Studienreisen als Möglichkeiten politischer Bildung

Klaus Jentzsch

"Reisen veredelt den Geist   
und räumt mit all unseren Vorurteilen auf"   
(Oscar Wilde)   

Wenn man sich das offene Seminarprogramm der Landeszentrale anschaut, findet man darin manche Reisen. Im Jubiläumsjahr geht es gar zur UNO nach New York. Wird hier der Auftrag der Landeszentrale nicht stark gedehnt? Ist auch die überparteiliche Bildungseinrichtung von der Reiselust gepackt?

Motiv und Rechtfertigung für politische Bildungsreisen liegen in folgenden Thesen:

  • Die Wirkung von Studienreisen geht weit über die bloß theoretische Unterrichtung hinaus.
  • Unsere Welt wird immer kleiner, also muß man sie auch kennenlernen. Begegnung mit der Fremde und den Fremden mit Neuem und Ungewohntem wird immer wichtiger.
  • Die Menschen reisen auch ohne Landeszentrale, aber diese Reisen haben meistens keinen Bildungswert.
  • Didaktisch orientierte Studienreisen für politische Bildung, die auch die nötige Qualität haben, bietet der Markt nicht.
  • Die Studienreisen werden unter der Maßgabe der absoluten Kostendeckung durchgeführt.
  • Die Landeszentrale erschließt sich über die Reisen auch neue Kunden, die sich künftig auch für "Normalangebote" der Landeszentrale interessieren.
  • Die bisherigen Erfahrungen mit Studienreisen auf dem Gebiet politischer Bildung sind durchweg positiv.

Immerhin reisten im Jahr 1995 über 80 % der Deutschen in die Ferne, 66 % davon ins Ausland. Trotz Rezession boomt die Reisebranche weiter. Offenbar gehört Reisen im Zeitalter der Erlebnisgesellschaft zum Lebensstil. Politische Bildung ohne Scheuklappen kann vor diesen Fakten die Augen nicht verschließen.

Wir holen Menschen dort ab, wo sie heute abgeholt werden wollen und verbinden damit auch ein weiteres Ziel weg von der Belehrungskultur, hin zur Lernkultur. Die Teilnehmenden unserer Studienreisen sollen Landschaften und Länder in ihrer Gesamtheit er"fahren".

Politische Bildung bietet damit eine wichtige Alternative zum Massentourismus. Wir sagen ja zum bewußten Reisen! Tourismus ist eines der vornehmsten Instrumente unseres Jahrhunderts in der Völkerverständigung geworden. Durch ihn lernen sich Menschen verschiedenartigster Sprachen, Religionen, politischer Richtungen und wirtschaftlicher Stellungen kennen. Sie kommen miteinander ins Gespräch, lernen andere Einstellungen und Geisteshaltungen verstehen. Studienreisen sind für uns also Voraussetzung für gegenseitiges Kennenlernen und Verstehen.

Wir verstehen Begegnungen als einen Dialog. Begegnungen sollen Brücken schlagen, Einstellungen verändern und mit allen Vorurteilen aufräumen. Unsere Studienreisen führen zu Begegnungen, wobei Begegnungen nicht nur auf Menschen, sondern auch auf Natur, Geschichte und Kunst bezogen sind, wohlwissend, daß diese Begegnungen und die damit gemachten Erfahrungen notwendig sind, um Zukunft verantwortlich mitgestalten zu können. Unsere Teilnehmenden an den Studienreisen erleben und erfahren die Notwendigkeit von Toleranz.

"Wir reisen im Geiste der Bescheidenheit." Nicht Luxushotels sind unsere Quartiere, sondern einfache, preiswerte und gemütliche Tagungsstätten und Hotels. Nicht Schlemmerreisen führen wir durch, denn die Verpflegung, die unseren Teilnehmenden geboten wird, ist einfach, aber gut. Damit erreichen wir auch den relativ günstigen Preis unserer Studienreisen. Jedermann/frau soll die Möglichkeit erhalten, mit uns zu reisen. Der Preis soll und darf kein Hinderungsgrund für eine Teilnahme an unseren Studienreisen sein. Wir sind hier einig mit Robert Jungk, dem Begründer des "sanften Tourismus".

Nicht bequem und passiv reisen unsere Teilnehmenden, sondern anstrengend und vor allem aktiv. (Erholen können sich unsere Studienreisenden vor oder nach unseren Aktiv-Studienreisen.) Auch sollen sie sich mit dem zu besuchenden Land vor der Reise zu Hause beschäftigen (oder während der langen Anreise) Aus diesem Grunde führen wir bei Auslandstudienreisen auch Vorseminare durch und geben den Mitreisenden entweder vor der Reise oder während der längeren Anreise z. B. im Bus Materialien, um sich einarbeiten zu können bzw. zeigen Videos über das zu bereisende Land im Bus während der Anreise zum Reiseziel.

Wir stellen auf den politischen Studienreisen auch bekannte Persönlichkeiten aus Kunst, Politik und Geschichte, die aus der bereisten Gegend bzw. dem Land stammen, in welches wir reisen, während der Fahrt bzw. am Abend den Reiseteilnehmenden vor. Dieses Spiel "Wer bin ich ?" ist, wie die Erfahrung zeigt, bei den Teilnehmenden sehr beliebt,ebenso das am Tagesanfang stehende "Wort zum Tage". (Nicht zu vergessen das abendliche verbale "Betthupferl", bei dem die Aufmerksamkeit auf Ereignisse gelenkt wird, die am betreffenden Tag einen hohen Stellenwert haben).

Wir geben unseren Reiseteilnehmerinnen und -nehmern bei innerdeutschen Reisen Gelegenheit vor Ort mit Bürgermeistern, Abgeordneten, Landräten, Regierungspräsidenten oder Repräsentanten aus anderen politischen Bereichen ins Gespräch zu kommen. Fast immer stehen Themen wie ökologische Zukunftssicherung, Müll, Umwelt auf dem Gesprächsprogramm. Mit den Reiseteilnehmern(innen) bereiten wir das am Tage Erlebte am Abend nach und den neuen Reisetag vor. Noch nie haben wir erlebt, daß ein Bürgermeister, Oberbürgermeister, Landrat, Regierungspräsident oder Vertreter eines Parlamentes unsere Anfrage, die Reisegruppe zu empfangen und mit den Teilnehmenden ein Gespräch zu führen, ablehnte. Solche Eindrücke die politisch von Bedeutung sind, werden nur bei Reisen, welche die politische Bildung arrangiert und organisiert, vermittelt.

Wir haben bei unseren Studienreisen auch soziale Lernziele im Auge. Wir wollen u.a. erreichen, daß unsere Teilnehmenden auf den Studienreisen Gemeinschaft und Gemeinschaftsfähigkeit (wieder) kennenlernen. Keiner reist für sich allein. Jeder ist auf Gemeinschaft angewiesen. Auf unseren Studienreisen soll jeder die Balance zwischen Individualinteressen einerseits und Anforderung an die Gemeinschaft andererseits finden. Darum werden immer wieder Spezialaufgaben während der Reise an kleinere Gruppen gegeben, die nur kooperativ gelöst werden können.

Reiseziele

Berlinreisen

Ungebrochen groß ist das Interesse an Studienreisen nach Berlin. Allein nach Berlin ist die Landeszentrale in den letzten 11 Jahren 20 Mal gefahren.Früher lernten die Teilnehmenden die Probleme der im "roten Meer" liegenden Insel kennen und konnten Ostluft (Besuch in Ostberlin war früher bei jeder Reise vorgesehen) schnuppern, heute sehen sie, was aus der Einheit geworden ist, wie diese ehemals geteilte Stadt - wenn auch unter Problemen - zusammenwächst. Nirgends besser als in Berlin erfahren die Teilnehmenden die deutsche Einheit und die damit verbundenen Probleme. Deshalb haben Berlinreisen auch künftig große Bedeutung.

Studienreisen durch Baden-Württemberg

Verständlicherweise rangiert diese Studienreise, die unter der Überschrift "Man kann nur lieben was man kennt" steht, sowohl von der Zahl der durchgeführten Studienreisen - immerhin 8 Reisen fanden statt - als auch von der Aufgabenstellung einer Landeszentrale für politische Bildung in unserem Land Baden-Württemberg ganz oben. Diese Studienreise ist praktizierte Landeskunde für Bürgerinnen und Bürger, die ihre Heimat näher kennenlernen und bisher Unbekanntes erfahren wollen. Viele Landesteile sind relativ unbekannt (den Württembergern Baden, den Badenern Württemberg und den Hohenzollern beides !?) Die Teilnehmenden erleben auf dieser Studienreise Kommunalpolitik in einer Klein- und einer Großstadt, erfahren vieles über Probleme eines Landkreises aus erster Hand und werden mit Brauchtum und Geschichte vertraut gemacht. Sie lernen landwirtschaftliche Strukturprobleme kennen und erhalten Informationen über die wirtschaftliche Entwicklung beim Besuch eines zumeist mittelständischen und für unser Land typischen Unternehmens. Ein Gespräch im Landtag mit dem Landtagspräsidenten beschließt immer diese zum festen Bestandteil unserer Bildungsarbeit gehörenden Studienreise.

Reisen ins Partnerland Sachsen

Begegnungen und Gespräche mit den Menschen insbesondere aus Leipzig und Dresden wie auch mit Repräsentanten aus Politik (inbegriffen ist ein Besuch im sächsischen Landtag) und dem kirchlichen Bereich, der Besuch einer ehemaligen Stasizentrale wie z.B. auch ein abendlicher Besuch einer Aufführung in der Semperoper machen diese Reisen für die Beteiligten äußerst interessant und attraktiv.

Reise durch die fünf neuen Bundesländer

Die Teilnehmenden er"fahren" und er"leben", was aus der deutschen Einheit seit der Wende geworden ist. Zumeist führen diese Reisen über Leipzig, Dresden, Weimar, Magdeburg, Potsdam nach Rostock und auf die Insel Rügen bzw. Hiddensee. Diese neuntägige Reise ist äußerst anstrengend (fast jede Nacht in einem anderen Bett !). Die Teilnehmenden lernen aber nicht nur (noch) andere Denkweisen deutscher Mitbürger auf dieser Reise kennen, sie erfahren ebenfalls viel über Kultur, Geschichte und Landschaft in einem meist noch unbekannten Teil Deutschlands.

Studienreisen nach Moskau und St.Petersburg

Diese Flug-Reise will eine Brücke sein zwischen Russen und Deutschen, zwischen zwei großen Völkern in Europa. Dabei lernen die Mitreisenden u. a. die beiden größten russischen Städte Moskau, die Hauptstadt des Landes und St. Petersburg, das "Fenster zur Ostsee" und damit auch die geistigen und politischen Zentren Russlands kennen. Neben Gesprächen in der deutschen Botschaft und dem Deutschen Industrie-und Handelstag(DIHT) in St. Petersburg stehen auf dem Besuchsprogramm, auch Begegnungen mit Menschen und der großen Kultur dieses Landes. So werden Gespräche mit Vertretern einer Stadtverwaltung geführt, eine russische Schule besichtigt, die Lehrerinnen und Lehrer dieser Schule kommen dabei zu Wort und mit den Teilnehmenden ins Gespräch. Auch eine Fabrikbesichtigung steht jeweils auf dem Programm, wie der Vortrag eines Universitätsprofessors über die derzeitige Situation in Russland.

Kaum eine Studienreise ist so gefragt wie diese nach Moskau und St. Petersburg und von kaum einer Reise kommen die Teilnehmenden so beeindruckt zurück wie von dieser.

Europareisen (Straßburg und Brüssel)

Europa ist nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, nicht nur eine Ansammlung von Beamten in Brüssel, Straßburg oder Luxemburg, die über Bananenmengen debattieren. Europa ist vor allem auch eine kulturelle Einheit, eine geistige Idee. Die jüdisch-christliche Überlieferung, die klassische griechisch-römische Philosophie und Geisteswelt, die Philosophie der Aufklärung mit ihren Humanitätsidealen, all das hat Europa entscheidend geprägt. Und daraus resultieren Werte wie Menschenwürde, Freiheit, soziale Verpflichtung und Ehrfurcht, auch vor der Natur. Werden diese Werte ernstgenommen, ließen sich viele Probleme wie Umweltzerstörung und Gewalt in der Gesellschaft leichter lösen.

Hongkong

Da die noch britische Kronkolonie Hongkong in nächster Zeit an die Volksrepublik China fällt, wurde 1995 diese prosperierende 6-Millionen Stadt aufgesucht, vor Ort Gespräche mit dem deutschen Generalkonsul in Hongkong geführt, ein Betrieb besichtigt,mit einem Vertreter des deutschen Industrie- und Handelstages in Hongkong diskutiert.Schließlich hat Hongkong eine große wirtschaftliche Bedeutung als Drehscheibe zwischen Asien und Europa-um zu erfahren, was die Vertreter und die Menschen für Hoffnungen bzw.Befürchtungen mit Blick auf die politische Veränderung haben.

Kennengelernt hatten die Teilnmehmenden dieser Flugreise auch, wie Menschen auf engsten Raum leben. (In manchen Vierteln leben 165.000 Menschen auf einem Quadratkilometer!)

Studienreisen zur UNO nach Genf und Wien

Die Koordinierungskonferenz unserer Landeszentrale für politische Bildung im Jahre 1995 in Tübingen aus Anlaß des 50-jährigen Bestehens der UNO war Anlass unserer Überlegung, einmal die UNO vor Ort kennenzulernen. So wurde die Idee geboren, eine Studienreise zwar (noch) nicht nach New York, (1997 ist eine Reise in die Hauptzentrale der UNO nach New York geplant) aber immerhin nach Genf und Wien ins Auge zu fassen. Die Teilnehmenden dieser beiden Reisen erfuhren vorort viel Interessantes nicht nur über die beiden europäischen Städte, insbesondere auch über die Arbeitsweisen der Vereinten Nationen, über den Einsatz der UNO für die Menschenrechte, über Abrüstungsbemühungen und -erfolge über internationale Drogenkontrolle und über die Möglichkeiten der Internationalen Atomenergiebehörde.

Wir vermitteln mit unseren Studienreisen unseren Teilnehmenden Kenntnisse über andere Menschen und Kulturen, wir vermitteln Begegnungen in unterschiedlichsten Bereichen, eingedenk des Martin Buber-Satzes "Alles wirkliche Leben ist Begegnung". Studienreisen haben ihren Sinn für uns darin, neben der äußeren Beweglichkeit bei den Teilnehmenden Neugier zu wecken, Toleranz zu leben und Verständnis auch für auf den ersten Blick Unverständliches aufzubringen und bereit zu sein, verändert von der Studienreise zurückzukommen. Der schönste Sinn einer Studienreise besteht unserer Meinung nach in verdichteten Erfahrungen, die sogar zu Verhaltensänderungen führen können.

Unsere Teilnehmenden leben und denken, wie die Erfahrung zeigt, nach den Studienreisen meist anders. Mit neuen Eindrücken, die sie auf Reisen sammeln konnten, kehren die Teilnehmenden bereichert zurück und berichten im Familien-, Kollegen- und Freundeskreis über Erlebtes; kurzum sie wirken als Multiplikatoren, gleich ob jung oder alt, gleich in welchem Beruf sie tätig sind bzw. waren.

Sicherlich sind Studienreisen nicht der goldene Pfad poltischer Bildung. Sie bieten aber eine wirksame Möglichkeit, wichtige Lernzeiel unter europäischen und globalen Aspekten zu erreichen, mit konventionellen "Trockenkursen" nicht zu packen sind. Politische Bildung muß deshalb den Mut zu Studienreisen haben, wenn auch Kritiker und Neider nur pure Reiselust unterstellen.

Deshalb wollen wir auch in Zukunft mit unseren politischen Studienreisen Interessierten Gelegenheit geben, nach dem Worte unseres Landsmannes Hermann Hesse zu leben:

"Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise
mag lähmender Gewöhnung sich entraffen"

Das Original ist unter dem gleichen Titel erschienen in: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hrsg.): Praktische politische Bildung. Stuttgart 1997, S. 76 - 82.

(c) 1997 Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Stuttgart

sowi-online dankt der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg sowie dem Verfasser für die freundliche Genehmigung zum "Nachdruck" dieses Textes im Internet.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Copyright-Inhabers unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, auch im Internet.