Oral History, Spurensuche vor Ort

Arbeitsmaterial

Lebensgeschichtlich angelegte Interviews mit Zeitzeugen über deren lokal- und alltagsgeschichtliche Erfahrungen gelten als die bedeutendste Methode der Geschichtsforschung von unten.

Die Art der geschichtlichen Überlieferung, die die Lebensgeschichte der Beteiligten mit einschließt, wird aufgrund der aus den USA stammenden Tradition auch "oral history" genannt. Eine zentrale Absicht der oral history ist es, Spuren des Alltags zu sichern, d. h. Aussagen über die Alltagsgeschichte zu gewinnen. Darüber hinaus interessieren sich die Alltagsforscherinnen und -forscher auch für die spezifischen lebensgeschichtlichen Erfahrungen sowie den heutigen Umgang ihrer Interviewpartnerinnen und -partner mit ihrer Vergangenheit. Oral history hat nicht nur neue Quellen für die Alltags-, Sozial- und Kulturgeschichte erschlossen, sondern auch das Forschungsinstrumentarium verschiedener Disziplinen erweitert.


Vorgehensweise

  • Klärung der Zielsetzung und der Vorgehensweise.
  • Auswertung bereits vorhandener Quellen und Berichte über das geplante Projektthema.
  • Zusammentragen von Informationen über das lokale Umfeld, Sammlung von je spezifischen Merkmalen des dortigen Milieus.
  • Zusammenstellung der Leitfragen des Interviews. Diese sollten offen und neutral formuliert werden, Suggestivfragen sollten vermieden werden. Der Fragenkatalog dient als lockerer "roter Faden", mit dessen Hilfe Erinnerungen angeregt werden sollen.
  • Suche und Auswahl der Interviewpartnerinnen und -partner, u. a. durch die Mithilfe von Vertrauenspersonen aus dem Umfeld der Zeitzeugen, wie z. B. Nachbarn, Mitglieder von Seniorengruppen oder Vereinen, Parteien und Gewerkschaften zu gewinnen. Ein Bericht oder Aufruf in einer örtlichen Tageszeitung kann ebenfalls hilfreich sein.
  • Vereinbarung eines Gesprächtermins.
  • Beim Interview selbst sollten die gegenseitigen Erwartungen ebenso geklärt werden, wie die Frage, ob die Interviewpartnerin bzw. der -partner mit einer Tonbandaufzeichnung einverstanden ist. Die Anonymität des Interviews muß zugesichert und gewährleistet sein. Hilfreich ist es, wenn es darüberhinaus autorisiert (d. h. von der interviewten Person nochmals durchgesehen und gebilligt) wird. Persönliche Aspekte können im Gesprächsverlauf erst angesprochen werden, wenn eine vertrauensvolle Gesprächssituation entstanden ist.
  • Da Erinnerungsarbeit für die Zeitzeugen sehr anstrengend ist, sollte das Gespräch nicht länger als zwei Stunden dauern. Eventuell kann das Interview zu einem späteren Zeitpunkt fortgesetzt werden.
  • Zur inhaltlichen Auswertung der Interviewpassagen ist der Vergleich mit anderen Interviews sowie weiterer ergänzender Quellen, wie Fotos, Tagebücher, Archivalien usw. hilfreich. Eventuell können auch die Zeitzeugen selbst zur Auswertung der Interviews gewonnen werden. Denn sie sind nicht nur die Expertinnen und Experten ihres Alltags, sondern werden durch die Interviews oft angeregt, sich weiter mit ihren biographischen Erfahrungen und Erlebnissen zu beschäftigen.
  • Die persönlichen Daten und die Interviewdaten sollten auf einer Karteikarte festgehalten werden (Siehe nächste Seite).

Vgl. Martin Ulmer: Historische Spurensuche. In: Günther Gugel / Uli Jäger: Handbuch Kommunale Friedensarbeit. Tübingen 1988, S. 172-179.
L. Niethammer (Hrsg.): Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der oral history. Frankfurt/M. 1980.


Probleme der oral history

  • Zwischen Interviewerinnen bzw. Interviewern und den Zeitzeugen können sich aufgrund unterschiedlicher sozialer Herkunft, Generationen oder auch Sprachformen (Dialekt, Hochsprache) Verständigungsschwierigkeiten ergeben.
  • Mitunter tauchen Bemühungen der Interviewten auf, ihre Erzählungen den Erwartungen der Gesprächspartnerinnen und -partner anzupassen.
  • Zu konfrontative Fragen können u. U. zu ungewollten oder unangenehmen Erinnerungen führen und so ein Stocken des Gesprächs oder Ausweichen zur Folge haben.
  • In der Regel sind die Erzählungen stark von aktuellen Meinungen, Anekdoten aus der Lebensgeschichte sowie von psychologischen Faktoren, wie z. B. der Verdrängung belastender Erlebnisse eingefärbt. Dies muß bei der Interpretation berücksichtigt werden.
  • Nicht nur die Interviewten, sondern auch die Interviewerinnen und Interviewer konstruieren sich ihr Geschichtsbild. Beide schaffen bei der Rekonstruktion von Geschichte eine jeweils neue Deutung (und Bedeutung) der Vergangenheit, die wesentlich von den jeweiligen Lebenserfahrungen, von der Lebensgeschichte und den Zukunftserwartungen beeinflußt wird.

Vorteile von oral history

  • Arbeit in einem überschaubaren Rahmen.
  • Die Interessen der Teilnehmerinnen bzw. der Teilnehmer bestimmen den Gegenstand.
  • Laien versuchen einen (kleinen) Geschichtsausschnitt zu erforschen und erwerben sich dabei eigene Kompetenzen.
  • Das eigene Entdecken und Erforschen steht im Mittelpunkt.
  • Vielfältige Erkundungsmethoden können zum Einsatz kommen: Interviews, Befragungen, Sammeln von Bildern, Auswertung der Recherchen.
  • Die Ergebnisse können für weitere Arbeiten und Präsentationen verwendet werden.

Brief eines Schülers

"Es war sehr wichtig für mich und alle anderen zu hören, wie es damals war. Man hört, sieht und liest zwar viel in den Medien und Büchern über diese Zeit, dies wirkt aber auf einen irgendwie anonym, obwohl ich zum Teil sehr grausame Bilder gesehen habe. Bei Ihnen konnte man sich richtig in die Lage damals hineinversetzen, und Sie konnten auch, meiner Meinung nach, sehr offen über die Geschehnisse von damals berichten. Es war außerdem gut, wie Sie uns über die Parallelen zwischen damals und heute aufgeklärt haben ... Was Sie mit Ihren Eltern und Geschwistern durchmachen mußten, tut mir sehr leid, denn Sie hatten eine sehr schwere Zeit im KZ, und daß Ihre Familie Sie dann noch verstoßen hat, geht mir nicht in den Kopf."

Brief eines Schülers an Lieselotte Thumser-Weil nach einem Gespräch mit der Schulklasse. In: Studienkreis: Deutscher Widerstand. Informationen 37/38, Nov. 1993, S. 18.

Oral history in der eigenen Familie?

In der eigenen Familie oral history zu betreiben, also die Eltern oder Großeltern, Tanten und Onkels zu befragen, beinhaltet eine eigene Dynamik. Die ansonsten sehr zurückhaltende Fragetechnik kann hier z. B. an manchen Punkten auch zugunsten einer konfrontativen Vorgehensweise aufgegeben werden.

Ein Beispiel aus einem Gespräch:

- "Ein Nazi war ich nie!
- Ich glaube, da machst Du Dir was vor!

- Wieso, ich werd' doch wissen, was ich damals gedacht habe.
- Darum geht es nicht allein. Du warst ein hoher Offizier in der Wehrmacht: Major. Du hast ein ganzes Bataillon kommandiert, auf Deinen Befehl hin sind russische Menschen getötet worden - Russen, die Dir nichts getan hatten.

- Das kannst Du nicht alles in einen Topf werfen! Ich war in der Wehrmacht, um meinem Vaterland zu dienen. Oder wenn Du es weniger feierlich haben willst: da war der Einberufungsbefehl, dem man sich nicht widersetzen konnte. Und ob ich nun selbst schieße oder ob ich ein Bataillon führe, das bleibt sich letztlich gleich. Ich selbst habe nie einen Russen erschossen.
- Aber Ihr wart Angreifer; das mußte Dir doch klar sein!

- Was hatte ich davon, das zu wissen. Im Krieg geht das Gefühl für Angriff und Verteidigung ohnehin verloren. Da wird alles absurd. Ich glaube übrigens auch nicht an Heldentum; Selbstbestätigung brauchte ich jedenfalls nicht.
- Aber es war die Wehrmacht, die einen verbrecherischen Angriffskrieg geführt hat!

- Aber dafür bin nicht ich verantwortlich. Wir hatten unsere Pflicht zu tun, wie es von uns verlangt wurde, auch wenn es unangenehm war. Pflichten kann man sich nicht aussuchen. Wir haben uns für Deutschland eingesetzt - und wir haben nicht verhindern können, daß am Ende andere über uns das Sagen hatten.
- Ihr hättet desertieren sollen!

Genau das sagte die Feindpropaganda, so stand es auf russischen Flugblättern!"

Der Kultusminister Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Unterrichtsmaterial. Wir diskutieren - Rechtsextremismus. Düsseldorf 1990.

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