleiben, als ein Ziel angestrebt werden muss und dass diese die Möglichkeiten für private Initiativen über die erste Schicht der Arbeit hinaus [...] verbessern würde.
Die zweite Schicht monetisierter Arbeit sollte weiterhin im Mittelpunkt der Wirtschaft stehen und es dem Einzelnen gestatten, die erste Schicht gänzlich zu ersetzen [...].

Als solche entspricht die zweite Schicht wirtschaftlicher Tätigkeit sehr stark unserem gegenwärtigen System der Berufslaufbahn, aber auf eine sehr flexible Weise. [...] Sie wird nach und nach das herkömmliche Modell einer mehr oder weniger festgelegten Arbeitswoche von 40 oder 45 Stunden aushöhlen und dabei die Organisation der Arbeit an die Anforderungen der betroffenen Menschen anpassen." (243f.)

"Die Arbeit auf der dritten Ebene ist im Gegensatz zu den vorigen beiden ihrem Wesen nach unbezahlt und freiwillig. Sie ist deshalb insofern eine Ergänzung, als die tätige Person zum Wohlstand der Gesellschaft oder eines Teils der Gesellschaft beiträgt, ohne dass sie irgendeine monetäre Entschädigung dafür enthält. Viele Tätigkeiten, die entweder keinen Marktwert haben oder deren Marktwert sich nicht wirklich schätzen lässt, sind mögliche Tätigkeiten der dritten Schicht der Arbeit." (244f.)
  • Der Staat spielt gegenwärtig in den meisten Industrieländern eine bedeutende Rolle als Einkommenslieferant. Er muss künftig auch mehr Menschen unterstützen, die bereit sind, ein Risiko einzugehen, um einen Beitrag zur dynamischen Entfaltung der Privatinitiative zu leisten. (vgl. 254)
  • Nichtmonetisierte Arbeit muss nicht zuletzt dadurch aufgewertet werden, dass Methoden für die Bewertung und die Quantifizierung des Wohlstandsniveaus entwickelt werden. (vgl. 255)
  • "Sämtliche Ressourcen, die zur Zeit für Arbeitslosen- und Sozialleistungen aufgewendet werden, bilden künftig die finanzielle Basis für die Bereitstellung der ersten Schicht. [...] Die Aufbesserung so umfassender Sektoren [...] wie die Bildung und die Gesundheit sind die bevorzugten Felder" für den Aufbau einer ersten Schicht der Teilzeit." (260f.)

Grundlegende Vorschläge für eine neue Politik aus: Giarini / Liedtke 1998: Wie wir arbeiten werden, Hamburg


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Mat. 5 Kommission für Zukunftsfragen Bayern/Sachsen
"Gründe für die steigende Arbeitslosigkeit sind [...] in fast allen frühindustrialisierten Ländern ein sinkendes Arbeitsvolumen bei steigender Erwerbsbeteiligung. In Westdeutschland hat sich das Arbeitsvolumen, gemessen in effektiv geleisteten Arbeitsstunden pro Kopf der Wohnbevölkerung, von 1975 bis 1995 um reichlich ein Zehntel vermindert. Diese Entwicklung ist zurückzuführen zum einen auf die zügige Ersetzung von Erwerbsarbeit durch Wissen und Kapital (Produktivitätsfortschritt) und zum anderen die voranschreitende internationale Arbeitsteilung (Globalisierung)." (I,2)

"Arbeitslos sind [...] weit überdurchschnittlich nicht oder wenig Qualifizierte, gesundheitlich Beeinträchtigte und ausländische Erwerbspersonen. Dass auch ältere Erwerbspersonen in Deutschland zu dieser Gruppe gehören, ist hingegen die Folge einer bestimmten Arbeitsmarktpolitik. Ohne diese Politik wären - wie internationale Vergleiche zeigen - besonders Jugendliche von Arbeitslosigkeit betroffen." (I,7) "Die hohe Erwerbsbeteiligung von Frauen ist auch ein Grund für die höhere Arbeitslosigkeit im Osten [...]" (I,8).

"Beschäftigungsprobleme erwachsen auch aus unzulänglicher beruflicher und räumlicher Mobilität sowie zeitlicher Flexibilität. Obwohl sich der Arbeitsmarkt ständig verändert, sind viele Erwerbspersonen auf ihren erlernten Beruf fixiert [...]. Gering ist ferner die Neigung zu einfacher oder körperlich sowie zeitlich belastender Erwerbsarbeit." (II,4)

"Existenzgründungen werden unter anderem durch ein hohes Sicherheitsbedürfnis der Erwerbsbevölkerung beeinträchtigt. [...] Nicht zuletzt wirken viele Regulierungen und der Mangel an Risikokapital sowie im internationalen Vergleich hohe unternehmensbezogene Abgaben für Existenzgründungen hemmend." (II,5)

"Zugleich werden in Deutschland [...] Tätigkeiten im niedrig produktiven Bereich von der Erwerbsbevölkerung zu wenig angenommen und andererseits von der Wirtschaft zu wenig angeboten. Für die Arbeitnehmer sind die Löhne - gemessen an öffentlichen Sozialtransfers - häufig zu gering, für die Unternehmer die kaum an der Produktivität orientierten Arbeitskosten zu hoch." (II,7) "In Deutschland stiegen die Lohnstückkosten zeitweise schneller als die Produktivität, wodurch die Beschäftigung beeinträchtigt wurde. Noch bedeutsamer war die Entwicklung der Lohnzusatzkosten." (II,8)
"Um trotz der [...] abnehmenden Bedeutung von Erwerbsarbeit [...] den materiellen und immateriellen Wohlstand breiter Bevölkerungsschichten weiter zu heben und zugleich die Beschäftigungslage zu verbessern, empfiehlt die Kommission eine Strategie wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Erneuerung sowie eine Strategie der Anpassung an Veränderungen, die aus der Bedeutungsminderung von Erwerbsarbeit erwachsen." (III,1) Mit der Erneuerungsstrategie sollen "die unternehmerischen Kräfte auf allen Ebenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Handelns geweckt und zum anderen die Vermögensbildung breitester Bevölkerungsschichten ausgebaut werden" (III,3). Mit der Anpassungsstrategie soll durch eine stärkere Differenzierung und gegebenenfalls Senkung von Arbeitseinkommen dem Preisverfall für Arbeit [...] entsprochen werden. [...] (III,9). Ferner zielt die Anpassungsstrategie auf die Vermehrung einfacher personenbezogener Dienste" durch "eine Veränderung von Sicht- und Verhaltensweisen sowie eine Verminderung der Belastung gerade niedriger Arbeitseinkommen mit öffentlichen Abgaben, besonders mit Sozialbeiträgen." (III,10) "Teil der Anpassungsstrategie ist schließlich eine Verminderung des individuellen Angebots von Erwerbsarbeit. Das ist möglich durch mehr Teilzeitarbeit, geringfügige Beschäftigung sowie die Verkürzung individueller Wochen-, Jahres- und Lebensarbeitszeit. Allerdings ist diese Vorgehensweise nur erfolgreich, wenn durch sie nicht die Arbeitskosten und/oder die Erwerbsbeteiligung steigen." (III,12) Die Strategien sind zu ergänzen "durch die Erschließung nicht-marktgängiger, gemeinwohlorientierter Bürgerarbeit. [...] Die Beteiligung an ihr ist freiwillig und steht allen Erwerbsfähigen offen. Niemand hat jedoch Anspruch auf sie. Anreize, reguläre Erwerbsarbeit auszuüben, dürfen nicht beeinträchtigt werden. Bürgerarbeit wird nicht entlohnt. Doch erhalten diejenigen ein Bürgergeld, die hierauf existenziell angewiesen sind. (III,13)
Gekürzte Zusammenstellung von Aussagen aus den Leitsätzen (I-III,X) der einzelnen Berichte der Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen 1996/7 als Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungslage

Friedrich-Ebert-Stiftung und des Club of Rome vertreten werden. (1) Inhaltlich-didaktisch handelt es sich um eine aktualisierte Fassung des "Konferenzspiels zum Pakt für Arbeit", das auf dem beschriebenen Workshop eingesetzt wurde, durch den dieses Expertenhearing methodisch angeregt wurde. Die Lernenden sollen dabei als "Experten"

  • die Maßnahmen erarbeiten, mit denen der Arbeitsmarkt beeinflusst werden kann,
  • ermitteln, welche Konflikte sich mit anderen gesellschaftlichen Zielen ergeben und
  • Auswirkungen der jeweiligen Strategien antizipieren.

Im Anschluss sollen die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Konzepte in ihren Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt erarbeitet werden und eine begründete Position für ein Konzept oder auch eine Mischform erarbeitet werden.
An dieser Stelle sei auf Darstellung und Vergleich der Positionen verzichtet und auf meinen Beitrag im Forum dieses Heftes verwiesen.

4. Anmerkung

(1) Die Textauszüge aus den umfangreichen Studien wurden dabei so zusammengestellt, dass die Grundgedanken der Studien erhalten bleiben, und dennoch möglichst kompakte Texte entstanden, die vom Umfang und ihren Aussagebereichen her vergleichbar sind.

5. Zur Autorin

Birgit Weber, Dr. phil., Universität-Gesamthochschule Siegen
E-Mail: weber@zfl.uni-siegen.de


Dieser Text ist ursprünglich unter gleichem Titel erschienen in: arbeiten+lernen/Wirtschaft, 9. Jg. (1999) Nr. 36, S. 21-25.
© 1999 Verlag Erhard Friedrich, Seelze; © 2001 Birgit Weber, Siegen
Um den Text zitierfähig zu machen, sind die Seitenwechsel des Originals in eckigen Klammern angegeben, z. B. [/S. 53:].
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