Sozialwissenschaftliche Konfliktanalyse

„Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären. Nur weil die Ursachen fortbestehen, ward sein Bann bis heute nicht gebrochen.“ (Adorno 1959: 29)

1. Bezeichnung der Methode und Zielsetzung

Die sozialwissenschaftliche Konfliktanalyse im Sozialkunde- bzw. sozial- und politikwissenschaftlichen Unterricht ist aus zwei Perspektiven zu betrachten: Zum einen ist sie eine Methode, die SchülerInnen ein vertiefendes Verständnis von Texten ermöglichen soll. Dazu sind sowohl der Text selbst, den es zu erschließen gilt, als auch die SchülerInnen als Subjekte, die sich mit individueller Intention und unter ebenso individuellen Rahmenbedingungen eben jener Texterschließung annähern, wichtige Komponenten. Darüber hinaus sind bestimmte sozio-kulturelle Determinanten, etwa Ziele, Werte, Leitbilder und Moralvorstellungen zu beachten und für das Erlernen einer Methodik der Konfliktanalyse sowie für den Umgang mit Konflikten überhaupt zu betrachten (vgl. Sehringer 1976: 26f). Diese Perspektive auf die Konfliktanalyse ist demnach als eine Methodik zu begreifen, die sowohl auf ein Verständnis des Textes an sich abzielt. Die Analyse ist aber ebenso auf Aussagesysteme im Text gerichtet, die sich als Handlungsanweisungen verstehen lassen, die auch reale, gesellschaftliche Probleme als solche zu dechiffrieren vermögen. Die Handlungsstruktur eines Textes soll gewissermaßen als gesellschaftliche Moralstruktur gefasst werden und für „Wahrnehmung und Handeln im mikrosozialen Bereich“ (ebd.: 29) sensibilisieren. In diesem Zusammenhang soll die Konfliktanalyse in erster Instanz eine Methode beschreiben, die es SchülerInnen im Unterricht ermöglichen soll, mit Hilfe einer Textgrundlage gesellschaftliche Phänomene und Probleme zu erkennen, sich mit ihnen auseinander zu setzen und aus dieser Erkenntnis individueller politische und soziale Handlungsstrategien ableiten – gewissermaßen die Nutzbarmachung der Handlungsstruktur eines Textes als Simulationsinstrument sozialer Prozesse (vgl. ebd.).

Diese Fokussierung auf die Konfliktanalyse als Analyseinstrument sozialer Prozesse ermöglicht damit unmittelbar die zweite Perspektive auf die Methode. Sie ist nicht nur eine Anwendung spontan im Unterricht auftretender Konflikte, sondern eine gesellschaftspolitische Emanzipationsbestrebung. Sie versucht nicht nur eine Verbesserung eines konkreten Konfliktes herbeigeführt werden, sondern auch auf gesamtgesellschaftliche Verhältnisse wirksam zu werden. Konfliktanalyse ist also nicht nur eine rein situative Anwendung, sie hat die Probleme der Gesamtgesellschaft – in welcher Form diese sich äußern, ob in rassistischen Ausgrenzungsmechanismen, Homo- und Transphobie oder instabilen politischen Institutionen, ist dabei nur von sekundärer Bedeutung – zum Gegenstand (vgl. Giesecke 1976: 148f).

Elementares Ziel der Konfliktanalyse ist also das Schärfen des Sachverstandes bei der Lektüre von Texten im Unterricht. Zugleich soll diese Lektüre die Ausbildung „einer auf handlungsrelevante poli-tische Realitäten bezogene Vorstellungs- und Urteilsfähigkeit“ (ebd.: 144) befördern. Sie ist nicht nur ein didaktisches Instrument, vielmehr ist sie im gesellschaftlichen Prozess der Demokratie selbst enthalten, die auf „dem Prinzip des Nebeneinander ihrer Individuen“ (Sehringer 1974: 11, Herv. i. O.) beruht.

2. Ablauf der Methode

Giesecke entwickelte elf Leitkategorien, die sich zwar als notwendig wissenschaftliche Kategorien formieren, parallel allerdings auch die Weiterentwicklung in einem pädagogischen Kontext zulassen. Das Vorgehen bei der Konfliktanalyse wird nach Giesecke folgendermaßen kategorisiert: 1. Konflikt (Wer streitet mit wem?), 2. Konkretheit (Worum wir konkret gestritten?), 3. Macht (Wer hat welche Möglichkeiten sich wie durchzusetzen?), 4. Recht (Welche rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen existieren?), 5. Interesse (Wer hat welches Interesse?), 6. Solidarität (Wer unterstützt wen bei der Durchsetzung?), 7. Mitbestimmung (Wer kann wie bei Entscheidungen mitbestimmen?), Funktionszusammenhang (Welche Entscheidungen können welche Auswirkungen besitzen?), Ideologie (Welche Motive und Interessen stecken hinter den Argumenten, gibt es ein behauptetes Allgemeininteresse?), 10. Geschichtlichkeit (Ist die Historie des Konfliktes wichtig für das Verständnis des gegenwärtigen Konflikts?) und 11. Menschenwürde (Ist jemandes Menschenwürde durch den Konflikt beeinträchtigt?).

Diese Kategorien mit den dazugehörigen Kernfragen, bilden den Fokus der Gieseke’schen Konfliktanalyse und sind hier nur auf die zentralen Bedingungen reduziert darstellbar, sind aber an entsprechender Steller weiter ausdifferenziert (vgl. Giesecke 1976: 161-172). Zwar begründet Gieseke die Methode der Konfliktanalyse in der Theorie, den Versuch eines umfassenden didaktischen Stufenmodells zur anwendungsorientierten Konfliktanalyse beschreibt er nicht, gibt aber einige Hinweise auf deren Ausformulierung (vgl. ebd.: 172f). Diesbezüglich wurden Gieseckes Kategorien breitflächig von Kritiker*innen rezipiert. Den Vorwurf der deren Inpraktikabilität im Unterricht hat besonders Janssen erhoben, der elf Kategorien für eine zu große Anzahl hält und daher eine „Me-thode der Bearbeitung aktueller Konflikte“ (Janssen 1986: 68) in sieben Schritten befürwortet. Dieses Vorgehen kann allerdings nur bedingt überzeugen, da sie sich auf frühzeitige Generalisierungen verlässt und nicht den Einbezug der Lernenden mit ihren individuellen Emotionen und Erfahrungen an den Anfang des Lernweges stellt, wie es Giesecke vorschlägt (vgl. Reinhardt 2007: 88).

Auf dieser Grundlage konstruiert Sybille Reinhardt eine im Unterricht anwendbare Schrittfolge der Konfliktanalyse (vgl. Reinhardt 2007: 89).

Zunächst erfolgt die Konfrontation der Lernenden mit einem Konflikt, der zu einer Auseinandersetzung über das Thema führen soll. Es sollen alle Lernenden zu Wort kommen und ins Plenum tragen, was sie über diesen Konflikt wissen, um das Meinungsbild aller TeilnehmerInnen abzufragen.

In der Analyse sollen dann Gieseckes Kategorien (eventuell auch nur in einer Auswahl oder anhand bestimmter Leitfragen) auf zum Thema vorhandenes Material zugeschnitten und in der Sozialform der Gruppenarbeit bearbeitet werden, da sie bewusst Unterschiede produziert und diverse Zugänge ermöglicht.

In der Stellungnahme wird der recht spontane und subjektive Zugang vor dem Hintergrund der Analyse evaluiert. Verschiedene Möglichkeiten der Stellungnahme sind denkbar: Summarische Zusammenstellungen, erste Klärungen von Problemen in der Gruppe herausfordern, streitige Diskussion ohne explizites Verfahren, Stellungnahmen aller TeilnehmerInnen, die unabhängig von den anderen Gruppenmitgliedern zum Konflikt geäußert wird. Die Stellungnahme im Plenum er-möglicht, dass auch eigene Lebenserfahrungen und individuelle Werte in die öffentliche Sphäre des Plenums gebracht werden, die die Analyse des Materials um externe Aspekte erweitern. Das Kontrovers-Verfahren soll die in den Stellungnahmen abgegebenen Kommentare nutzen, um deutlicher unterrichtsinterne Verfahren und Methoden hervorzuheben, etwa Pro-Contra-Streitgespräche, Debatten oder Rollenspiele. Solche Verfahren verhindern weitgehend, dass der Konflikt zu einer „unfruchtbaren Zankerei“ (ebd.) ausartet.

Die Generalisierung soll nun die gesellschaftlich-politischen Dimensionen eines im Unterricht behandelten Konfliktes repräsentieren. Die Generalisierung soll zeigen, dass auch an scheinbar banalen Beispielen Inhalte von gesellschaftlicher Relevanz transportiert können. Die Konfliktanalyse im Unterricht soll also für gesellschaftliche Konflikte sensibilisieren und zeigen, dass Erkenntnisse auch den konkreten Fall transzendieren können.

3. Forschungsstand

Die sozialtheoretisch-philosophische Grundlage der Konfliktanalyse bildet das Werk Didaktik der politischen Bildung von Hermann Giesecke. Seine zuvor dargestellten kategorialen Schlüsselfragen gelten als Grundlage der sozialwissenschaftlichen Konfliktanalyse in der politischen Bildung. Während Giesecke sich besonders auf die Rahmenbedingungen von Konfliktsituationen, deren politischen Kategorien sowie deren Implikationen konzentriert, ist für Bernd Janssen der Schritt auf die Subjektebene zentral. Für ihn stehen die individuellen Prämissen, die Betroffenheit von Konflikten und die Möglichkeiten der Unterstützung etwaiger Betroffener im Mittelpunkt (vgl. Janssen 1986: 68f). Die darauf folgende, jüngere Literatur nach der Jahrtausendwende, hat sich besonders auf Durchführungsmöglichkeiten der von Hermann Giesecke aufgestellten zentralen Kategorien bezogen. Gieseckes theoretische Kategorisierung als praktische Anwendung in Form von Lernschritten wird von Sybille Reinhardt als zu kompliziert, zu komplex und als nicht plausible Lernstruktur für SchülerInnen kritisiert. Reinhardt zufolge ist es also zentral, bevor sich auf Gieseckes Kategorien über den didaktischen Aufbau des Unterrichts bezogen wird, die Lernenden mit der Konfliktsituati-on zu konfrontieren, um eine Auseinandersetzung zum Konfliktthema hervorzurufen (vgl. Reinhardt 2007: 88).

Die sozialwissenschaftliche Konfliktanalyse scheint insgesamt eine in der Didaktik der politischen Bildung unterrepräsentierte und marginal eingesetzte Methode zu sein. Während Gieseckes Werk als Klassiker und theoretische Grundlage der Konfliktanalytik zu betrachten ist, kann Reinhardts erstmals 2005 erschienenes Buch, das die Konfliktanalyse thematisiert, als deren methodischer Leitfaden gelten. In den letzten Jahren scheint die Methode der Konfliktanalyse gerade in der theoretischen Auseinandersetzung weniger präsent zu sein. Zwar wird die Konfliktanalyse teilweise angewendet (vgl. Bender-Szymanski & Hesse-Günter 1993: 153f), in einschlägigen Portalen und Publikationen zum Themenkomplex sozialwissenschaftlicher Methodik im (Sachkunde-, Politik- und/oder Deutsch-)Unterricht findet die Konfliktanalyse keinen expliziten Eingang (vgl. Hankele 2015, lehrer-online.de 2016).

Tatsächlich findet sich die Verwendung des Begriffs Konfliktanalyse in Bezug auf den Schulunterricht eher im Sinne der sozialwissenschaftlichen Analyse im Rahmen der politikwissenschaftlichen Teildisziplin der Internationalen Beziehungen und dort besonders in der Analyse von inter- und transnationalen Kriegs- und Konfliktsituationen. Als Beispiele können konstruktive Kriegsberichtertattungen, die Analyse von Klimawandel und Gewaltkonflikten sowie Fragen von Flucht oder Mig-ration genannt werden, die zwar alle als mögliche Felder einer unterrichtsinternen Konfliktanalyse dienlich wären, sich aber meistens nicht in der von Giesecke begründeten Tradition bewegen (vgl. z.B. fachportal-paedagogik.de 2016).

Es ist wichtig zu beachten, dass die sozialwissenschaftliche Konfliktanalyse in Didaktik, Pädagogik und politischer Bildung sich unmittelbar auf die demokratische Erziehung richtet und weder mit politikwissenschaftlichen Konfliktanalysen bzw. –theorien der internationalen Friedens- und Kon-fliktforschung (vgl. Bonacker 2008; Nicholson 1973) noch mit Formen der Konfliktanalyse, die Management- und Rhetorikdiskurse dominieren (vgl. Schwarz 2004), verwechselt wird. Hier ist die Verwendung der Vokabel Konfliktanalyse teilweise nur schwer in einem entsprechenden Kontext zu deuten, da kaum differenzierter Gebrauch des Begriffs gemacht wird.

4. Sozialwissenschaftlich-theoretischer Hintergrund

Der sozialtheoretische und -philosophische Hintergrund der Konfliktanalyse kann nur vor der Folie der Kritischen Theorie des Frankfurter Instituts für Sozialforschung rekonstruiert werden. Zwar war Gieseckes Didaktik der politischen Bildung zunächst 1965 erschienen, erhielt aber mit der starken Überarbeitung 1972 einen expliziten Bezug zur Frankfurter Kritischen Theorie. Dies gilt besonders für die Basis der sozialwissenschaftlichen Konfliktanalyse, die anhand der bildungspolitischen Prä-missen Theodor W. Adornos der späten 1960er Jahre überarbeitet wurde. Gieseckes Verdienst bleibt es dabei, dass der Umgang mit sozio-politischen Konflikten in der Gesellschaft unmittelbar als normative Orientierung am Gegenstand in die Unterrichtssituation eingebracht werden soll, und nicht als ‚Fremdkörper‘ objektiv und distanziert als Lerngegenstand behandelt wird (vgl. Reinhardt 2007: 78).

Die sozialwissenschaftliche Konfliktanalyse ist also als ein normatives Konzept zu verstehen und folgt damit der Idee einer kritischen Theorie der Gesellschaft, wie sie Max Horkheimer in seiner programmatischen Schrift Traditionelle und kritische Theorie 1937 entwickelt hat, die „vom Interes-se an vernünftigen Zuständen [in der Gesellschaft] durchherrscht[…]“ (Horkheimer 1937: 215) ist. Horkheimer gießt hier das in eine philosophische Form, was sich mit expliziten Bezug auch in der Zielsetzung der sozialwissenschaftlichen Konfliktanalyse niederschlägt. Nämlich die Orientierung an der Gesamtgesellschaft als Gegenstand ihres Interesses und die Etablierung eines menschlichen Verhaltens und Handelns, dass die soziale Interaktion der Individuen an normativen Maßstäben misst sowie diese kritisch reflektiert (vgl. ebd.: 223). Die Kritische Theorie ist darauf bedacht, die gesellschaftliche Praxis – in diesem Fall die didaktische Praxis in der politischen Bildung – der philosophischen Theorie anzupassen (vgl. Horkheimer 2007: 75).

Giesecke formuliert die Notwendigkeit einer politischen Bildung, die effektiv in gesellschaftliche Konflikte zu intervenieren bereit und dazu in der Lage ist, wenn er sich kritisch auf die im Jahr 1958 auftauchenden Schmierereien von Nazi-Symbolik an Synagogen, öffentliche Gebäude und jüdische Friedhöfen bezieht. Die politische Bildung wurde damit zum Politikum ersten Ranges, denn die mühsam verdrängte nationalsozialistische Vergangenheit der Bundesrepublik wurde der Weltöffentlich erneut sichtbar und zur beängstigenden Gegenwart (vgl. Giesecke 1976: 32). Der Aufsatz "Was heißt: Aufarbeitung der Vergangenheit" von Theodor W. Adorno, der ein Jahr später erschien, stellte für Giesecke den unmittelbaren Eingriff der Kritischen Theorie in die politische Bildung dar. Die politische Bildung soll(te) die Aufgabe übernehmen, die Erziehung nach Auschwitz als die „Allererste an Erziehung“ (Adorno 1966: 92) zu gewährleisten und das zweifelsfrei bestehende Nach-leben des Faschismus in der Demokratie mit pädagogischen Mitteln bekämpfen.

5. Argumente contra und pro Konfliktanalyse

Betrachtet man die Konfliktanalyse als eine Methode, die sich an den abstrakten Vorschlägen zu einer politischen Erziehung auch in den Formulierungen Theodor W. Adornos niederschlägt, fällt sie der Kritik anheim, der die Kritische Theorie des Frankfurter Instituts für Sozialforschung seit jeher ausgeliefert ist. Sie sei insofern idealistisch, da sie sich an normativen Gesichtspunkten orientiert, die in der gegenwärtigen Gesellschaft nur bedingt oder gar nicht aufzufinden sind. Dieser normative Anspruch kann – so die Kritik - kein Anspruch auf das Generieren verbindlichen und relevanten Wissens erheben (vgl. Adorno 1974: 125) und hat somit auch in der gegenwärtigen Pädagogik und der politischen Bildung kaum Gewicht. Darüber hinaus sind für die reine Umsetzung der Methode zwei zentrale Einwände einzubringen. Zunächst sind in auftretenden Konflikten zu gesellschaftspolitischen Kontexten die exakten, systematisch Konfliktparteien nicht ohne weiteres aus den aporetischen konfliktorientierten TeilnehmerInnen des Konfliktes entwickeln. Es besteht die Möglichkeit einer ‚verkrampften‘ Unterrichts-situation, da die gemeinsame Analyse des Konflikts von zu vielen Facetten durchzogen ist, die nicht unmittelbar zur plausiblen Erklärung des Problems führen können. Weiterhin ist die Analyse gesellschaftspolitischer Konflikte immer an politisch-soziale und milieuspezifische Gesamtvorstellungen geknüpft, die sich mittels einer ubiquären Kommunikation und Reflexion über gesellschaftliche Probleme und Phänomene nur bedingt aufbrechen lassen.

Die umfangreichen Studien zu Autorität und Familie (vgl. Horkheimer et al. 2005), die zu den ersten empirischen Studien des Frankfurter Instituts für Sozialforschung gezählt werden kann, untersuchte, dass sich besonders in patriarchal organisierten Familienstrukturen autoritäre, xenophobe und rassistische Denkformen ausbilden. Giesecke geht allerdings auch davon aus, dass sich die feudalistisch-patriarchale Binnenstruktur der Familie, die sich noch in Horkheimers Studien niederschlägt, schon damals als „Fossil aus vorkapitalistischen Zeiten“ (Giesecke 1976: 204) zunehmend Auflösungserscheinungen zeigte und objektiv auch in der Lage ist, kritisches, politisches Denken und Handeln in die Erziehung einfließen zu lassen.

Allerdings ist gerade der normative Gehalt der Konfliktanalyse ihre potenziell größte Stärke, die sich an einem demokratisch-emazipatorischen Gemeinwesen orientiert. Die kulturelle, soziale und gesellschaftspolitische Lage wirkt demnach auch als Aufforderung zu konkreten Verhaltensweisen, welche den „Charakter des Seinsollenden“ (Sehringer 1974: 12) annehmen. Die Organisation bestimmter Verhaltensweise in demokratischen Gesellschaft ist als Lernprozess der Individuen zu kategorisieren und wird somit zu Erziehungszielen, die von den politischen Institutionen definiert werden müssen.

Die Inhalte des sozialen Lernens sind also für demokratische Gesellschaften operationalisierbar und ermöglichen zudem auch eine Analyse der Struktur und Funktionswiese der modernen Demokratien selbst. An dieser Stelle ergibt sich allerdings bereits ein erstes Problem für die Lehrkräfte. Zwar sind die Werte, die die moderne Demokratie einfordert wünschenswert, ebenso sind die subjektiven Freiheiten, die sich in der Moderne manifestieren als eindeutiger Fortschritt gegenüber antiken und mittelalterlichen Konzeptionen von Gesellschaft zu bewerten, allerdings bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass auch die Lehrkräfte diese Werte annehmen und bejahen. Diese Perspektive ermöglicht allerdings zugleich auch die selbstkritische Reflexion der in demokratischen Gesell-schaften vermittelten Werte und kann zur Erneuerung, Verbesserung oder Reformulierung dieser Werte in einer freiheitlicheren Form führen. Adorno spricht in diesem Zusammenhang von einer „Erziehung der Erzieher“ (Adorno 1959: 26).

Die Konfliktanalyse besitzt also eine stark sozialpsychologische Komponente, die den Versuch unternimmt, die gesellschaftlichen Veränderungen und die Voraussetzungen unter denen demokratische Werte und Verhaltensweise gelernt werden sollen und können zu untersuchen. Die Konfliktanalyse ist aber nicht in erster Linie darauf fokussiert, die Werte und Normen demokratischer Gesellschaften zu formulieren, neue Werte zu evaluieren und alte zu redefinieren. Sie ist vielmehr ein idealtypisches Instrument, dass eine zentrale Aufgabe an die Lehrkräfte stellt; nämlich die Analytik gesellschaftlicher Konfliktlinien sowie die Problematisierung in der Sozialisation gelernter Denk- und Handlungsformen, die bestimmte, eventuell un- oder antidemokratische ebenso wie allgemein autoritärer Denkstrukturen ermöglichen, die sich auch in empirischen Studien fassen lassen. Diese bestätigen, dass auch in einer durch demokratische Institutionen organisierten Gesellschaft, die sich qua Verfassung auf allgemeine Menschenrechte beruft, autoritäre und menschenfeindliche Einstellungen zeigen können.

Der Gefahr, die Detlev Claussen in einer Pädagogisierung und Akademisierung einer Erziehung zur Mündigkeit erkennt, soll mit der sozialwissenschaftlichen Konfliktanalyse systematisch entgegengewirkt werden. Claussen geht davon aus, dass eine isolierte Pädagogik, die von den soziohistorischen Dynamiken entkoppelt ist, immer aufs Neue droht, die politische Situation zu reproduzieren, die Rassismus, Antisemitismus und Xenophobie in erschreckendem Ausmaß ermöglicht€. Je mehr solche Konfliktlinien von „aufgeklärten Pädagogen“ (Claussen 1987: 12) als reine Belehrungen in den Unterricht einfließen, die SchülerInnen lediglich zu Objekten der Thematik degradieren, -desto mehr staut sich das Ressentiment gegen den Inhalt dieser Belehrungen auf (vgl. ebd.:12f).

Der Vorteil, den die sozialwissenschaftliche Konfliktanalyse hier genießt, ist, dass sie als normatives Konzept eben nicht die Entmündigung der Adressat*innen bedeuten, sondern vielmehr eben jene zur Mitarbeit motivieren soll, indem Sie unter der Hinzunahme der von Giesecke grundlegend formulierten Kategorien möglichst autonom an konkreten gesellschaftlichen Konflikten arbeiten und deren Problemhaftigkeit herausstellen können. Dies ist zwar mitunter auch von emotionalen und intellektuellen Herausforderungen verbunden, „solche Wendung aufs Subjekt“ (Adorno 1959: 28) kann allerdings gleichzeitig eine Verstärkung dessen Selbstbewusstseins und damit die „Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen“ (Adorno 1966: 94) entwickeln sowie individuelles kritisches Denken und Handeln immer wieder neu reflektieren und evaluieren.

6. Beispielthemen/skizzen für ein Umsetzungsbeispiel

Heinz Klippert schlägt vor, die Konfliktanalyse mit den SchülerInnen vor dem Hintergrund alltäglicher Konfliktsituationen zu untersuchen, in denen die Motivationen der AkteurInnen sowie die allgemeine gesellschaftspolitische Lage näher spezifiziert und Lösungsmöglichkeiten erarbeitet werden (vgl. Klippert 2000: 150). Dazu können besonders gegenwärtige soziale und politische Phänomene wie Flucht, Klimawandel oder Arbeitslosigkeit benutzt werden. Folgend sind einige Bei-spiele aufgezählt, die zur Bearbeitung sinnvoll sein können – darüber hinaus können ebenso Zeitungsartikel, Radio- oder Fernsehbeiträge zu gegenwärtigen gesellschaftlichen Problemlagen als Grundlage einer unterrichtsinternen Konfliktanalyse benutzt werden.

Literaturhinweise und -beispiele zu möglichen Themen einer Konfliktanalyse:

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  • Europarat (Hrsg.), 2016: Bookmarks. Bekämpfung von Hate Speech im Internet durch Men-schenrechtsbildung, Wien: Edition polis http://www.politik-lernen.at/site/gratisshop/shop.item/106385.html
  • Behrens, Rico, 2013: Rechtsextremismus, Schwalbach am Taunus: Wochenschau. http://www.wochenschau-verlag.de/rechtsextremismus.html
  • Petri, Anette, 2015: Ökologie und Ökonomie, Schwalbach am Taunus: Wochenschau http://www.wochenschau-verlag.de/oekologie-und-oekonomie-1922.html
  • Ammerer, Wolfgang Buchberger & Johannes Brzobohaty (Hrsg.), 2015: Geschichte nutzen als historische Orientierungskompetenz für die Gegenwart, Wien: Edition polis http://www.politik-lernen.at/site/gratisshop/shop.item/106346.html
  • Leeb, Philipp, Renate Tanzberger & Bärbel Traunsteiner, 2014: Gender, Gleichstellung, Ge-schlechtergerechtigkeit, Wien: Edition polis http://www.politik-lernen.at/site/gratisshop/shop.item/106315.html
  • Steindl, Mari, Barbara Helm, Gertraud Steininger, Andrea Fiala & Brigitte Venus, 2008: In-terkultureller Dialog. Eine praxisorientiete Handreichung für Lehrkräfte, Wien: Edition polis http://www.politik-lernen.at/site/gratisshop/shop.item/104945.html
  • Popinga, Hannes, 2016: „Islamischer Staat“, Schwalbach am Taunus: Wochenschau http://www.wochenschau-verlag.de/islamischer-staat-3006.html

7. Verwendete Literatur und Quellen

  • Adorno, Theodor W., 1959: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: Kadelbach, Gerd, 1970: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Helmut Becker 1959-1969, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 10-28.
  • Adorno, Theodor W., 1966: Erziehung nach Auschwitz, in: ders., 1970: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Helmut Becker 1959-1969, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 88-104.
  • Adorno, Theodor W., 1974: Zur Logik der Sozialwissenschaften, in: Maus, Heinz & Friedrich Fürsten-berg (Hrsg.): Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt & Neuwied: Luchter-hand, 125-143.
  • Adorno, Theodor W., 1995: Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
  • Bender-Szymanski, Dorothea & Hermann Hesse-Günter, 1993: Interkulturelles Lernen. Ein psycho-logischer Zugang über Alltagstheorien von Lehrern und Schülern, in: Unterrichtswissendchaft Nr. 21, 2/1993, 147-166, online unter: http://www.pedocs.de/volltexte/2009/1690/pdf/Bender_Szymanski_Dorothea_Interkulturelles_Lernen_D.pdf (Abruf: 06.07.2016)
  • Bonacker, Thorsten, 2008 (Hrsg.): Sozialwissenschaftliche Konflikttheorie. Eine Einführung, Wiesba-den: VS.
  • Fachportal-paedagogik.de, 2016: Suchbegriff ‚Konfliktanalye‘, online unter: http://www.fachportal-paedago-gik.de/metasuche/fpp_list.html?feldname1=Freitext&feldinhalt1=Konfliktanalyse&senden=Suchen&bool1=and&feldname1=Freitext&mtz=20&ckd=yes&art=einfach&searchall=1&alleTermine=n&ur_wert_met=konfliktanalyse (Abruf 06.07.2016)
  • Giesecke, Hermann, 1976: Didaktik der politischen Bildung, München: Juventa.
  • Hankele, Madlaine, 2015: Methoden im Unterricht. Beispiele für die Praxis, in: Politik und Unter-richt. Zeitschrift für die Praxis der politischen Bildung, 1/2 2015, Villingen-Schwenningen: Neckar, online unter: http://www.politikundunterricht.de/1_2_15/methoden.pdf (Abruf: 06.07.2016)
  • Heitmeyer, Wilhelm, 2002-2011 (Hrsg.): Deutsche Zustände. Folge 1-10, Frankfurt a.M. & Berlin: Suhrkamp.
  • Horkheimer, Max, 1937: Traditionelle und kritische Theorie, in: ders., 2011: Traditionelle und kriti-sche Theorie. Fünf Aufsätze, Frankfurt a.M.: Fischer, 205-259.
  • Horkheimer, Max, 2007: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt a.M.: Fischer. Horkheimer, Max, Erich Fromm & Herbert Marcuse, 2005: Studien über Autorität und Familie. For-schungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung, Springe: Zu Klampen.
  • Janssen, Bernd, 1986: Wege politischen Lernens, Frankfurt a.M., Berlin & München: Diesterweg.
  • Klippert, Heinz, 2000: Pädagogische Schulentwicklung, Weinheim & Basel: Beltz.
  • lehrer-online.de, 2016: Suchbegriff ‚Konfliktanalyse‘, online unter: http://www.lehrer-online.de/suche/?tx_losearch_search%5Bquery%5D=konfliktanalyse (Abruf: 06.07.2016)
  • Nicholoson, Michael, 1973: Konfliktanalyse. Einführung in Probleme und Methoden, Düsseldorf: Bertelsmann.
  • Reinhhardt, Sibylle, 2007: Politikdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin: Cornelsen.
  • Schwarz, Gerhard, 2004: Konfliktmanagement, Wiesbaden: VS.
  • Sehringer, Wolfgang, 1974: Konfliktanalyse im Unterricht. Studien und Materialien für den Deutschunterricht und den Sozialkundeunterricht, Stuttgart: Klett.

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