Sozialunion Europa? Projektbausteine zur Auseinandersetzung mit der sozialen Dimension Europas

Birgit Weber

Inhalt

1. Gefährdung des Sozialstaates durch die europäische Integration? - Problemaufriss -
Lernbedeutung des Themas
Lernziele
2. Projektbausteine zur Auseinandersetzung mit der sozialen Dimension Europas
(1) Aktivierung des Vorwissens
(2) Analyse sozialer Problemlagen in Europa
(3) Konferenzspiel zur Gestaltung der sozialen Dimension Europas
(4) Reflexion: Harmonisierung ex-ante oder Nivellierung ex-post?
(5) Vergleich: Ausgestaltung der sozialen Dimension in Europa
Literatur
Zur Autorin

Abbildungen/Materialien:

Abb. 1: Potentielle Auswirkungen der europäischen Integration auf die soziale Dimension Europas
Abb. 2: Projektbausteine zur "sozialen Dimension Europas"
Abb. 3: Regelungsbedarf nach sozialen Sachverhalten
Abb. 4: Sozialpolitische Kompetenzen der EU nach Art. 118 EGV laut Vertrag von Amsterdam
Mat. 1: Soziales Europa?
Mat. 2: Pro und Contra
Mat. 3: Meinungsspektrum
Mat. 4: Länder der EU im Vergleich
Mat. 5: Ökonomie ohne Schleier
Mat. 6: Zusammenwachsen - aber wie?
Mat. 7: Europäischer Gerichtshof
Mat. 8: Deutschland bleibt ein teures Pflaster
Mat. 9: "Deutschland gut für die Globalisierung gerüstet"
Mat. 10: Sozialstaat versus Globalisierung?

1. Gefährdung des Sozialstaates durch die europäische Integration?

- Problemaufriss -

Die europäische Integration ist mit vielen Ängsten über mögliche Gefährdungen des Sozialstaates besetzt. Befürchtungen bestehen insbesondere bezüglich

  • eines sozialen Dumpings einerseits und sich verschärfender sozialer Unterschiede zwischen den Nationen andererseits
  • der 'Sozialflucht' der Finanziers des Sozialstaats und des 'Sozialtourismus' der Leistungsempfänger angesichts der Freizügigkeit von Kapital und Arbeit
  • des Abbaus sozialer Standards angesichts des verminderten Haushaltsspielraums aufgrund der Konvergenzkriterien und des Verhältnisses von Sozialpolitik und Wettbewerb.

Solche Unsicherheiten forcieren einerseits die Suche nach einfachen Lösungen, wie z.B. einer Harmonisierung der sozialen Systeme Europas auf bundesrepublikanischem Niveau, andererseits gefährden sie aber auch die politische Akzeptanz des europäischen Einigungsprozesses.
Eine Harmonisierung der sozialen Systeme Europas auf hohem Niveau scheint vordergründig eine Lösung zu versprechen. Andere sehen gerade darin eine erhebliche Gefährdung sozialer Entwicklungen. So würde eine Harmonisierung der Schutzleistungen und Löhne auf hohem Niveau die Leistungskraft der ärmeren Länder überfordern und die Arbeitslosigkeit dort erhöhen oder aber permanente Transferleistungen von Nord nach Süd forcieren und schließlich eine Abschottung Europas nach außen erzwingen. Die auf diese Weise hergestellte Sozialunion würde die sozialen Probleme exportieren, entweder in die Peripherie Europas - oder aber - in die Staaten außerhalb Europas (siehe Abb. 1).

 

 

Lernbedeutung des Themas

Als zentrale Begründungskriterien für die Auswahl von Lerngegenständen gelten neben der Bedeutung von Lebenssituationen für die Bedürfnisbefriedigung und den sie beeinflussenden Entwicklungen auch gegenwärtige Gefährdungen und künftige Behinderungen der Bedürfnisbefriedigung sowie die Entscheidungs- und Handlungsspielräume zum Abbau von Gefährdungen. So stellt sich die Frage der sozialen Konsequenzen der europäischen Integration in Bezug auf die Befriedigung der Sicherheitsbedürfnisse, deren Gefährdung oder Behinderung sowie die Gestaltungsoptionen als wichtiges fachdidaktisches Problem.

"Aus mangelnden Informationen und einer als unüberschaubar erlebten Situation erwächst Unsicherheit. Wir haben es im Hinblick auf die sozialpolitischen Folgen der Verwirklichung des einheitlichen Europäischen Binnenmarktes sowohl mit einer hochkomplexen Situation zu tun als auch mit einer immer noch in vielfältiger Hinsicht unzureichenden Informationslage." (SCHMÄHL 1995, 14).

Eine rationale und multiperspektivische Durchdringung ist erforderlich, um weder scheinbaren Sachzwängen aufzusitzen noch unbedachten Konsequenzen gesinnungsethisch legitimierter Forderungen zu erliegen. Dies schließt die Ermittlung des Kooperationsbedarfs, die Beurteilung der Kooperationsoptionen im Rahmen der Europäischen Union unter Berücksichtigung der gegebenen Länderdifferenzen und systemischen Bedingungen ein, um die zur Glaubensfrage stilisierte Streitfrage 'Harmonisierung oder Wettbewerb' beurteilen zu können.

Lernziele

Lernprozesse, die die soziale Dimension der europäischen Integration betreffen, sollten den Lernenden ermöglichen,

  • Befürchtungen hinsichtlich der sozialen Entwicklung angesichts der europäischen Integration zu artikulieren,
  • die sozialen Problemlagen in Europa zu analysieren und zu beurteilen hinsichtlich
    • des ökonomischen Entwicklungsstandes der Mitgliedsländer
    • der Wanderungsanreize sowie der Bedingungen für Wettbewerbsvor- und -nachteile aufgrund der unterschiedlichen sozialen Systeme
  • die positiven Konsequenzen des Freihandels und die Chancen zur Steigerung des Lebensstandards durch die europäische Integration zu erkennen, aber auch die Auseinandersetzung darüber zu führen, welche Ursachen zu einem Unter- oder Überangebot an Sicherheit und Gerechtigkeit führen können, um sich über das Verhältnis von Internationalisierung und Sozialstaat ein Urteil bilden zu können
  • Erkenntnisse über den Prozess der internationalen Kooperation am Beispiel der sozialen Dimension in Europa zu gewinnen, um auf dieser Grundlage ziel- und konsequenzenbewusst Reflexionen über die soziale Gestaltung anstellen zu können.

2. Projektbausteine zur Auseinandersetzung mit der sozialen Dimension Europas

1. Aktivierung des Vorwissens

  • Anhand einer Grafik, einer Vorwissen aktivierenden Pro- und Contra-Diskussion oder eines Meinungsspektrums können die Einstellungen der SchülerInnen zum Themenkomplex ermittelt werden, um offene Fragen zu erschließen und Erkenntnisinteressen anzuregen. Eine solche Ermittlung eignet sich aber auch dazu, abschließend den Erkenntniszuwachs zu verdeutlichen.

2. Analyse sozialer Problemlagen in Europa:

  • Die SchülerInnen analysieren die wirtschaftliche Situation der EU-Länder, kategorisieren die Länder nach Kriterien, um auf diese Weise erste Hypothesen über Zusammenhänge zwischen Wirtschaftskraft und sozialem Niveau prüfen zu können.
  • Sie analysieren die Flucht- und Wanderungsanreize, um kritisch zu den Befürchtungen hinsichtlich Sozialflucht und Sozialtourismus Stellung nehmen zu können.
  • Sie setzen sich auseinander mit unterschiedlichen Kostenfaktoren, die sich auf die Güterpreise auswirken und somit Wettbewerbsvor- und -nachteile bedingen, um hinsichtlich des Vorwurfes des "sozialen Dumping" Position beziehen zu können.

3. Simulation des Einigungsprozesses zur Gestaltung der sozialen Dimension Europas

  • Um die Probleme der Gestaltung der sozialen Dimension Europas nachvollziehen zu können, versetzen sich die SchülerInnen in die Rolle von Mitgliedsländergruppen mit stark divergierenden Sozialniveaus. Die Gruppen setzen sich mit dem jeweiligen sozialen System des Landes auseinander, stellen eine Priorität auf, in welchem sozialen Bereich Einigung besonders dringlich erscheint, um in einer Konferenz sich in den unterschiedlichen sozialen Bereichen darauf zu verständigen, welche Probleme mit welcher Priorität gemeinsam angegangen werden müssen, wo es einheitliche Regeln, Mindestregelungen oder aber weiterhin alleinige nationale Gestaltungskompetenz geben soll. Eingeschlossen ist dabei der Versuch, Kriterien sozialer Sicherung zu finden, auf die sich alle Länder einigen können.
  • Im Anschluss an diese Konferenz vergleichen die SchülerInnen ihr Ergebnis mit theoretischen Erwägungen und der Entwicklung der sozialen Dimension Europas

Eine Übersicht über die einzelnen Projektbausteine gibt Abbildung 2.


Die folgende Darstellung enthält weitere

  • Analysen zu den einzelnen Bausteine für die Hand der LehrerInnen,
  • Materialien für die SchülerInnen einschließlich Fragen zur ihrer Erschließung als auch
  • Abbildungen für die jeweiligen Reflexionsphasen zum Vergleich mit der Wirklichkeit.

Material 1: Soziales Europa?
Fröhliche Fahrt SZ-Zeichnung: Gabor Benedek

(1) Aktivierung des Vorwissens

Zur Aktivierung der Einstellungen der SchülerInnen zu möglichen sozialen Konsequenzen der europäischen Integrationen bieten sich die Pro- und Contra-Diskussion, das Meinungsspektrum oder die folgende Grafik an:


 
 
 
Material 2 - Pro und Contra
Gerhard Fels (1989): "Der Binnenmarkt garantiert den Lebensstandard der Bürger Europas auf längere Zeit hinaus und ist insoweit schon selbst eine soziale Tat.
Pierre Bourdieu (1998): "Die himmelschreienden Lücken beim Aufbau Europas betreffen vor allem vier Bereiche: den Sozialstaat und seine Aufgaben; die Vereinigung der Gewerkschaften; eine Angleichung und Modernisierung der Erziehungssysteme sowie die Verknüpfung von Wirtschafts- und Sozialpolitik."

Pro- und Contra-Diskussion: Gegenübergestellt werden die Positionen des eher linken französischen Soziologen Pierre Bourdieu und des Wirtschaftswissenschaftlers Gerhard Fels vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft. Während Bourdieu eine Vernachlässigung der sozialen Dimension beim Aufbau Europa beklagt, ist für Fels die Realisierung des Binnenmarktes selbst schon eine soziale Tat (Material 2). Die SchülerInnen ordnen sich einer der Positionen zu und versuchen, diese zu begründen. Dies ermöglicht einerseits die Ermittlung der (Vor-) Urteile, deren Bestätigung oder Relativierung, die Erschließung von Lücken in den Begründungszusammenhängen und Ermittlung der notwendigen Weiterarbeit angesichts offener Fragen. Schließlich erlaubt es, im Anschluss den Erkenntniszuwachs selbständig zu erschließen.

Material 3 - Meinungsspektrum
  • Der europäische Binnenmarkt trägt zum Wirtschaftswachstum bei, verbessert so die Güterversorgung der Bürger und ist damit selbst eine soziale Tat.
  • Der internationaleWettbewerb legt Fehlentwicklungen bei der Steuer- und Sozialpolitik bloß. Heute gibt es Wohlstand und soziale Sicherheit auf Pump. Dies offenzulegen und zu beseitigen ist ein Gewinn.
  • Angesichts der ungleichen Startchancen bei Infrastruktur, Arbeitnehmerqualifikationen und technischem Know How werden sich die sozialen Unterschiede in Europa zuungunsten der ärmsten Länder vergrößern.
  • Länder mit niedrigen sozialen Leistungen können ihre Produkte zu niedrigen Preisen verkaufen. So erlangen sie erhebliche Wettbewerbsvorteile gegenüber Ländern mit einem ausgebauten Sozialstaat.
  • Die Freizügigkeit von Kapital und Arbeit ermöglicht, dass die Finanzierer des Sozialstaates abwandern, während Leistungsempfänger zuwandern. Die Freizügigkeit untergräbt die Grundlagen des Sozialstaates.
  • Die soziale Dimension Europas sollte nicht über Vereinheitlichung, sondern über den Wettbewerb der Systeme weiterentwickelt werden.

Meinungsspektrum: Eine andere Variante stellt das Meinungsspektrum dar (Material 3). Hier werden neben den o.g. Statements weitere Positionen aufgelistet, zu denen die SchülerInnen Stellung beziehen. Diese Variante erlaubt eine differenzierende Herangehensweise, da die SchülerInnen Einstellungen und Vorwissen zu unterschiedlichen Ebenen des Problems aktivieren, wenngleich sie sich aber weniger differenziert mit den einzelnen Positionen auseinandersetzen.

Für ein Meinungsspektrum benötigt man fünf Karten ++ , + , 0 , - , -- pro TeilnehmerIn, mit denen die SchülerInnen eine Wertung zu den Statements abgeben. Während ++ bedeutet, dass die Befragten der Aussage voll zustimmen, signalisieren sie mit -- volle Ablehnung.

(2) Analyse sozialer Problemlagen in Europa

Soziale Problemlagen in der Europäischen Union lassen sich in drei Kategorien einteilen. Einerseits unterscheiden sich die Mitgliedsländer erheblich durch ihren Entwicklungsstand, der sich - bei allen Problemen dieses Maßstabs - durch ihr Bruttoinlandprodukt ausdrücken lässt. In Abhängigkeit vom Entwicklungsstand ist auch der Anteil der sozialen Leistungen zu betrachten. Daneben weisen die Differenzen in der Arbeitslosenquote auf erhebliche soziale Problemkonstellationen hin (s. Soziale Unterschiede in Europa).
Neben diesen Unterschieden bedingt die Freizügigkeit von Kapital und Arbeit unterschiedliche Anreizmechanismen. Werden die Ausgaben für soziale Leistungen als Standortbedingungen isoliert betrachtet, existiert für die Finanziers des sozialen Systems der Anreiz, sich Länder zu suchen, in denen diese Ausgaben möglichst gering sind. Andererseits besteht für potentielle Empfänger sozialer Leistungen ein Anreiz, in Länder zu wandern, in denen diese möglichst hoch sind. Auf diese Weise verliert der Sozialstaat bei zunehmenden sozialen Ausgaben seine finanzielle Basis (s. Sozialflucht und Sozialtourismus).
Schließlich erhöhen Arbeitslöhne, Arbeitsschutzmaßnahmen und Kosten für die soziale Sicherheit in Abhängigkeit von der Finanzierung die Preise für die produzierten Güter, so dass Länder mit niedrigeren Löhnen, sozialen Leistungen und Arbeitsschutzmaßnahmen unter sonst gleichen Bedingungen gegenüber anderen Ländern Wettbewerbsvorteile haben (s. Soziales Dumping).

(a) Soziale Unterschiede in Europa?

In der Europäischen Union existieren enorme Unterschiede. Die Länder unterscheiden sich in ihren makroökonomischen Kenndaten hinsichtlich des Bruttoinlandsprodukts, der Arbeitslosenquote, der Handelsbilanz sowie der Anteile der Steuern und Sozialabgaben am BIP erheblich. Selbst wenn das Bruttoinlandsprodukt als Wohlstandsindikator zweifelhaft ist, so lässt sich doch konstatieren, dass einem Bundesbürger fast viermal soviel Güter und Dienstleistungen zur Verfügung stehen wie einem Portugiesen und das Doppelte wie einem Spanier. Von diesem Bruttoinlandsprodukt werden in Deutschland fast ein Drittel für Sozialleistungen ausgegeben, in Spanien nur ein Viertel und in Portugal lediglich ein Fünftel.
Dennoch lassen sich aus diesen Daten keine Rückschlüsse auf die Arbeitslosenquote und die Wettbewerbssituation eines Landes ziehen. So ist die Arbeitslosenquote in Spanien trotz niedrigerer Sozialleistungen doppelt so hoch wie in Deutschland, während Dänemark und die Niederlande trotz höherer Sozialleistungen niedrigere Arbeitslosenquoten zu verzeichnen haben. Versteht man die Handelsbilanz als einen Indikator für die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes, so ist festzustellen, dass in Portugal, Griechenland, Spanien und Großbritannien die Handelsbilanz trotz niedriger Sozialleistungen negativ ist.

Material 4 - Länder der EU im Vergleich

  BIP je Einwohner in ECU Arbeits-
losenquote in %
Staatsaus-
gaben in % des BIP
Soziallei-
stung in % der Staats-
ausgaben
Soziallei-
stungen in % des BIP
Steuern / Sozialab-
gaben in % des BIP
Handels-
bilanz in 1000 ECU
Portugal
8814
6,6
46,1
29,9
19
:
-8099
Griechenland
10076
9,6
:
:
16
:
-12375
Spanien
12230
20,2
46,0
35,9
23
35
-8876
Vereinigtes Königreich
16206
6,7
741,2
35,6
28
35
-23821
Irland
16854
9,7
40,9
35,1
21
34
10922
Italien
17701
12,1
48,2
39,2
25
42
34690
EU
18933
10,4
48,5
44,7
28
42
6418
Finnland
20310
12,6
56,8
41,7
34
48
7640
Niederlande
20767
4,6
51,1
49
32
45
10137
Belgien
21171
8,9
50,6
48
27
47
8085
Frankreich
21611
12,1
50,5
46
30
45
9277
Österreich
22099
4,3
50,7
41,7
30
45
-8336
Deutschland
23339
9,8
47,7
55,2
30
42
51623
Schweden
23619
9,3
65,1
27,9
:
55
14160
Dänemark
27511
5,9
58,2
34,7
33
52
4823
Luxemburg
34405
3,4
47,6
:
24
43
8085
: Zahlen nicht verfügbar. Zusammenstellung nach 1 1997 Eurostat. OSI 1/1998; 2 Jan 1998 Eurostat 20/98; b Dez. 97 a/c 1997 Eurostat. OSI 2/1998), c 1996); 3 1995 Eurostat 90/97 (a 1993, b 1994) 4 1994 Eurostat 02/97; 5 1996 Eurostat 60/97; 6 1996 Eurostat. OSI 3/1998 (a B/L gemeinsam)

Aufgaben zur Auswertung der Tabelle:

  1. Beschreibe die wirtschaftlichen Kenndaten der Länder der EU.
  2. Nach welchen Kriterien können vergleichbare Gruppen gebildet werden?
  3. Kann man eine Beziehung zwischen Bruttoinlandsprodukt und Anteil der Sozialleistungen am Bruttoinlandsprodukt feststellen?
  4. Existiert eine Beziehung zwischen dem Anteil der Sozialleistungen am Bruttoinlandsprodukt einerseits und der Arbeitslosenquote und Handelsbilanz andererseits?

 

(b) Sozialflucht und Sozialtourismus?

Freizügigkeit von Kapital und Arbeit gehört zu den gewünschten Freiheiten des Binnenmarktes. Die Mobilität von Kapital und Arbeit soll ermöglichen, dass die Produktionsfaktoren ihrer bestmöglichen Verwendung zugeführt werden, der Wettbewerb forciert wird und Innovationen, Wachstum und Wohlstand in allen beteiligten Ländern gefördert werden. Existiert zudem eine einheitliche Währung, werden die Standortbedingungen für die Unternehmen vergleichbarer. Kriterien der Standortentscheidung sind einerseits Steuer- und Abgabenbelastung, Lohnkosten, Umweltschutzkosten, Arbeitsschutz- und Mitbestimmungsregelungen, andererseits aber auch Arbeitnehmerqualifikation, Infrastruktur und Streiktage.
Bei kostenintensiver Sozialordnung von kollektivem Nutzen besteht individuell der Anreiz für die Kostenträger, in ein System abzuwandern, das geringere Leistungen von ihnen erwartet. Für potentielle Empfänger sozialer Leistungen besteht hingegen der Anreiz, in ein Land abzuwandern, das solche Leistungen verspricht. Verhalten sich die Wirtschaftssubjekte entsprechend dieser Anreize, muss das Angebot an sozialen Gütern in Ländern mit hohem sozialen Schutzniveau zwangsläufig sinken, da die Finanzierungsgrundlage ausgehöhlt wird, während der Bedarf an sozialen Leistungen steigt. Im Gegenzug ist aber eine Steigerung des sozialen Niveaus in den Ländern, in die angesichts der Anreizstrukturen Kostenträger zuströmen und Empfänger abwandern, nicht zwangsläufig, da die Gewährung von sozialen Leistungen auch ein Ausdruck der Kräfteverhältnisse ist. So stärkt allein die Möglichkeit der Auswanderung (exit-option) das Machtgefälle zugunsten der Finanziers, so dass sie unter Umständen nur auf diese Möglichkeit hinweisen müssen (Voice-Option), um ihre eigenen Belastungen zu mindern.
Neben diesen wettbewerbsbedingten Wanderungsstrukturen provoziert die europäische Rechtsprechung im Interesse, den Wanderarbeitnehmern keine Nachteile im sozialen Schutzniveau zu verschaffen, den Export von Sozialleistungen. Dies kann bedingen, dass Arbeitnehmer, die Leistungen nach bundesdeutschem Schutzniveau erhalten, in anderen europäischen Ländern damit einen erquicklichen Lebensunterhalt bestreiten können, womit Arbeitsanreize entfallen. Der hierdurch ebenfalls verursachte Ausfall gesamtwirtschaftlicher Nachfrage, aber auch der Wegfall an Kontrollmöglichkeiten über die Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen, bedingen kaum Anreize, soziale Leistungen auszuweiten - im Gegenteil.

Material 5

Süddeutsche Zeitung 05.05.1998

Ökonomie ohne Schleier

Der Wegfall der Wechselkurse im Euro-Land hat Folgen

VON HELMUT MAIER-MANNHART

Zwei mit dem Euro einhergehende grundlegende Veränderungen werden die ökonomischen Verhältnisse im Geltungsbereich der Gemeinschaftswährung prägen. Wenn demnächst von Lappland bis Sizilien Preise ohne Umrechnungstabellen auf einen Blick vergleichbar sind, dann wird zum ersten der Wettbewerb erheblich zunehmen. Clevere Anbieter werden dafür sorgen, dass bisher bestehende, nationale Preisunterschiede wie beispielsweise für Autos für jedermann sofort ersichtlich sein werden. Dies bedeutet nun zum zweiten, dass derjenige viel schneller die Quittung für wirtschaftliche Fehlleistungen erhält, der auf den zunehmenden Wettbewerb nicht reagiert. ...Nehmen wir das Beispiel Italien in den achtziger und frühen neunziger Jahren. Dort hat man recht sorglos mit Löhnen und Sozialausgaben hantiert, die in der Höhe nicht durch die Produktivität der Wirtschaft gedeckt waren. Um den dadurch entstandenen Wettbewerbsnachteil im internationalen Handel auszugleichen, ließ man einfach die Lira absacken. Dies hat zwar die Importe verteuert und die Inflation angetrieben, aber auch die Exportkonjunktur belebt und damit einen erheblichen Anstieg der Arbeitslosigkeit verhindert. Damit ist jetzt Schluß. Wer über die Stränge schlägt und über die Verhältnisse lebt, der bekommt dies ohne Filter und Zeitverzögerung zu spüren. Für Deutschland bedeutet dies, dass die Zeiten, in denen man die notwendigen Reformen ohne unmittelbare Konsequenzen auf die lange Bank schieben konnte, vorbei sind. In mancherlei Hinsicht ist unser Land schlechter für den Euro gerüstet als einige Partner, die ihre Arbeitsmarkt-, Sozial- und Steuerpolitik auf die neuen Herausforderungen zugeschnitten haben ...


Material 6

Süddeutsche Zeitung 18./19.11.1995

Zusammenwachsen - aber wie?

Die Folgen und Probleme des Wettbewerbs in der EU

VON PETER HAMPE

Die europäischen Grenzen fallen. Die vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes (freier Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr) sind dem Grundsatz nach verwirklicht. Der Wettbewerb intensiviert sich. Gleichzeitig bestehen zwischen den Mitgliedsstaaten nach wie vor erhebliche Einkommens- bzw. Wohlstandsdifferenzen und nicht zuletzt Unterschiede bei den Steuer-, Sozial- und Bildungssystemen, den Arbeitsmarktregelungen, bei Produktions- und Produktstandards. Gibt es hier weiteren Harmonisierungsbedarf oder können diese Unterschiede dem zwischenstaatlichen Wettbewerb überlassen werden? ... Mit dem Vertrag von Maastricht wurde versucht, das Problem durch die Betonung des Prinzips der Subsidiarität zu lösen. Was heißt Subsidiarität aber im konkreten Fall? Wann ist Harmonisierung angesagt, wann überflüssig. ... Die Folgen können und werden beträchtlich sein. Bei einem Land wie der Bundesrepublik mit hohen Lohn- und Sozialstandards und entsprechend hoher Besteuerung besteht z.B. die Gefahr, dass Unternehmen abwandern und sich günstigere Standorte suchen, während Armutsflüchtlinge angezogen werden. Dann könnte es der Bundesrepublik eines Tages so ergehen, wie vor einigen Jahren New York, das aufgrund großzügiger Sozialstandards soviel sozial Schwache anzog, dass es an den Rand des Bankrotts geriet. Wettbewerb zwischen den Sozialsystemen wird schrittweise zur Reduzierung der sozialen Standards führen - mit welchen Folgen?

(Auf einer Tagung in Tutzing machten) ... 50 Finanzwissenschaftler aus aller Welt ... deutlich, wie sehr der Teufel im Detail steckt. Die Frage lautet nicht: Harmonisierung oder Wettbewerb ... . Im Falle des Standortwettbewerbs zwischen Kommunen bzw. Ländern besteht z.B. die Gefahr, daß man sich gegenseitig in der Gewährung von Steuergeschenken übertrifft, um Unternehmen anzulocken (beim geplanten Mercedes-Werk in Alabama soll es z.B. an die 30 Jahre dauern, bis die gewährten Steuervorteile zurück fließen). Auch zwischen Staaten kann es zu Formen ruinöser Konkurrenz kommen! ... Der Wettbewerb wird unter solchen Umständen dazu tendieren, dass die nationalen Produktstandards gesenkt werden, um den eigenen Unternehmen Kostenvorteile zu verschaffen bzw. Nachteile zu vermeiden: es droht eine Art "Laschheitswettbewerb". ... Markt und Wettbewerb sind zwar die Erfolgsgeheimnisse westlicher Wirtschaftsordnungen, aber sie können schon im nationalen Rahmen nicht alle Probleme lösen. Daher hat der Staat bestimmte Aufgaben übernommen. Wenn er aber dort einspringt, wo der Markt versagt, so argumentiert insbesondere Hans-Werner Sinn, kann man nicht erwarten, dass die Wiedereinführung des Marktes durch die Hintertüre zwischenstaatlichen Wettbewerbs vernünftige Ergebnisse bringe. ...

Material 7

DIE ZEIT 24.09.1993

Europäischer Gerichtshof: Am Beispiel der Sozialpolitik zeigt sich, wie stark die Richter in Luxemburg in nationales Recht eingreifen können

Dreizehn mächtige Männer

VON JUDITH REICHERZER

... Über 1,3 Millionen Bürger aus anderen EG-Staaten leben in der Bundesrepublik - und haben damit ein Recht auf deren Leistungen. Dagegen leben nur 320 000 Deutsche im EG-Ausland. "Da gibt es oft die gleiche Konstellation, Deutschland zahlt nach Italien", meint der deutsche Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof, Carl-Otto Lenz, "aber es gibt eben kaum deutsche Wanderarbeiter, für die Italien zahlen müsste." Als die Gründer der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957 die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in den EWG-Vertrag schrieben und dabei jede unterschiedliche Behandlung von EU-Angehörigen ausschlossen, waren sie sich wohl kaum über das Ausmaß der Folgen bewusst. Deutsche Sozialleistungen müssen inzwischen nicht nur an die EG-Bürger gezahlt werden, die in Deutschland wohnen und arbeiten, das Geld muss auch ins Ausland überwiesen werden. So haben die Europa-Richter zum Beispiel entschieden, dass eine Italienerin, die in der Bundesrepublik aufgewachsen ist und dort wohnt, für ihr Studium in Italien deutsches Bafög bekommen muss. Ein in Deutschland arbeitender Italiener bekommt nach dem Willen des EuGHs deutsches Kindergeld für seine halbwüchsigen Kinder, die in Italien arbeitslos sind. Und ein Grieche, der nach einem Arbeitsunfall in Deutschland zurück in seine Heimat zieht, bekommt die deutsche Unfallrente weiter gezahlt, auch wenn die das Durchschnittseinkommen in Griechenland bei weitem übertrifft. ... Die italienische Familie Paletta war nach ihrem jährlichen Heimaturlaub regelmäßig kollektiv krank geworden. Der deutsche Arbeitgeber bekam dafür Atteste eines italienischen Arztes und sollte nach deutschem Arbeitsrecht den Lohn an die Palettas weiterzahlen. Mit der Zeit aber zweifelte er an der Glaubwürdigkeit der Atteste und stoppte die Lohnfortzahlung. Deutsche Richter hatten für einen solchen Fall eine Missbrauchsklausel in ihr Urteil eingefügt. Der EuGH aber entschied, dass der Arbeitgeber weiterzahlen müsse, da nach einer EG-Verordnung europäische Arztatteste gleichwertig seien. ... Die juristische Auslegung von europäischen Richtlinien und Verordnungen kostet die Deutschen nicht nur viel Geld, sie verändert langsam, aber sicher auch das nationale Sozialrecht. ... Noch mehr Zündstoff wird aus Luxemburg kommen, wenn erst das Maastrichter Abkommen ratifiziert ist. Dann nämlich erhält die EG und mit ihr der Gerichtshof neue Kompetenzen. Die Europa-Richter werden in ein paar Jahren über die Arbeitsbedingungen und die Verbesserung der Arbeitsumwelt entscheiden, über die Chancengleichheit von Mann und Frau auf dem Arbeitsmarkt, über Kündigungsschutz und über den sozialen Schutz der Arbeitnehmer. Selbst Teilbereiche des deutschen Betriebsverfassungsrechts wie die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer werden in die Zuständigkeit der EG fallen.

  1. Warum ist eine Absicherung gegen soziale Risiken für Wanderarbeitnehmer notwendig?
  2. Welche internationalen Entwicklungen beeinflussen das soziale System?
  3. Welche Folgen haben diese Entwicklungen und die europäische Rechtssprechung für das soziale System?
  4. Warum könnte Deutschland nach Meinung von Maier-Mannhart weniger als andere Länder auf den Euro vorbereitet sein?

(c) Soziales Dumping?

Befürchtet wird, dass Länder in der Konkurrenz um Weltmarktanteile gewinnen, indem sie auf kostentreibende Maßnahmen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz und der sozialen Sicherung verzichten und somit kurzfristig günstiger produzieren können. Auf diese Weise können Länder mit niedrigeren sozialen Standards solche mit höheren unter Druck setzen.
Dabei wird aber der soziale Nutzen des sozialen Systems vernachlässigt. Das soziale System ist keineswegs nur ein Kostgänger, sondern auch Voraussetzung oder gar Produktivkraft einer florierenden Wirtschaft. So weist Schmähl (1995: 19ff) darauf hin, dass durch Sozialsysteme die Produktivität positiv beeinflusst wird. Verbesserung der Gesundheit, Vermeidung von Unfällen, Förderung von Qualifikation verbessern unzweifelhaft das Humankapital. Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen erleichtern Mobilität und Strukturwandel. Auch ein günstiger Einfluss auf die Rahmenbedingungen der Produktion sind durch Minderung von Streikhäufigkeit und Verbesserung der Arbeitsbereitschaft ebenso wenig zu leugnen wie der positive Einfluss auf Produktqualität, Service und Lieferbedingungen.
Es muss berücksichtigt werden, dass Lohnnebenkosten einerseits nur ein Teil der Lohnkosten und diese wiederum nur ein Teil der Gesamtkosten sind, und die Wettbewerbsfähigkeit andererseits auch durch Produktivitätsunterschiede und Überwälzungsmöglichkeiten beeinflusst wird. So wundert es auch nicht, dass die ärmeren Länder Wettbewerbsnachteile für sich in ihrer schlechteren Infrastruktur und Arbeitnehmerqualifikation sehen und somit in den reicheren Ländern erheblich bessere Startchancen sehen. Berthold (1993: 37) hält den Dumping-Vorwurf denn auch für ungerechtfertigt, da mit zweierlei Maß gemessen wird:

"die Standortvorteile der reicheren Länder (Infrastruktur, qualifizierte Arbeitskräfte, soziales Klima) gelten als fair, die Standortvorteile der ärmeren Länder als unfair"

Material 8

iwd 9.Juli 1998

Arbeitskosten in der Industrie

Deutschland bleibt ein teures Pflaster

... Mit 47,92 DM je Arbeiterstunde war Westdeutschland 1997 mit Abstand das teuerste Pflaster. Auf den Plätzen folgen Norwegen mit 43,60 DM je Stunde und die Schweiz mit 42,90 DM.

Die ungeliebte Kosten-Weltmeisterschaft der westdeutschen Industrie resultiert daraus, dass sie neben dem vierthöchsten Stundenlohn die mit Abstand höchsten Personalzusatzkosten zahlt, nämlich 21,56 DM je Stunde. Dagegen überschreitet kein anderes Land die 20-DM-Grenze.

Während die westdeutschen Stundenlöhne den Mittelwert der übrigen Länder "nur" um 29 Prozent übertreffen, liegen die Zusatzkosten um satte 73 Prozent über dem Durchschnitt der Konkurrenz.

Schwacher Trost für den Standort Westdeutschland: Beim Vergleich der Zusatzkostenquote, also Zusatzkosten im Verhältnis zum Stundenlohn, gibt es einige Länder, die an Westdeutschland vorbeiziehen.

Die westdeutsche Industrie belegt mit einer Zusatzkostenquote von 82 Prozent den siebten Platz im internationalen Ranking. Deutlich höher sind die Quoten nur in Italien, Österreich, Frankreich und Belgien.

Beim Quoten-Spitzenreiter Italien übersteigen die Zusatzkosten sogar den Stundenlohn - je 1.000 Lire Direktentgelt müssen die Unternehmen 1.030 Lire an Lohnextras zahlen. Die hohen Zusatzkosten kommen vor allem durch die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung zustande: Sie machen 60 Prozent des Stundenlohns aus. ...Ausgesprochen niedrig sind die Zusatzkosten dagegen in Dänemark - auf 100 DM Stundenlohn kommen lediglich Extra-Zahlungen von umgerechnet 25 DM. Hintergrund: Die soziale Sicherung wird bei unserem nördlichen Nachbarn fast ausschließlich vom Staat getragen und über das Steuersystem finanziert. Trotzdem ist die Steuerbelastung der Unternehmen dort nur halb so hoch wie hierzulande. Die Kehrseite der Medaille: Ein lediger Arbeiter mit Durchschnittsverdienst zahlt in Dänemark 36 Prozent Lohnsteuer - weitaus mehr als seine Kollegen in allen anderen Industrieländern ....

Im vergangenen Jahr dagegen musste die westdeutsche Industrie für eine Arbeiterstunde 46 Prozent mehr ausgeben als der Durchschnitt der Konkurrenz.

 

Material 9

Süddeutsche Zeitung 22.06.98

"Deutschland gut für die Globalisierung gerüstet"

Zwickau (dpa) - Die deutschen Unternehmen sind nach Auffassung des BMW-Aufsichtsratsvorsitzenden Kuenheim für die Herausforderungen der Globalisierung gut gerüstet. "Unsere Stärken liegen in unserer historischen Substanz, in der Infrastruktur, dem Bildungssystem und der gesunden Mischung von großen und mittleren Unternehmen", sagte Kuenheim auf der Landeskonferenz der sächsischen Wirtschaftsjunioren in Zwickau. Hinzu kämen zum Beispiel im Hinblick auf die Autoindustrie gute technische handwerkliche Leistungen. Deutschland sei wirtschaftlich in den vergangenen Jahren nicht schwach, sondern stark geworden, die Deutschen sollten sich daher weniger mit ihren Schwächen befassen. Von außen gesehen, scheine Jammern eine deutsche Tugend zu sein. Trotz der Stärke gebe es eine Überregulierung in Deutschland. ...

Süddeutsche Zeitung 18./19. Juli 1998

Hilfe, wir sind zu produktiv

Die Leistung je Arbeitskraft ist stärker gestiegen als in anderen Ländern - weil die Arbeitskosten dies erzwungen haben.... Deutschland (West) weist jedoch bei weitem die höchste Zunahme der Stundenproduktivität aus. Die Ergiebigkeit der menschlichen Arbeit ist demnach in dem Zwölf-Jahreszeitraum um 36 Prozent gestiegen, in den Niederlanden dagegen nur um 25 Prozent, in den USA gar nur um 10 Prozent. Gleichzeitig wurde die durchschnittliche Jahresarbeitzeit in Deutschland und in den Niederlanden um rund zehn Prozent gesenkt, in den USA und in Großbritannien ist sie hingegen um bis zu vier Prozent gestiegen.

(Nach Ansicht von IAB-Chef Professor Gerhard Kleinhenz) hat die deutsche Industrie bei der Produktivitätsentwicklung des Guten zuviel getan. Sie hätte nicht so rasch voranschreiten und Beschäftigungsprobleme in dieser Höhe schaffen müssen, wenn sie beispielsweise die Humanisierung der Arbeitswelt stärker bedacht hätte. ...(Die Triebfeder für den Produktivitätszuwachs) war vielmehr die einzig mögliche, die Existenz sichernde Reaktion auf die hohen Lohnkosten und die noch schneller gestiegenen Sozialabgaben. ... Dass es auch anders geht, haben die Niederländer bewiesen. Sie haben über eineinhalb Jahrzehnte die Lohn- und Sozialkosten im Zaum gehalten. Die Folge: Die Produktivität hat weniger stark zugenommen als in Deutschland, die Erwerbstätigkeit um so stärker.

Material 10 Sozialstaat versus Globalisierung?

DIE ZEIT Nr. 30, 16.07.98

Sozial und siegreich

Wohlfahrtsstaat und Globalisierung schließen sich keineswegs aus

VON WOLFGANG ZANK

Über wirtschaftliche und soziale Probleme lässt sich bekanntlich trefflich streiten. Aber in einem Punkt scheint man sich in vielen Lagern einig zu sein: Die Globalisierung macht den Sozialstaat kaputt. ... Aber merkwürdig, irgend etwas scheint an diesem Bild nicht zu stimmen. Beispielsweise ließ der Economist von einer Forschergruppe ausloten, in welchen Ländern der Erde das Geschäftsklima für Investitionen am günstigsten sei. Auf Platz eins: Die Niederlande - ein Land mit hohen Löhnen, hohen Steuern und großzügigem Sozialstaat. Dort fühlen sich die Kapitalisten am wohlsten. Gleichzeitig sind die Niederlande einer der "globalisiertesten" Ökonomien der Welt. Trotzdem sinkt die Arbeitslosigkeit und die Kinder gehen im Übrigen in die Schule und seufzen nicht an Werkbänken. In Dänemark betrug 1996 die Steuer- und Abgabenquote nach OECD-Berechnungen satte 54 Prozent. Das ist der zweithöchste Satz der Welt. Dennoch landete Dänemark auf der Economist-Rangliste mit Platz sechs in der Weltspitzengruppe. Genau wie die niederländische Wirtschaft ist auch die dänische Wirtschaft hochgradig "globalisiert". Vergleicht man den Globalisierungsgrad Japans, der USA, Deutschlands, Dänemarks und der Niederlande, belegen die Niederlande und Dänemark die beiden ersten Plätze, gefolgt von Deutschland, den USA und Japan. Dieselbe Reihenfolge ergibt sich überraschenderweise aber auch, wenn man die staatlichen Sozialausgaben der Länder vergleicht. Japan hat die niedrigsten, die Niederlande die höchsten Sozialleistungen pro Kopf. Bedingung für eine erfolgreiche Globalisierung ist also keineswegs der Abbau des Sozialstaates. Das Gegenteil ist vielmehr richtig: Je ausgebauter der Sozialstaat, um so offener die Wirtschaft. Dieser Zusammenhang ist mittlerweile in mehreren statistischen Untersuchungen immer wieder bekräftigt worden (zusammengefasst beispielsweise im "World Labour Report" 1997/98 des International Labour Office in Genf).

Der enge Zusammenhang zwischen Globalisierung und Sozialstaat ist im Grunde auch nicht erstaunlich. Globalisierte Ökonomien müssen nämlich flexibel sein. Flexibilität bedeutet in vielen Fällen leider auch Entlassungen. Wenn es gutgeht, finden die Entlassenen anderweitig Arbeit. Aber nur, wenn die Opfer dieser Flexibilität darauf bauen können, dass die Gemeinschaft notfalls unter die Arme greift, kann der Prozess einigermaßen glimpflich über die Bühne gehen. Ansonsten droht Aufruhr, im schlimmsten Fall Mord und Totschlag. ... In Dänemark ... können Arbeiter und Angestellte von einem Tag auf den anderen entlassen werden. Als Gegenleistung für diese Flexibilität gewährt ihnen der Staat bis zu fünf Jahre lang neunzig Prozent des letzten Gehaltes als Arbeitslosengeld. ...

Die Globalisierung hat natürlich noch andere Zwänge geschaffen. Beispielsweise war es früher möglich, die öffentlichen Haushalte jedes Jahr mit großen Defiziten abzuschließen. Das geht heute nicht mehr. Finanzielle Investoren ... ziehen ihr Geld ab. Alle westlichen Regierungen stehen damit unter dem Zwang zur soliden Haushaltsführung. Auch unter sozialen Gesichtspunkten ist das jedoch nur zu begrüßen. Es ist nämlich nicht sehr sozial, viele Staatsschulden anzuhäufen und die Rechnung dann an die nächste Generation weiterzuleiten. Außerdem bedeuten hohe Schulden auch hohe Zinszahlungen. Unter sozialen Aspekten ist es aber alles andere als gerecht, Arbeitnehmer zu besteuern, um so das Geld für die Zinszahlungen an die Kapitalbesitzer aufzubringen. ...

 

(3) Konferenzspiel zur Gestaltung der sozialen Dimension Europas

Ausgang Allgemeine Information
Europa hat erhebliche soziale Probleme. 17,5 Mio. Menschen sind ohne Arbeit, die Arbeitslosenquote liegt bei 10,4%. 15 % der Bevölkerung gilt als arm. Die strukturell benachteiligten Regionen verteilen sich nicht gleichmäßig auf die Länder, auch hinsichtlich Armut und Arbeitslosigkeit existieren erhebliche Unterschiede. Probleme bereiten aber nicht nur die erheblichen Unterschiede, die Notwendigkeit der Minderung von Arbeitslosigkeit und Armut, sondern auch mögliche Wettbewerbsvorteile durch niedrige Löhne und soziale Abgaben, die Ausblutung der sozialen Systeme durch Zu- und Abwanderung sowie die Absicherung eines ausreichenden sozialen Schutzes in den Mitgliedsländern.Die Differenzen zwischen den sozialen Systemen und ihren Absicherungsniveaus, die Unterschiede in den Löhnen, Arbeitsbedingungen und Partizipationsmöglichkeiten geben Anlass zur Diskussion über die Gestaltung eines sozialen Europas.

 

Ablauf Diskussionsbedarf

Angesichts der Agenda sozialen Handlungsbedarfs ergeben sich viele Fragen, die in den vorbereitenden Sitzungen der Ländergruppen diskutiert werden müssten:

  1. Welche Probleme sollte man mit welcher Priorität gemeinsam angehen?
  2. Für welche Probleme sollte es eine einheitliche Regelung, für welche Mindestregelungen geben und welche sollten Nationalstaaten oder Tarifparteien selbst lösen?

Vorgeschlagene Tagesordnung der Konferenz:

  1. Ziel der EU in der Sozialpolitik
  2. Zuständigkeit und Kompetenz der EUin der Sozialpolitik
  3. Entscheidungsregeln im Bereich der Sozialpolitik
  4. Entscheidungen über soziale Probleme

 

Priorität Agenda sozialen Handlungsbedarfs
Priorität TOP Einheitlichkeit Mindestregeln Unterschiede EU Staat TP
  Koalitionsfreiheit    
  Mitbestimmung    
  Strukturmaßnahmen für einheitliche Lebensverhältnisse    
  Arbeitsschutz
  Unfallschutz    
  Erholungsurlaub    
  Arbeitszeit    
  Soziale Sicherung
  bei Wegzug    
  bei Krankheit    
  im Alter    
  bei Arbeitslosigkeit    
  des Existenzminimums    
  Beschäftigungspolitik    

 

Rollen A Dänemark (ähnlich auch Schweden, Finnland)

In Eurem Land hat jeder Mann und jede Frau ein Recht auf soziale Absicherung. Deswegen rechnet man Euch auch zu den ausgebauten Wohlfahrtsstaaten.

Je Einwohner gebt ihr sechsmal soviel für soziale Sicherheit aus wie Griechenland. Ein dänischer Arbeitnehmer hat zwar einen fünfmal so hohen Bruttoverdienst wie ein Portugiese, zahlt davon aber 47% an Steuern und Abgaben, während sich die Spanier auf 18% beschränken.Ihr steht einer Ausweitung der Kompetenzen der EU kritisch gegenüber und habt auch kein Interesse, in die europäische Integration zu investieren. Eure strengeren Regeln im Umwelt- und Sozialbereich habt ihr schon häufiger gegenüber den EU-Standards behauptet.

 

Rollen B Deutschland (ähnlich auch Frankreich, Benelux, Österreich)

In Euren Ländern werden die Einkommensersatzleistungen bei Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit einkommensbezogen gewährt. Das Gesundheitssystem steht jedem frei zur Verfügung. Für die Fälle, die durch dieses Netz fallen, steht als Auffangbecken die staatliche Fürsorge zur Verfügung.

Insbesondere in Deutschland sind sehr viele Arbeitnehmer im industriellen Sektor beschäftigt. Als wirtschaftlich stärkstes Land müsst Ihr freilich am meisten zum EU-Haushalt beitragen, doch profitiert Ihr auch erheblich durch die Öffnung der Märkte, in die mehr als 50% Eurer Ausfuhren gehen, durch Hilfen für den Agrarbereich und auch Ostdeutschland. Ein Problem seht Ihr insbesondere aber auch darin, dass ganz Ostdeutschland zu den strukturschwachen Gebieten der EU gehört. Dort liegt das Bruttoinlandsprodukt unter 75% des EU-Durchschnitts.

 

Rollen C Großbritannien (ähnlich auch Irland)
Ihr bezeichnet ein soziales System als ausreichend, wenn es sich auf die wirklich Bedürftigen beschränkt. Soziale Notlagen sollten vermieden werden und eine Absicherung auf niedrigem sozialen Niveau erfolgen. Dies führt auch dazu, dass diejenigen die arbeiten wollen, auch arbeiten anstatt durch leistungshemmende Anreize von der Arbeitssuche abgehalten zu werden. Ihr unternehmt etwas gegen die "Abhängigkeitskultur" und die "Explosion der Sozialkosten", obwohl - zugegeben - die britischen Sozialausgaben vergleichsweise gering sind. Eure wohlfahrtsstaatlichen Leistungen haben insbesondere die Vermeidung von Armut zum Ziel. Dabei bevorzugt ihr Beschäftigung und damit eine aktive Rolle des Staates bei der Integration in den Arbeitsmarkt. Diese Orientierung auf die Absicherung von sozialen Notlagen führt auch dazu, dass ihr seit kurzem die Beiträge zur Sozialversicherung für die ärmsten Arbeitnehmer streicht. Wer aber keinen Job oder keine Fortbildung annimmt, der erhält keine Hilfe mehr.

 

Rollen D Spanien, Portugal, Griechenland (begrenzt auch Italien)

Das soziale System in Euren Ländern ist gering entwickelt. Es gibt zwar staatliche Gesundheitsdienste, ansonsten freut Ihr Euch darüber, dass die soziale Absicherung über die Familie und die Nachbarschaft noch einigermaßen funktioniert. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt gehört Ihr zu den ärmsten Ländern Europas. Bis zu einem Viertel Eurer Beschäftigten verdienen ihr Auskommen im Agrarsektor. In Spanien ist ein Fünftel der Bevölkerung arbeitslos, in Portugal gilt ein Viertel der Bevölkerung als arm. Gerade Portugal und Griechenland haben mit allen Regionen weniger als 75 % des EU-Durchschnitts. Selbstverständlich würdet Ihr eine höhere soziale Absicherung in Euren Ländern begrüßen. Wenn aber soziale Standards auf einem hohen Niveau vereinbart würden, seht Ihr Eure Entwicklung erheblich gefährdet. Im Vergleich zu der höheren Produktivität, der besseren Infrastruktur, den Arbeitnehmerqualifikationen und dem technischen know-how der reicheren Mitgliedsländer seht ihr gegenwärtig Eure einzige Chance darin, durch niedrigere Löhne und soziale Leistungen den Entwicklungsvorsprung aufzuholen. Erst dann wird sich auch das soziale System verbessern. Auf weitere Ausgleichszahlungen für eure Entwicklung seit Ihr angewiesen.

 

(4) Reflexion: Harmonisierung ex-ante oder Nivellierung ex-post?

In der Reflexion sind folgende Fragen zu beachten:

  1. Wurde den anderen Gruppen deutlich gemacht, welche Unterschiede in Niveau und Ausgestaltung der sozialen Systeme der Ländergruppen liegen?
  2. Welche Prioritäten wurden für Einigungsbestrebungen ausgemacht?
  3. Haben die Gruppen eher auf den Wettbewerb der Systeme oder auf Vereinheitlichung gesetzt?
  4. In welchen Bereichen wurden gemeinsame Regelungen, in welchen Mindeststandards und in welchen nationale Gestaltungskompetenz angestrebt?
  5. Welches Konkretisierungsniveau wurde bei den Entscheidungen erreicht? Wurden gemeinsame Werte begründet, Ziele oder sogar gemeinsame Maßnahmen vereinbart?

In einem weiteren Schritt ist darüber nachzudenken, welche Folgen die vereinbarten Regelungen für die unterschiedlichen Mitgliedsländer mit sich bringen. Abstand nehmend von den ursprünglichen Rollen oder auch konkreten Vereinbarungen ist eine Diskussion über die Folgen der ex-ante Harmonisierung über Vereinheitlichung bzw. des Wettbewerbs der Systeme mit möglicher ex-post Harmonisierung über Nivellierung zu führen. Dabei sind folgende Gesichtspunkte von Bedeutung.

  1. Vereinheitlichungen führen angesichts der unterschiedlichen Ausgestaltungen der sozialen Systeme zu einem endlosen Regelungsunterfangen, ohne zu wissen, welches Modell das optimale ist. Vereinheitlichungen auf hohem Niveau nehmen den armen Ländern ihren einzigen Wettbewerbsvorteil, führen dort zu hoher Arbeitslosigkeit und verschärfen die Unterschiede, wenn es nicht zu Ausgleichszahlungen kommt.
  2. Wettbewerb der Systeme birgt die Gefahr des Unterbietungswettbewerbs.

Sanmann möchte den Regelungsbedarf denn auch nicht in einer solchen Schwarz-Weiß-Gegenüberstellung verstanden wissen, sondern sieht den Regelungsbedarf nach sozialen Sachverhalten begründet.

 

Abb. 3 Regelungsbedarf nach sozialen Sachverhalten
 
Sozialpolitische Sachverhalte
Für den wirtschaftlichen Wettbewerb notwendig
Den Wettbewerb sichernd
Leben und Gesundheit der Menschen in der Arbeitswelt fördernd und sichernd
Grundrisiken abdeckend
Lebensstandard verbessernd
 
Beispiele
Freizügigkeit
Koalitionsfreiheit
Unfallschutz, Erholungsurlaub
soziale Sicherung im Alter
Betriebsrenten
 
Regelung
Einheitliche und verbindliche Regeln
Mindestregeln unter berücksichtigung der Präferenzen und Leistungsfähigkeit
Keine gemeinsamen Regelungen
Zuständigkeit
Gemeinschaftsorgane
Nationalstaat
entwickelt auf der Basis der Folgerungen von Sanmann (1994)

 

Die Möglichkeiten gegenseitiger Unterbietung einbeziehend, schlägt Walwei (1997: 150) vor:

"Nur wenn ökonomische und sozialpolitische Gründe für eine Zuständigkeit der Gemeinschaft sprechen, sollte die Kompetenz auf die Gemeinschaft übergehen. Ökonomische Gründe für eine gemeinschaftsweite Regelung wären beispielsweise überregionale externe Effekte (z.B. wenn soziale Leistungen oder Bildungsausgaben Zu- und Abwanderungen auslösen würden) oder positive Skalenerträge (z.B. gibt es bei einer einheitlichen Arbeitsverwaltung oder Sozialversicherung weniger Reibungsverluste und kommen Größeneffekte zum Tragen). Eine gemeinschaftsweite Koordinierung kommt auch in Betracht, wenn es andernfalls zu einer sozialpolitischen Unterversorgung käme. Dies wäre der Fall, wenn die Mitgliedsländer im Prinzip weitergehende soziale Rechte bevorzugen würden, in Anbetracht ihrer gefährdeten Wettbewerbsposition aber soziale Standards nicht anheben können."

Zur Absicherung der sozialen Akzeptanz und zur Minderung der Abwärtsspirale bedarf es der Erarbeitung von Mindestvorschriften wie der Verringerung des sozialen Gefälles. Ein Sozialleistungsexport sollte ebenfalls nicht forciert werden, um die Sicherungssysteme nicht zu überfordern. Berücksichtigt werden müssen die Probleme, die sich aus den Entwicklungsunterschieden ergeben. Hier vollzieht sich eine Gratwanderung zwischen berechtigten Ansprüchen an soziale Sicherheit und dem Aufholbedarf der ärmeren Länder, die nicht zur Folge haben darf, dass die Liberalisierungsbemühungen nur den wohlhabenden Ländern nützen, während protektionistische Maßnahmen zu Lasten der ärmeren durchaus in Kauf genommen werden. Um eine adäquate Absicherung in sozialen Notlagen sowie der materiellen Absicherung von Lebensrisiken muss aus ethischen Erwägungen weiter gerungen werden.

(5) Vergleich: Ausgestaltung der sozialen Dimension in Europa

Die Vereinbarungen des Konferenzspiels sind mit dem Stand der bisherigen Regelungen auf der EU-Ebene zu vergleichen. Im Vertrag von Amsterdam wurde als Ziel der europäischen Gemeinschaft vereinbart,

"eine harmonische, ausgewogene und nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens, ein hohes Beschäftigungsniveau und ein hohes Maß an sozialem Schutz, die Gleichstellung von Männern und Frauen, ein beständiges, nicht-inflationäres Wachstum, einen hohen Grad von Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz der Wirtschaftsleistungen, ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität, die Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern." (Art. 2)

Die Gemeinschaft strebt neben handelserleichternden Maßnahmen die Koordinierung der Beschäftigungspolitik, der Sozialpolitik mit dem Europäischen Sozialfonds, die Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts sowie einen Beitrag zu einem hohen Gesundheitsschutzniveau an (Art. 3). Dabei legt sie sich allerdings auf das Subsidiaritätsprinzip fest, das bedeutet:

" ... In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedsstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können. ..."

Die Mitgliedsländer bekennen sich zu den Zielen der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989 (Art. 117) und konkretisieren Zuständigkeit, Entscheidungsregeln und Ausschlussbereiche (vgl. Abb. 4). Die Kommission muss den sozialen Dialog mit den Sozialpartnern führen. Der Ministerrat kann Richtlinien für Mindestvorschriften erlassen, die es den Mitgliedsstaaten erlaubt strengere Bestimmungen beizubehalten. Arbeitsentgelt, Koalitionsrecht, Streikrecht und Aussperrungsrecht sind jedoch ausdrücklich ausgenommen.

Abb. 4 Sozialpolitische Kompetenzen der EU nach Art. 118 EV laut Vertrag von Amsterdam
Erlass von Richtlinien mit Mindestvorschriften
Förderung der Zusammenarbeit durch die Kommission
mit qualifizierter Mehrheit
einstimmig
  • Verbesserung insbesondere der Arbeitsumwelt zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer sowie der Arbeitsbedingungen,
  • Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer,
  • berufliche Eingliederung der aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzten Personen,
  • Chancengleichheit von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt und Gleichbehandlung am Arbeitsplatz.
  • soziale Sicherheit und sozialer Schutz der Arbeitnehmer,
  • Schutz der Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsvertrags,
  • Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer? und Arbeitgeberinteressen, einschließlich der Mitbestimmung vorbehaltlich der Ausnahmebereiche,
  • Beschäftigungsbedingungen der Staatsangehörigen dritter Länder, die sich rechtmäßig im Gebiet der Gemeinschaft aufhalten,
  • finanzielle Beiträge zur Förderung der Beschäftigung und zur Schaffung von Arbeitsplätzen, und zwar unbeschadet der Bestimmungen über den Sozialfonds
  • durch Untersuchungen, Stellungnahmen und die Vorbereitung von Beratungen auf dem Gebiet
  • der Beschäftigung,
  • des Arbeitsrechts und der Arbeitsbedingungen,
  • der beruflichen Ausbildung und Fortbildung,
  • der sozialen Sicherheit,
  • der Verhütung von Berufsunfällen und Berufskrankheiten,
  • des Gesundheitsschutzes bei der Arbeit,
  • des Koalitionsrechts und der Kollektivverhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
Quellen: Europäische Union / Europäische Gemeinschaft 1995: EG-Vertrag / Vertrag von Amsterdam 1996

Durch Art. 130a wird der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt durch Ausgleichsfonds unterstützt:

  • Strukturfonds zur Verringerung der Rückstände in den benachteiligten Gebieten,
  • Regionalfonds zur Hilfestellung beim Ausbau der Infrastruktur,
  • Sozialfonds durch Maßnahmen zur Entwicklung des Humankapitals
  • Kohäsionsfonds zur Förderung besonders benachteiligter Regionen.

Für die Europäische Union kann angesichts der komplexen Regelungsverfahren, der Einbeziehung der Sozialpartner und der unterschiedlichen Interessen kaum eine Überbürokratisierung im sozialen Bereich erwartet werden. Die qualifizierte Mehrheit macht es allerdings möglich, Entscheidungen zu treffen, die über den kleinsten gemeinsamen Nenner hinausgehen. Durch die Fonds können Maßnahmen, die ärmere Länder benachteiligen, kompensiert werden. Hierin liegt sowohl der Preis als auch die Chance der internationalen Kooperation.

Literatur

Berthold, N. (1993): Sozialunion in Europa. Tübingen.

Bourdieu, P. (1998): Kapitalismus als konservative Restauration. In: DIE ZEIT Nr. 5, 22. Januar 1998, S. 45.

Fels, G. (1989): Die Sozialcharta ökonomisch gesehen. In: Däubler, W. (Hg.): Sozialstaat EG? Die andere Dimension des Binnenmarktes. Gütersloh, S. 161-170.

Kuhn, B. (1991): Sozialunion in Europa. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 3-4/91, 11. Januar 1991.

Schmähl, W. (1995): Engere ökonomische und politische Verflechtung als Herausforderung für die nationale Sozialpolitik. In: Schmähl, W./ Rische, H. (Hg.): Internationalisierung von Wirtschaft und Politik. Handlungsspielräume der nationalen Sozialpolitik. Baden-Baden, S. 9-44.

Schmähl, W. (1997): Europäische Sozialpolitik und die sozialpolitische Bedeutung der europäischen Integration. In: Schmähl, W./ Rische, H. (Hg.): Europäische Sozialpolitik. Baden-Baden, S. 9-37.

Walwei, U.(1997): Sozialpolitisch relevante Auswirkungen der vier Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarktes auf den Arbeitsmarkt. In: Schmähl/Rische (Hg.), S. 129-160.

Weber, B. (1998): Die soziale Dimension Europas: Harmonisierung oder Wettbewerb? In: Kruber, K.-P. (Hg.): Deutsche Gesellschaft für ökonomische Bildung: Europa - Herausforderung für die ökonomische Bildung. Bergisch Gladbach.

Zur Autorin

Dr. Birgit Weber, Wiss. Mitarbeiterin im Bereich Wirtschaftswissenschaften und Didaktik der Wirtschaftslehre und Geschäftsführerin im Sekundarstufenzentrum des Zentrum für Lehrerbildung an der Universität-Gesamthochschule Siegen, E-Mail: weber@zfl.uni-siegen.de

(c) 2001 Birgit Weber, Siegen; (c) 2001 sowi-online e. V., Bielefeld

Dieser Text ist unter gleichem Titel in veränderter Form erschienen in: arbeiten+lernen/Wirtschaft, 9. Jg. (1999) Nr. 33, S. 24-32.
© 1999 Verlag Erhard Friedrich, Seelze; © 2001 Birgit Weber, Siegen
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