SchülerInnen als Wahlforscher - Ein gelungenes Beispiel für handlungsorientierten sozialwissenschaftlichen Unterricht

Christian Hülshörster, Christina Jansen, Dirk John

Inhalt

1. Krise des traditionellen Unterrichts im Allgemeinen - Krise des Politikunterrichts im Besonderen
2. Sinkende Wahlbeteiligung von Jugendlichen als Krisensymptom im Verhältnis von Jugend und institutionalisierter Politik
3. "Handlungsorientierung" im Politikunterricht als mögliche Antwort auf die Krise von traditionellem Unterricht und die Wandlung der politischen Partizipation
a) Handlungsprodukt
b) Schüleraktivität
c) Ganzheitlichkeit
d) Öffnung von Schule
4. Aufbau und Verlauf der Unterrichtsreihe "Wahlanalyse und Wahlprognose"
5. Ergebnisse des Projektes
a) Broschüre
b) Resonanz bei den Lehrerlnnen
c) Resonanz bei den Schülerlnnen
Anmerkungen

Abbildungen

Abb. 1: Planungsschema [S. 82]
Übersicht: Chronologie des Kooperationsprojektes "Demokratie lernen vor Ort" [S. 84]
Abb. 2: Politikinteresse [S. 88]
Abb. 3: Parteiverdrossenheit [S. 88]
Abb. 4: Beurteilung der Wahlverweigerung [S. 89]

 

In der Zeit von August bis Oktober 1994 nahmen in Münster 14 LehrerInnen und 380 Schülerlnnen (Sek. I und Sek. II) aus unterschiedlichen Schulformen an einem Kooperationsprojekt der Universität Münster, der Stadt Münster und der Münsterschen Zeitung teil. Thema und Inhalt dieses Projektes war die Erstellung einer Wahlprognose für den Wahlkreis Münster zur Bundestags- und Kommunalwahl 1994, unter Berücksichtigung der Vermittlung grundlegenden politischen Wissens und methodischer Kompetenzen. Der folgende Aufsatz skizziert pädagogische und gesellschaftliche Voraussetzungen, kennzeichnet die Grundlagen eines handlungsorientierten Unterrichtsansatzes und gewährt einen Einblick in die Durchführung und Auswertung des in Münster durchgeführten Projektes.

1. Krise des traditionellen Unterrichts im Allgemeinen - Krise des Politikunterrichts im Besonderen

Es gehört zu den Grundweisheiten der Unterrichts- und Didaktikforschung, dass der "traditionelle" Unterricht mit der üblichen Lehrerzentriertheit der Unterrichtsplanung und -durchführung, einer überwiegend sprachlich vermittelten, sachlogisch strukturierten Gestaltung der Inhalte und einer weit gehenden Abtrennung des Unterrichtsgeschehens von der die Schule umgebenden Gesellschaft nur noch schwer in der Lage ist, auf die Herausforderungen zu antworten, die an schulische Erziehung auf dem Weg ins nächste Jahrtausend gestellt werden. Letztlich haben sich die gesellschaftlichen Lebensbedingungen der SchülerInnen seit dem Ende des 2. Weltkriegs derart rapide verändert, dass die schon seit dem Mittelalter beklagte "Verkopfung" der Lateinschule heute noch stärker als jemals zuvor dem Ziel einer "befreiten und befreienden Schule für heutige Menschen-Kinder" im Wege steht, wie z.B. von Hentig mit einem leicht resignativen Unterton feststellt: In erster Linie sei die Schule noch immer "Bewahranstalt oder Treibhaus oder Schonraum oder cooling-out institution oder Sortieranstalt oder Nachwuchsproduzent oder Sozialstation oder alles auf einmal". (1) Zentral erscheint uns vor allem eine Einsicht von Hentigs, die auf den enormen Zuwachs an schulisch vermittelten Kenntnissen abzielt, dem aber auf der anderen Seite ein enormer Zuwachs an Orientierungslosigkeit, Erfahrungsarmut und Entfremdung vom Gemeinwesen korrespondiert. Lernen in der "Risiko-Gesellschaft" (Beck) ist vor allem durch folgende Aspekte gekennzeichnet, die nicht folgenlos für die Gestaltung von Unterricht bleiben können: [/S.76:]

  • Die "Verwissenschaftlichung" von Welt und Schule trägt dazu bei, dass immer mehr Menschen über immer kleinere Bereiche immer mehr wissen. Zudem wird dieses Wissen immer formaler und abstrakter. Der Blick für das Ganze geht verloren, da Informations- und Orientierungswissen auseinander laufen, weil sämtliche Fächer spezialisiert sind und die notwendige Koordinierung weitgehend dem Zufall überlassen bleibt.
  • Vor dem Hintergrund einer zunehmenden "Individualisierung von Jugend" (2) werden Lebens- und Berufsperspektiven für den Einzelnen zunehmend unübersichtlich: Nicht mehr länger von traditionellen Bindungen "fremdbestimmt", müssen sich die Individuen selbst zum Zentrum der eigenen Lebensplanung und Identitätsfindung machen. Die problematische Ambivalenz des Individualisierungsprozesses wird dadurch deutlich, dass der Herauslösung der Jugendlichen aus traditionellen Bindungen eine desto größere Konfrontation mit den Zwängen anonymer gesellschaftlicher Institutionen (z.B. Arbeitsmarkt, Schule) entspricht, die der Jugendliche nicht selber beeinflussen kann und denen er als Einzelner gegenübersteht. Da die von den Jugendlichen geforderte "Ambivalenztoleranz" manche Jugendliche überfordert, kann es u.U. zur Herausbildung rechtsextremer Orientierungsmuster kornmen. (3)
  • Deutlich ist auch die reduzierte Fähigkeit der Jugendlichen, zwischen Wirklichkeit und Fiktion zu unterscheiden, was auch durch den unkritischen Gebrauch neuer Medien bedingt ist. (4)

Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Informations- und Orientierungskrise müssen sich bestimmte Fächer, die über das allgemeine "Langeweile-Syndrom" (5) hinaus noch mit anderen, bildungspolitischen Schwierigkeiten (Lehrermangel, fachfremd erteilter Unterricht) zu kämpfen haben, ganz besonders schwer tun, die Schülerlnnen für das Unterrichtsgeschehen zu begeistern. Diese Voraussetzungen treffen nun in ganz besonderem Maße auf den Politik-Unterricht zu:

  • Insgesamt ist das Fach aus Schülersicht wenig profiliert und nimmt in Beliebtheitsskalen nach unseren Untersuchungen einen eher hinteren Rang ein. Vielen Schülern gilt Politik/Gemeinschaftskunde gar als "Laberfach".
  • Von seiten der Schuladministration lässt sich seit geraumer Zeit eine Mediatisierung des Faches zu Gunsten der "harten" Fächer beobachten.
  • Vor dem Hintergrund einer allgemeinen gesellschaftlichen Politik-Unlust oder gar "Politikverdrossenheit" lassen sich die Inhalte des Schulfaches Politik nur unter erschwerten Bedingungen vermitteln, weil die behandelten Gegenstände im Vorverständnis der SchülerInnen eher als "unwichtig" oder zumindest "uninteressant" gelten. "Politik" wird in ihrer Auffassung von "denen da oben" gemacht: was der Bundeskanzler sagt, welche Parteien das politische Geschehen dominieren, welche Gesetze verabschiedet werden. Diesem kümmerlichen Politikverständnis muss der Politikunterricht Rechnung tragen. [/S.77:]

2. Sinkende Wahlbeteiligung von Jugendlichen als Krisensymptom im Verhältnis von Jugend und institutionalisierter Politik

Auch ohne die oft von der Idealisierung der eigenen politischen Sozialisation begleiteten Klagen von Angehörigen der älteren Generation über "die" politisch so apathische Jugend zu übernehmen, lässt es sich nicht leugnen, dass das Verhältnis der Jugendlichen zu jeder Form institutionalisierter Politik und besonders zu den Parteien in eine tiefe Krise geraten ist. Besorgnis erregender Indikator für das sinkende Interesse Jugendlicher an Formen der institutionalisierten Politik ist vor allem die deutlich sinkende Wahlbeteiligung bei parlamentarischen Wahlen: Stimmt man der Auffassung Rudolf Wildenmanns zu, dass der Wahlakt nach wie vor als "einer der verlässlichsten Indikatoren für politische Ereignisse" anzusehen ist "und sich in diesem Akt vieles, auch ontogenetisch Verlässliches, über den Menschen sagen lässt" (6), so muss der Umstand einer bei der Bundestagswahl 1990 um mehr als 12% unter dem allgemeinen Bevölkerungsdurchschnitt liegenden Wahlbeteiligung in der Gruppe der 18-25-jährigen Jugendlichen zu denken geben. (7)

Insgesamt wird man die Haltung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen zum Problem der Beteiligung an politischen Wahlen als Speerspitze der in der Bundesrepublik grassierenden Verdrossenheit gegenüber den etablierten Formen der offiziellen Politik begreifen können, wobei junge Menschen im Vergleich zu älteren Bevölkerungskreisen eine geringere Verwurzelung in sozio-kulturellen Milieus aufweisen und infolge ihrer noch unabgeschlossenen Sozialisation (die infolge des späteren Eintritts in das Berufsleben zunehmend länger dauert) entsprechend stärker mit sich selbst und der Gestaltung der eigenen Zukunft beschäftigt sind.

Hier soll nicht der Versuch unternommen werden, diese Krise soziologisch oder sozialpsychologisch zu erklären; interessant erscheint uns ein anderer Aspekt, der im Zusammenhang mit der relativ undifferenzierten Klage über jugendliche Politikverdrossenheit oft genug unter den Tisch fällt: Der sinkenden Wahlbeteiligung bzw. der reduzierten Bereitschaft, sich in gesellschaftlichen Großverbänden wie Parteien, Gewerkschaften etc. zu engagieren, korrespondiert auf der anderen Seite eine gestiegene Bereitschaft, sich konkret "vor Ort" in kleinen Gruppen für die Lösung anstehender (Einzel-) Probleme einzusetzen. Vor allem Jugendliche fühlen sich offenbar durch Aktionsformen wie Bürgerinitiativen angesprochen, weil sie hier in einem überschaubaren Rahmen an der Lösung eines konkreten, sie in ihren Lebensbezügen betreffenden Problems verantwortlich mitarbeiten können, ohne sich etwa in die weitgehend anonymen Strukturen einer Partei eingliedern zu müssen, in der fast alle wichtigen Entscheidungen dem Einzelnen von oben vorgegeben werden. Bürklin formuliert das Ergebnis dieser "partizipatorischen Revolution" (Max Kaase) folgendermaßen: "Das [/S.78:] Ergebnis [...] ist der individualisierte Mensch, der sich von traditionellen Großorganisationen jeder Art abwendet [...]. Er setzt stattdessen - rationalerweise - auf die Erhöhung bzw. die Maximierung seiner Beteiligung in kleinen dezentralen Einheiten." (8)

3. "Handlungsorientierung" im Politikunterricht als mögliche Antwort auf die Krise von traditionellem Unterricht und die Wandlung der politischen Partizipation

Obwohl der Schule generell nicht die Funktion zukommen kann, immer die Rolle der "Feuerwehr" zu spielen, um einen gesellschaftlichen Brand zu löschen (in diesem Fall die sinkende Wahlbeteiligung), so ist sie andererseits auch nicht von einer gewissen Mitverantwortung freizusprechen (9). Wenn es zu den zentralen Anliegen der Schule und vor allem der politischen Bildung in der Schule gehört, den Schülerlnnen deutlich zu machen, dass nur der politisch gebildet ist, "wer erkannt hat, dass jedes politische Urteil auf Werterfahrungen und Wertüberzeugungen beruht, und wer in Kenntnis einer politischen ldeenlehre als konsensierender Deutung der politischen Grundkräfte fähig ist, sein eigenes politisches Urteil auf normative Grundlagen zurückzubeziehen, nachdem er die ihm zugänglichen Informationen benutzt und gewogen hat" (10), ist an die Strukturen des Unterrichts die Forderung zu stellen, diesen Prozess aktiv zu unterstützen. Ein Politik- oder Gemeinschaftskundeunterricht, der zur "vordergründigen und eher belanglosen Institutionenkunde" (11) degeneriert ist, steht dem oben skizzierten Auftrag der Schule dabei eher im Wege.

Gerade im Hinblick auf die Behandlung des Themas "Politische Wahlen" im Unterricht erweist sich unserer Auffassung nach die traditionelle Festlegung des Schülers auf die Rolle des reinen "Rezipienten" staatsrechtlichen und institutionenkundlichen Wissens als kontraproduktiv. Hartmut von Hentig hat mit Recht darauf hingewiesen, dass ein politischer Unterricht, der mit abstrakten Ordnungen und der Kenntnis von Systemen beginnt, die politische Welt verfälscht, die er erklären will. Notwendig sei, so von Hentig, der Ausgang von den Aporien oder Verlegenheiten der Jugendlichen, die immer schon "politisch" sind: Berufswahl, eigener und fremder Reichtum, Sex, Gemeinschaft, Wehrdienst, Autorität (12). Gleiches gilt für die Frage der Wahlentscheidung des jugendlichen Wählers: Im Mittelpunkt des Unterrichtsgeschehens sollte nicht die Frage stehen, was das Bundeswahlgesetz über die Durchführung von Bundestagswahlen vorschreibt, sondern vielmehr das Problem der verantwortlichen Wahlentscheidung.

Insofern, als der "Wahlakt" im Idealfall als letzter Schritt einer Abfolge von a) systematischer Reflexion eigener Wert- und Normvorstellungen, b) analysierender Auseinandersetzung mit politischen Programmen, Parteien und Interessen und c) darauf aufbauendem Urteil zu betrachten ist, muss diese Einheit von Reflexion, Analyse, Urteil und daraus resultierender Handlung auch von Schülerlnnen im Unterricht [/S.79:] als Einheit begriffen werden können, was unserer Auffassung nach am besten in einem handlungsorientierten didaktischen Ansatz geschehen kann, der im Folgenden näher erläutert werden soll (13).

"Handlungsorientierung" als Forderung an die (Politik-) Didaktik ist in der pädagogischen Forschung in den letzten Jahren durchaus unterschiedlich definiert worden. Wir wollen in Anlehnung an Hilbert Meyer hier unter handlungsorientiertem Unterricht "einen ganzheitlichen und schüleraktiven Unterricht" verstehen, "in dem die zwischen dem Lehrer/der Lehrerin und den Schüler/Innen vereinbarten Handlungsprodukte die Gestaltung des Unterrichtsprozesses leiten, sodass Kopf und Handarbeit in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander gebracht werden können." (14)

a) Handlungsprodukt

Wenn oben im Zusammenhang mit dem Schlagwort der "partizipatorischen Revolution" festgestellt wurde, dass Schülerlnnen sich vor allem in kleinen und überschaubaren Politikbereichen engagieren, resultiert daraus die Forderung an den Politikunterricht, solche "Erfahrungsräume" unterrichtlich vorzubereiten. Hier bietet sich für das Thema "Politische Wahlen" vor allem der recht überschaubare Wahlkampf auf lokaler Ebene an. Tragender Bestandteil des von uns erarbeiteten Unterrichtskonzeptes ist deshalb die Idee, den SchülerInnen die Möglichkeit zu eröffnen, als "Wahlforscher" in ihrem lokalen Wahlkreis tätig zu werden und eine Prognose für anstehende Wahlen zu erarbeiten. Um der oft beschworenen Gefahr entgegenzuwirken, dass handlungsorientierter Unterricht in "blinden Aktionismus" ausufert, ist die Vermittlung auch eher "trockenen" Hintergrundwissens unabdingbar, was allerdings vor dem Hintergrund des übergeordneten Handlungsproduktes "Wahlprognose" wesentlich leichter fällt.

b) Schüleraktivität

Es gehört zu den besonderen Vorzügen der neuen lnformations- und Kommunikationstechnologien, dass sie bei sinnvoller Nutzung Jugendliche in die Lage versetzen, relativ selbstständig und mit überschaubarem Zeitaufwand empirische Untersuchungen durchzuführen, ohne sich eine Fülle von technischen Detailkenntnissen aneignen zu müssen. Das im Projekt verwendete Programm GRAFSTAT ist zu diesem Zweck konzipiert worden. Methodenkompetenzen oder auch -defizite können auf diese Art bewusst gemacht und gezielt weiterentwickelt bzw. ausgeglichen werden. Der zur verantwortlichen politischen Urteilsbildung gehörende Realitätsbezug und der kritische Umgang mit Informationen wird auf diese Art und Weise mit dem Ziel einer "epistemischen Selbstständigkeit" (Jürgen Mittelstraß) zeitgemäß gefördert. Die Schülerlnnen erkennen, dass der Computer nicht nur einfach Daten über die Wirklichkeit liefert, sondern dass sie Daten immer auch validieren und interpretieren müssen, dass die Ergebnisse (die Wahlprognose) die politische Wirklichkeit wieder beeinflussen können. [/S.80:]

c) Ganzheitlichkeit

Im Gegensatz zu traditionellen Formen des Politikunterrichts, die vorrangig die kognitiven Fähigkeiten der SchülerInnen ansprechen, baut das hier vorgelegte Unterrichtsmodell auf einer breiten Palette von Schülerfähigkeiten und -fertigkeiten auf, die für die Erstellung des Handlungsproduktes erforderlich sind. Beispielhaft genannt seien hier nur die sozialen Kompetenzen, die dem Schüler im Telefon- oder Straßeninterview abverlangt werden, die Fähigkeit zur Teamarbeit oder zur Arbeit unter Zeitdruck.

d) Öffnung von Schule

Politikunterricht, der über die Vermittlung von Fachwissen hinaus auf die Stärkung der politisch-moralischen Urteilsfähigkeit des Schülers abzielt, kann sich nicht gleichsam abgeschlossen vom eigentlichen Ort des Geschehens allein schulintern vollziehen. Wir schließen uns der Auffassung an, dass Schule und politisch-gesellschaftliche Öffentlichkeit in einen Austauschprozess eintreten sollten, von dem letztlich beide Seiten nur profitieren können: die Schüler, die sich als "Wahlforscher" aktiv in den politischen Prozess im heimischen Wahlkreis einschalten und sich in ihrem Handeln ernst genommen fühlen können, genauso wie die interessierte, schulexterne Öffentlichkeit, die auf diese Art und Weise mit Analysen über das politische Geschehen "vor Ort" versorgt wird, die für den kommunalen Bereich kein professionelles Meinungsforschungsinstitut anbietet. Auf diese Art und Weise wird dem "Verschwinden der Wirklichkeit" aus dem Lernprozess aktiv entgegen gearbeitet.

4. Aufbau und Verlauf der Unterrichtsreihe "Wahlanalyse und Wahlprognose"

Die unter der Federführung von W. Sander erarbeiteten und der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlichten Arbeitshilfen "Wahlanalyse und Wahlprognose" stellen, wie die Rückmeldungen aus der Schule bestätigen, eine vorzügliche Grundlage dar, sich in das anspruchsvolle Unterrichtsmodell einzuarbeiten, es für jede Art von politischen Wahlen zu adaptieren und praktisch umzusetzen (15). Die Arbeitshilfen gliedern sich in vier Kapitel. Zum einen informiert der Band über fachwissenschaftliche Aspekte zum Thema Wahlen. Die ebenfalls enthaltenen Planungsvorschläge bieten dem Lehrer viele praxiserprobte Anregungen für den Unterrichtsverlauf. Sie sind so konzipiert, dass sie sich steinbruchartig verwenden lassen, d.h. je nach Schwerpunktsetzung können einzelne Themen weggelassen oder nur ansatzweise aufgegriffen werden. Das Unterrichtsmodell gliedert sich in folgende thematische Schwerpunkte: Einführung in "Wahlen" (drei Varianten), Bedeutung von Wahlen in der Demokratie, Rückblick auf frühere Wahlen, Wahlsysteme, Wahlforschung, Wahlkampf und Parteien sowie Wählerbefragung und Prognose. Zu jedem dieser Themenschwerpunkte stellt der Band umfangreiches Arbeitsmaterial für die Hand des Schülers zur Verfügung. Zudem enthält die Arbeitshilfe das Handbuch zum Programm "GRAF-STAT Wahlen", in dem die Arbeit am und mit dem Computer detailliert erläutert wird. [/S.81:]

Dieser Band ist im Frühjahr 1994 auf einer einwöchigen Lehrerfortbildung im Kloster Banz den interessierten Lehrerinnen erstmals vorgestellt und in der Weise erprobt worden, dass die bei dieser Tagung anwesenden Lehrpersonen in die Rolle der Schüler schlüpften und eigenständig eine Wählerbefragung zur Oberbürgermeisterwahl in der nahe gelegenen Stadt Bamberg durchführten. Sie erstellten am Computer einen Fragebogen, mit dem sie die wahlberechtigte Bevölkerung befragten. Einige Lehrer nutzten auch die Möglichkeit, eine Telefonbefragung durchzuführen. Die Befragungsdaten gaben die LehrerInnen in den Computer ein und werteten diese anschließend in einzelnen Arbeitsgruppen aus. Sie stellten ihre Ergebnisse am Schlusstag dem Plenum in Form einer Ausstellung vor. Die Prognosen stimmten mit den Wahlergebnissen recht gut überein. Die TeilnehmerInnen, die im Vorfeld diesem anspruchsvollen und aufwendigen Projekt noch skeptisch gegenüber standen, waren nach der Tagung von der Durchführbarkeit und Ergiebigkeit der Unterrichtsreihe überzeugt. Die LehrerInnen führten diese Unterrichtsreihe fast ausnahmslos an ihren Schulen durch. Viele weitere Rückmeldungen und eine von der Bundeszentrale für politische Bildung veranstaltete bundesweite Auswertungstagung nach der Bundestagswahl 1994 bestätigten, dass dieses Unterrichtsmodell vielfach und mit großem Erfolg umgesetzt worden ist.

Die Komplexität des handlungs- und projektorientierten Unterrichtsmodells macht es erforderlich, dass die Lehrperson vor dem eigentlichen Beginn der Unterrichtsreihe umfangreiche organisatorische und terminliche Planungen aufeinander abstimmt. Das in Münster verwendete Planungsschema (s. Abb. 1) hat sich als gute Hilfe erwiesen, um diese Aufgabe zu bewältigen. Vier parallele Planungsebenen (Medien, Daten, Schule, Unterricht) müssen koordiniert werden, um einen optimalen Projektverlauf zu gewährleisten.

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Die enge Zusammenarbeit mit den lokalen Medien ist unerlässlich, weil z.B. durch die rechtzeitige und wiederholte Ankündigung der Wählerbefragung die Akzeptanz entscheidend erhöht wird. Gleichermaßen steigert die Aussicht auf eine Veröffentlichung die Motivation der beteiligten Schülerlnnen beträchtlich. Unter Umständen ist bei geschickter Vorgehensweise auch eine finanzielle Unterstützung zur Abdeckung erhöhter Kosten (z.B. Druck der Erhebungsbögen, Telefonumfrage, Ausstellung etc.) erreichbar.

Weiterhin sollten im Vorfeld die notwendigen Vergleichsdaten von den entsprechenden Statistischen Ämtern beschafft werden, was besonders in Flächenwahlkreisen mit gewissen Schwierigkeiten verbunden sein kann. Bei der Entscheidung, ob eine Telefon- oder Straßenumfrage durchgeführt werden soll, sind folgende Erfahrungswerte zu berücksichtigen:

  • Die Straßenbefragung bietet die Vorteile, dass mit wenig Aufwand innerhalb einer kurzen Zeit eine hohe Zahl an Interviews zu realisieren ist (pro Schülerln sind durchaus 30 Interviews möglich), dass der [/S.82:] Erlebniswert insgesamt höher ist und die Schülerinnen spontan diese Befragungsart bevorzugen.
  • Die Telefonbefragung führt zu einer insgesamt höheren Repräsentativität der Stichprobe, da bei dieser Befragungsart im Gegensatz zur Straßenumfrage die Zufallsauswahl eher gewährleistet ist. Außerdem wird der Lerneffekt im Bereich der sozialen Kompetenzen (Ansprache von unbekannten Personen am Telefon) durchweg hervorgehoben.

Wenn es gelingt, mit anderen Schulen bei der Wählerbefragung zu kooperieren, ist der Aufwand für einzelne Lehrerlnnen geringer. Auch innerhalb der eigenen Schule bietet sich angesichts der Zeitknappheit eine fächerübergreifende Zusammenarbeit z.B. mit dem Deutsch- und Mathematikunterricht an.

Als Beispiel dafür, wie ein solches Projekt verlaufen kann, soll im Folgenden das Projekt: "Wahlen '94 - Wer wählt wen warum?", das in Münster durchgeführt worden ist, dienen. Am Anfang der Unterrichtsreihe stand eine etwa zweistündige Einführung in das Thema. Innerhalb dieser Unterrichtsstunden sollte auch ein Planungsgespräch stattfinden, in dem die Schülerlnnen über den Ablauf der Unterrichtsreihe, [/S.83:] sowie über die Durchführung der Wählerbefragung informiert werden. Im weiteren Verlauf wurden die Schülerlnnen über grundlegende Themen wie die Bedeutung von Wahlen in der Demokratie, sowie über Wahlsysteme informiert. Legt man eine Kapazität von 15 Stunden für dieses Projekt zu Grunde, sollte die Erarbeitung dieser Grundlagen vier Stunden nicht überschreiten.

Zur Vorbereitung der Wahlprognose nahmen die Lehrerlnnen zwei Unterrichtsbausteine aus der Unterrichtseinheit "Wahlforschung" heraus. Sie untersuchten zusammen mit den Schülerlnnen zum einen das Wahlverhalten in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen entsprechend dem Planungsvorschlag. Zum anderen griffen die Lehrerlnnen auch das Thema "Wahlprognose" aus dem Themenkatalog auf, um den Schülerlnnen die Bewertung der eigenen Prognose zu erleichtern (Benötigte Zeit: pro Baustein etwa zwei bis drei Unterrichtsstunden).

Den Schwerpunkt der Unterrichtsreihe bildete die Vorbereitung, Durchführung und Auswertung der Wahlprognose. Die Schülerlnnen erarbeiteten den Fragebogen aufgrund des Zeitmangels nicht selbst. In Münster wurde eine Telefonbefragung durchgeführt, da die Telefonbefragung durch die zufällige Auswahl der Telefonnummern eine größere Repräsentativität gewährleistete, wie die recht genauen Prognoseergebnisse bestätigen.

Es war jedoch notwendig, die Schülerlnnen auf die Durchführung einer Telefonbefragung mit Hilfe von Rollen- und Planspielen vorzubereiten und sie auf die mögliche hohe Abbrecherquote hinzuweisen.. Den Schülerlnnen wurde eine bestimmte Anzahl von Telefonnummern an die Hand gegeben. Die Schülerlnnen wurden jedoch vorher auf die mögliche hohe Abbrecherquote hingewiesen. Sie hatten drei Tage Zeit, die Befragung durchzuführen. Danach wurden die Befragungsdaten arbeitsteilig mit Hilfe des Programms GRAFSTAT eingegeben und anschließend zusammengefasst. Diese Befragungsdaten wurden anhand vorgegebener Arbeitsaufträge in einzelnen Gruppen ausgewertet. Für die Erarbeitung des Fragebogens (eine Stunde), die Durchführung der Umfrage (Hausaufgabe), sowie der Eingabe der Daten (eine Stunde) wurde relativ wenig Zeit benötigt. Die Auswertung der Daten war jedoch zeitaufwändig, da die Daten neben der Wahlprognose eine Vielzahl von Auswertungsmöglichkeiten, z.B. zum Wählerverhalten, boten.

5. Ergebnisse des Projektes

Die Ergebnisse des Projektes wurden auf unterschiedliche Weise erfasst. Zum einen wurde aus den von den Klassen/Kursen erarbeiteten Ergebnissen eine Broschüre angefertigt, die diese Ergebnisse zusammenfasst und der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt. Zum anderen gab es eine abschließende Besprechung mit den beteiligten Lehrerlnnen über ihre Erfahrungen und Probleme bei der Arbeit in den Schulen. Vor und nach der Unterrichtsreihe wurden die beteiligten Schülerlnnen gebeten, einen standardisierten Fragebogen auszufüllen, um so im [/S.85:] Anschluss eine Aussage über den Erfolg bei diesen machen zu können; nach dem Ende der Arbeit in den Schulen wurden mit einzelnen SchülerInnen noch qualitative Interviews zu ihren Erlebnissen und Erfahrungen durchgeführt.

a) Broschüre

Ein "handfestes" Ergebnis des Projektes war die in der Woche vor der Wahl veröffentlichte Broschüre. Als Produkt der intensiven Arbeit in den Schulen und der guten Kooperation mit der "Münsterschen Zeitung" führt sie die unterschiedlichen Inhalte und Arbeitsergebnisse der verschiedenen am Projekt beteiligten Klassen und Kurse zusammen und bietet so jedem interessierten Leser die Möglichkeit, sich über thematische Schwerpunkte, den Arbeitsablauf in den Schulen und das politische Geschehen in Münster zu informieren. Außerdem sind noch die Wahlprognose und Aussagen über das Wählerverhalten in Münster in der Broschüre enthalten. (16)

Im Folgenden sollen die thematischen Schwerpunkte dieser Broschüre kurz dargestellt werden, um so einen Überblick über die Vielfalt der in den Klassen/Kursen behandelten Inhalte zu geben. Als Gemeinschaftsprodukt aller Klassen und Kurse ist die Wahlprognose zu bezeichnen. Dieser Teil war für alle Beteiligten identisch, ein aufwändiger, aber auch Gewinn bringender zentraler Bestandteil der Unterrichtsreihe. Unterschiedlich waren die anderen, von den SchülerInnen und LehrerInnen ausgewählten und im Unterricht aufgegriffenen Themen. So beschäftigten sich einzelne Klassen und Kurse mit der politischen Ausgangslage in Münster. Sie interviewten z.B. PolitikerInnen vor Ort und erfuhren so etwas über deren politische Biografie, Arbeitsschwerpunkte im politischen Tagesgeschäft oder über die Ziele, die sie in der Zukunft zu erreichen gedenken. Ein weiterer Punkt in diesem Abschnitt ist der Bericht eines Kurses, dessen SchülerInnen Münsteraner nach ihren politischen Veränderungswünschen für Münster befragten.

Der zweite Teil der Broschüre wurde vollständig von einem Kurs gestaltet, der Bundestagsabgeordnete in Bonn besucht hatte und seine Erlebnisse über diesen Besuch als "Berichte aus Bonn" vorstellte. Die Erfahrungen der Schülerlnnen waren durchaus zwiespältig, je nachdem, wie sie von den einzelnen Bundestagsabgeordneten in Bonn empfangen und behandelt wurden. Ihre positive oder negative Bewertung durch die Schülerlnnen haben diese Abgeordneten selbst zu verantworten. In einem Einzelfall wurde nach Ansicht der Schülerlnnen, dies ihr Fazit, "eine Chance vertan [...], um Werbung für das politische Geschehen in Bonn zu machen". In einem anderen Fall dagegen äußern die Schülerlnnen die Feststellung, dass der Besuch [...] unser Bild vom Abgeordneten als 'Spesenritter' geändert hat".

Der dritte Teil der Broschüre listet dann in Auszügen die Antworten von "Prominenten" auf, die von einem Kurs nach Kriterien für eine verantwortliche Wahlentscheidung befragt worden waren. Die Analy[/S.86:]se des Wahlkampfes in Münster bestimmt den vierten Abschnitt des Bandes. Hier sind unterschiedlichste Beiträge zu diesem Thema versammelt. Einen breiten Raum nimmt die Analyse von Wahlplakaten der Parteien ein. Aus unterschiedlicher Sichtweise werden diese bewertet. Ein Deutschkurs und ein Werbefachmann betrachten sie vom gestalterisch-ästhetischen her, eine Klasse nimmt sie historisch unter die Lupe. Eine andere Klasse wiederum untersucht ihren Überzeugungs- und Selbstdarstellungsgehalt, eine Schülerin formuliert ihre Ansichten hierzu in einer witzigen Glosse. Vielfältige Eindrücke, die nicht ohne Wirkung auf den Leser bleiben.

Ein weiterer Schwerpunkt in diesem Abschnitt ist die Beobachtung des Wahlkampfes in Münster. Es werden die Spitzenkandidatlnnen der beiden großen Parteien und ihre Ehepartnerlnnen vorgestellt. Zu diesem Zweck wurden die beiden SpitzenkandidatInnen einen Tag lang im Wahlkampf begleitet und anschließend wurde ihnen ein Steckbrief vorgelegt, in den diese Angaben zu ihrer Person einzutragen hatten. Dass natürlich auch ihre Ehepartnerlnnen besucht und befragt wurden, und dieses dokumentiert ist, versteht sich von selbst.

Zum Thema "Jugend und Politik", fünfter Schwerpunkt der Broschüre, machten sich die SchülerInnen natürlich gleich die Möglichkeiten des Computers und der zur Unterrichtsreihe gehörenden Software zu Nutze und befragten wahlberechtigte Jugendliche der Münsterschen Schulen zu ihren politischen Einstellungen und Präferenzen. Die Berichte über diese Umfragen und die Analysen der Daten bestimmen im wesentlichen diesen Abschnitt.

Nach der genaueren Beschreibung der Wahlprognose und des Wählerverhaltens in Münster, sechster Teil, folgt dann im siebten und letzten Abschnitt die Darstellung des Projektes. Hierzu gehören die Namen und Bilder der beteiligten Kurse, Klassen, LehrerInnen und SchülerInnen und eine Chronologie der durchgeführten Arbeiten. Des Weiteren sind noch Erfahrungsberichte von TutorInnen und LehrerInnen, sowie Äußerungen von Schülerlnnen aufgeführt. Abgerundet wird das Ganze von Fotos aus unterschiedlichen Arbeitsabschnitten und der beteiligten Klassen und Kurse. Als Anhang sind noch die für die "Münstersche Zeitung" erstellten vier Sonderseiten abgedruckt.

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b) Resonanz bei den Lehrerlnnen

Verbunden mit einer sehr hohen Arbeitsbelastung und dem durch den Inhalt der Unterrichtsreihe (Wahlprognose) bedingten Zeitdruck geht, so die einmütige Feststellung der beteiligten LehrerInnen, ein großer Lernerfolg bei den SchülerInnen einher. Dieser Lernerfolg rechtfertige den mit der Unterrichtsreihe zusammenhängenden Arbeitsaufwand. Alle LehrerInnen äußerten die Absicht, diese Unterrichtsreihe bei nächster Gelegenheit zu wiederholen, auch um von den jetzt gesammelten Erfahrungen profitieren zu können. [/S.87:]

Eine der wichtigsten Komponenten, die diesen positiven Eindruck bedingen, sei die handlungsorientierte Vorgehensweise. Diese fördere und fordere eine hohe Eigenverantwortung bei den Schülerlnnen und, bezogen auf das Endprodukt, zielgerichtetes Arbeiten. Zugleich wird durch die kooperative Arbeitsweise das Übergewicht des lehrerzentrierten Frontalunterrichts relativiert und die Schülerlnnen lernen die Lehrperson als selbst Lernenden kennen.

Die Unterrichtsreihe stärkte, so die LehrerInnen, das Ansehen des Faches SoWi/Politik bei KollegInnen und der Schulleitung; das Fach wurde nicht als "Laberfach" wahrgenommen, sondern als Fach, dessen aktuelle Inhalte das Interesse der Öffentlichkeit wecken können und dessen Ergebnisse in dieser Öffentlichkeit Aufsehen erregen. Mit diesem Unterricht sei ein interessanter, aktueller und praktikabler Zugang zu den Inhalten des Faches SoWi/Politik möglich, der die SchülerInnen begeistere.

Negativ angemerkt wurden zum einen der extrem hohe Arbeitsaufwand, der zur Vorbereitung und Durchführung dieser Unterrichtsreihe notwendig sei, zum anderen der permanente Zeitdruck, der sich aus dem Wahltermin ergebe. Dies alles sei allerdings nur eine Frage der genügenden Organisation in der Vorbereitungsphase. Nicht zu ändern dagegen seien momentan die fehlenden Rahmenbedingungen des Faches SoWi/Politik im Stundenplan; so sei diese Unterrichtsreihe mit zwei oder drei Wochenstunden nur sehr schwer durchzuführen.

c) Resonanz bei den Schülerlnnen

Die Befragung der beteiligten Schülerlnnen nach Ende der Unterrichtsreihe brachte einige für das Projekt sehr positive Ergebnisse. So äußerten über 70% der SchülerInnen, dass sie durch dieses Projekt viel dazugelernt haben und immerhin 80% bekundeten ihren Spaß an der Durchführung. Zum Inhalt des Projektes ist anzumerken, dass der Anteil derjenigen SchülerInnen, die sich wenig oder überhaupt nicht für Politik interessierten, um 20%, von 35% auf 15%, zurückgegangen ist (s. Abb. 2).

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Auch der Themenschwerpunkt "Parteien- und Politikerverdrossenheit" hat seine Auswirkungen auf die Einstellungen der SchülerInnen gehabt. Eine Umkehrung ihrer Einstellung ist hier festzustellen. Vor der Unterrichtsreihe stimmten 56,3% der Schülerlnnen der Ansicht zu, dass die Parteien sich nicht wundern sollten, wenn sie bald keiner mehr wählt, nach der Unterrichtsreihe lehnten 66,2%, eine deutliche Mehrheit, diese Äußerung ab (s. Abb. 3).

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Die Verhaltensweise "Am Wahltag nicht wählen gehen", vor der Unterrichtsreihe von 10,2% der befragten Schülerlnnen befürwortet, wird nach Abschluss des Projektes von 99% abgelehnt. Nur 1% der SchülerInnen bejaht noch diese Haltung (s. Abb. 4). [/S.88:]

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Dies bestätigen auch die Äußerungen der Schülerlnnen in den qualitativen Interviews. Sie gaben an, dass der Unterricht viel Spaß bereitet habe, weil er anders als normaler Unterricht abgelaufen sei und sie, auch als nicht wahlberechtigte Jugendliche, mit dem Thema "Politische Wahlen" konfrontiert wurden und nun die Funktion von Demokratie und Wahlen verstanden hätten. Positiv hoben sie auch die Gruppenarbeit während des Unterrichtes hervor: So "war jeder gezwungen mitzuarbeiten und es gab keine Außenseiter". Desweiteren wurde von den Schülerlnnen die Umfrage als solche sehr positiv dargestellt. Der Kontakt mit fremden Menschen und die Konfrontation mit deren Meinungen hatte ihnen viel abverlangt, aber auch einen hohen Lerneffekt bewirkt. Sie hätten dadurch gelernt, sich mit fremden Menschen und deren Meinungen auseinanderzusetzen, ihre eigenen Einstellungen zu hinterfragen und zur Diskussion zu stellen.

Besonders hervorgehoben wurde von den SchülerInnen, dass sie durch die Unterrichtsreihe "etwas gelernt haben, was man gebrauchen kann", das vermittelte Wissen also einen direkten Bezug zu ihrem Alltag hatte. Hinzukam, dass sie durch die Aktualität des Themas von der Öffentlichkeit wahr- und auch ernst genommen wurden. Die Schülerlnnen [/S.90:] konnten erfahren, dass sie in begrenztem Umfang in der Lage waren, aktiv am politischen Geschehen teilzunehmen und mit ihren Analysen die Meinungsbildung anderer zu beeinflussen.

Negatives hatten die Schülerlnnen natürlich auch anzumerken. So war auch ihnen der Zeitdruck streckenweise zu hoch. Außerdem fehlten ihnen genaue, detailliertere Informationen über die einzelnen Parteien und deren Programme. Dies müsse in Zukunft noch verbessert werden. Ein wichtiger Punkt, der von einzelnen Schülerlnnen noch als negativ geäußert wurde, aber auch positiv verstanden werden kann, ist, dass der enorme Zuwachs an Wissen zwar wichtig sei, aber im Gegenzug viele neue Fragen aufwerfe.

Die Antwortbriefe einiger "Prominenter" zur politischen Wahlentscheidung hielten die Jugendlichen für so wichtig und hilfreich, dass sie die zwölf "besten" in ihrer Teestube zur Information und Diskussion an die Pinwand hängten.

Anmerkungen

(1) H. v. Hentig: Die Schule neu denken, 3. bearbeitete, erweiterte Auflage, München, Wien 1993, S. 9.

(2) Vgl. W. Heitmeyer/Th. Olk: Das Individualisierungs-Theorem - Bedeutung für die Vergesellschaftung von Jugendlichen, in: Heitmeyer/Olk (Hrsg.): Individualisierung von Jugend. Gesellschaftliche Prozesse, subjektive Verarbeitungsformen, jugendpolitische Konsequenzen, Weinheim, München 1990, S. 11-34.

(3) W. Heitmeyer: Identitätsprobleme und rechtsextremistische Orientierungsmuster, in: D. Baacke/W. Heitmeyer (Hrsg.): Neue Widersprüche. Jugendliche in den Achtzigerjahren, Weinheim, München 1985, S. 175-198, hier: S. 190.

(4) Vgl. etwa H. v. Hentig: Die Schule neu denken, a.a.O., S. 27ff.

(5) W. Jank/H. Meyer: Didaktische Modelle, Frankfurt a.M. 1991, S. 338.

(6) R. Wildenmann: Wahlforschung, Mannheim 1992, S. 98.

(7) Alle Daten sind der repräsentativen Wahlstatistik 1990 entnommen, da eine solche für die Bundestagswahlen 1994 leider nicht vorliegt. Am höchsten ist die Wahlunlust im Vergleich zur Gesamtbevölkerung in der Gruppe der 21-24-jährigen: Mit einer Wahlbeteiligung von 61,8% liegen sie um 14,5% unter der allgemeinen Wahlbeteiligung von 76,3%.

(8) W. Bürklin: Gesellschaftlicher Wandel, Wertewandel und politische Beteiligung, in: K. Starzacher/K. Schacht/B. Friedrich/Th. Leif (Hrsg.): Protestwähler und Wahlverweigerung. Krise der Demokratie?, Köln 1992, S. 20.

(9) Vgl. K. Koopmann: Die politische Beteiligung junger Menschen: (k)ein Thema für die politische Bildung?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 45-46/94, S. 23-28, hier: S. 26.

(10) Empfehlungen für die Neuordnung der höheren Schulen 1965, S. 65.

(11) H. Klippert: Handlungsorientierter Politikunterricht. Anregungen für ein verändertes Lehr-/Lernverständnis, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Methoden in der politischen Bildung - Handlungsorientierung. Schriftenreihe Band 304, S. 9.

(12) H. v. Hentig: Politische Bildung auf der "wissenschaftlichen Oberstufe", in: Ders.: Spielraum und Ernstfall: gesammelte Aufsätze zu einer Pädagogik der Selbstbestimmung, Frankfurt a.M. 1981, S. 327-361, hier: S. 345f.

(13) Zum Problem der moralisch-politischen Urteilsbildung vergleiche auch W. Sander: Mündige Bürger - Gerichtshöfe der Vernunft. Wie ist moralisch-politische Urteilsbildung möglich?, in: Frankfurter Hefte. Sonderheft Existenzwissen, Frankfurt a.M. 1983, S. 175-193.

(14) W. Jank/H. Meyer: Didaktische Modelle, a.a.O., S. 354.

(15) W. Sander: Wahlanalyse und Wahlprognose im Unterricht. Handlungsorientierter Computereinsatz im Politik-Unterricht. Sachinformationen, Planungsvorschläge, Schülermaterialien, unter Mitwirkung von A. Klimek mit einem Computerprogramm von U.W. Diener, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1994. (Der Band ist bei der Bundeszentrale z.Z. vergriffen. Einzelne Exemplare können noch - gegen Voreinsendung von sechs DM in Briefmarken - bei folgender Adresse bestellt werden: Wolfgang Sander, FB Erziehungswissenschaft, Georgskommende 33, 48143 Münster).

(16) Die Broschüre ist gegen DM 6,- in Briefmarken bei Wolfgang Sander [Adresse s. Anm. 15] zu beziehen.

Das Original ist unter dem gleichen Titel erschienen in: Politisches Lernen 17. Jg. (1995) H. 1-2, 75-90.
(c) 2001 Christian Hülshörster, Christina Jansen, Dirk John
Um den Text zitierfähig zu machen, sind die Seitenwechsel des Originals in eckigen Klammern angegeben, z. B. [/S. 53:].
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