Gedenkstättenarbeit

Arbeitsmaterial

"Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht. Sie läßt sich ja nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren."

Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker, 8. Mai 1985.


Nichts ist geblieben

"Hier sind sie gegangen, im langsamen Zug, kommend aus allen Teilen Europas, dies ist der Horizont, den sie noch sahen, dies sind die Pappeln, dies die Wachtürme, mit den Sonnenreflexen im Fensterglas, dies ist die Tür, durch die sie gingen, in die Räume, die in grelles Licht getaucht waren und in denen es keine Duschen gab, sondern nur diese viereckigen Säulen aus Blech, dies sind die Grundmauern, zwischen denen sie verendeten in der plötzlichen Dunkelheit, im Gas, das aus den Löchern strömte.

Und diese Worte, diese Erkenntnisse sagen nichts, erklären nichts. Nur Steinhaufen bleiben, vom Gras überwuchert. Asche bleibt in der Erde, von denen, die für nichts gestorben sind, die herausgerissen wurden aus ihren Wohnungen, ihren Läden, ihren Werkstätten, weg von ihren Kindern, ihren Frauen, Männern, Geliebten, weg von allem Alltäglichen, und hineingeworfen wurden in das Unverständliche. Nichts ist übriggeblieben als die totale Sinnlosigkeit ihres Todes."

Peter Weis: Meine Ortschaft. In: Ders.: Rapporte. Frankfurt 1968.


Was sind Gedenkstätten?

Gedenkstätten sind Orte, Einrichtungen oder Institutionen, in denen Spuren der NS-Verbrechen zugänglich sind und gesichert werden. Häufig werden diese durch zusätzliche Informationen in Form von Ausstellungen und Präsentationen in den historischen Zusammenhang gestellt und interpretiert.
Gedenkstätten sind i. d. R. unmittelbar am Ort des Geschehens, an das sie erinnern, untergebracht. Sie befinden sich auf dem Gelände ehemaliger Konzentrationslager, in ehemaligen Gefängnissen und Folterstätten nationalsozialistischer Gewaltorgane wie Gestapo, SA und SS sowie an anderen ehemaligen Verfolgungs- und Terrorstätten. Neben den "großen" betreuten Gedenkstätten im engeren Sinne gibt es unzählige "kleinere" mit vorwiegend lokaler und regionaler Bedeutung in Städten, Gemeinden und auf Friedhöfen in Form von Mahnmalen, Gedenksteinen und Gedenktafeln bis hin zu kleinsten Gedenkzeichen. Gedenksteine und Mahnmale auf Friedhöfen sind oft die einzigen Spuren ehemaliger Konzentrationslager, KZ-Außenlager, Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter und Kriegsgefangenenlager in einem Ort.


Möglichkeiten der Bildungsarbeit

Der lokale Ansatz der Gedenkstättenarbeit eröffnet viele besondere Möglichkeiten der Bildungsarbeit. Durch die konkrete Anschaulichkeit des Ortes können Geschehnisse nicht (oder zumindest schwerer) verleugnet werden. Die Intensität des Erlebens vor Ort kann zu einem intensiven Sich-Einlassen auf die Geschichte führen. Die exemplarische Beschäftigung ermöglicht es, einzelne Schicksale zu verfolgen und in der Masse der Opfer die einzelnen Menschen zu erkennen.
Ausgangspunkt der Beschäftigung ist dabei immer das konkrete Geschehen vor Ort und das Bemühen, dieses in all seinen Dimensionen zu verstehen bzw. verständlich zu machen (u. a. die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Häftlinge, die Reaktionen und das Verhalten der Wachsoldaten, Kommandanten usw.).
Es geht bei Gedenkstättenbesuchen zwar immer auch um Information (Was war? Wie kam es dazu?), aber darüberhinaus spielen emotionale Komponenten wie Betroffenheit, Trauer und Anteilnahme eine ebenso wichtige Rolle. Doch diese emotionalen Komponenten kann (und sollte) man weder provozieren noch "verordnen", man kann sie nur zulassen und einen Rahmen schaffen, in dem sie möglich werden.


Problembereiche

Mit einem Gedenkstättenbesuch darf "das Gedenken", die Erinnerungsarbeit und die Auseinandersetzung nicht abgeschlossen sein. Im Gegenteil: ein solcher Besuch ist der Anfang einer Beschäftigung, die weitergehen muß.

Wissenschaftler und Pädagogen betonten, daß der Besuch in einer Gedenkstätte für Verbrechen des Nationalsozialismus allein bei Jugendlichen noch nicht zu Lernprozessen führt, die sich auf das Verhalten auswirken. Wegen des zunehmenden geschichtlichen Abstandes ist mit einem "moralischen Impuls" nur dann zu rechnen, wenn der Besuch gut vorbereitet und anschließend aufgearbeitet wird. Gedenkstätten-Besuche vom Charakter eines bloßen Wandertags sind weitgehend wirkungslos.
"Jugendliche von heute können die Distanz zu dem Geschehen der NS-Zeit nur überwinden, wenn sie spüren, daß sie durch die Geschichte der Gedenkstätten, durch die Geschichte der Verdrängungen, die Geschichte der Schlußstrichdiskussionen in ihrem eigenen gegenwärtigen politischen Bewußtsein berührt werden."

Eike Hennig. In: Das Parlament, 17. 7. 1992.

Gedenkstättenbesuche

Eine vom Institut "psydata" (Frankfurt/M.) durchgeführte Studie über die "Auswirkungen von Gedenkstättenbesuchen auf Schülerinnen und Schüler" kommt u. a. zu folgenden Ergebnissen:
"Die heutige Schülergeneration hatte kaum Gelegenheit, mit den Großeltern über deren Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus zu sprechen. Die Kenntnisse der Schüler verkürzen sich häufig auf wenige Chiffren und Begriffe. Ihre Erwartungen an den Besuch in einer Gedenkstätte werden stark von den Medien geprägt, und die Motivation zum Besuch entsteht häufig durch den ,Reiz des Grauens'. Die Wünsche der Schüler richten sich vor allem auf authentische Darstellungen und konkrete Aussagen, die der eigenen Meinungsbildung dienen könnten. Die Rezeption wird aber dadurch beeinträchtigt, daß viele Schülergruppen mit den Gedenkstätten völlig unvorbereitet konfrontiert werden, manchmal als einem Besichtigungsort unter vielen anderen während einer Klassenfahrt."

Herbert Rollwage: Gedenkstättenarbeit mit Jugendlichen. In: Das Parlament 17. 7. 1992.


Literaturhinweise

Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine Dokumentation. 2 Bde. Bonn 1996 f.
Ehmann, Annegret u.a. (Hrsg.): Praxis der Gedenkstättenpädagogik. Erfahrungen und Perspektiven. Opladen 1995.
Fischer, Cornelia / Anton Huber: Auswirkungen der Besuche von Gedenkstätten auf Schülerinnen und Schüler. Breitenau - Hadamar - Buchenwald. Bericht über 40 Explorationen in Hessen und Thüringen. Wiesbaden / Erfurt 1992.
Stiftung Lesen (Hrsg.): Verfolgung und Vernichtung unter nationalsozialistischer Herrschaft. Bonn 1997.
Wittmeier, Manfred: Internationale Jugendbegegnungsstätte Auschwitz. Zur Pädagogik der Erinnerung in der politischen Bildung. Frankfurt/M. 1997.

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