Verdecktes Theater

Verdecktes Theater kann überall da stattfinden, wo Menschen versammelt sind, d. h. im Supermarkt, in der Bank an der Bushaltestelle, im Café usw. Das Ganze ist ein wohleinstudiertes Stück einer kleinen Gruppe. Die Passanten spielen dabei mehr oder minder direkt mit, ohne dies allerdings zu bemerken.

"Verdeckt" heißt die Theaterform deshalb, weil die Beteiligten zunächst nicht wissen, daß dies eine gespielte Szene ist.
Das verdeckte Theater möchte zum Nachdenken anregen, möchte andere Standpunkte in der Öffentlichkeit zur Diskussion stellen, möchte mit Leuten ins Gespräch kommen. Das verdeckte bzw. unsichtbare Theater wurde in seinen Grundzügen von Augusto Boal als Technik des Theaters der Unterdrückten entwickelt.


Vorgehensweise

  • Die Gruppe wählt ein bestimmtes Verhalten (oder bestimmte Meinungen und Überzeugungen) der Bevölkerung aus, die aufgegriffen werden sollen.
  • Auf diesem Hintergrund wird ein Rollenspiel eingeübt, das darauf abzielt, viele Unbeteiligte mit dem Spielgeschehen anzusprechen, einzubeziehen oder sie zu bestimmten Reaktionen zu veranlassen. Das Spiel soll zwar provokativ sein, aber dennoch die Angstschwelle zur Beteiligung niedrig halten.
  • Es wird festgelegt, wo und wann die Szene in der Öffentlichkeit gespielt werden soll. Neben den direkt am Spiel Beteiligten werden Beobachtungsaufgaben vergeben.
  • Die Gruppe sucht ihren Spielort auf und spielt.
  • Im Rahmen des Seminars findet dann die Auswertung statt.

Das "versteckte Theater" bedarf eines geübten, sicheren Auftretens. Das Rollenspiel muß mehrfach geübt werden. Die Fähigkeit, Konflikte auszuhalten, gehört ebenso zum notwendigen Repertoire der Mitspielerinnen und Mitspieler, wie die Kunst, auf fremde Leute positiv einzuwirken. Je nach Zielgruppe ist es wünschenswert, daß Leute unterschiedlichen Alters (nicht nur Jugendliche) mitwirken. Die Tarnung bleibt bis zuletzt, so daß niemand erkennen kann, daß dies nur ein Spiel ist.

Die Relevanz für die Bildungsarbeit liegt in der Einübung solcher Stücke sowie in der Möglichkeit, unverblümte Reaktionen von Passantinnen und Passanten zu erleben. Die Auswertung und Aufarbeitung entscheidet dann über den Ertrag für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer.


Den Konflikt inszeniert

"Während sich der Feierabendverkehr langsam über den Gießener Innenstadtring quält, bauen zwei Leute, von den meisten kaum beachtet, unter dem weihnachtlichen Tannengrün der Promenade einen Stand zum Thema "Aids" auf. Plakate werden ausgerollt, Prospekte auf dem Tisch verteilt. Der Mann klimpert mit einer Büchse, spricht Passanten an, bittet um eine Geldspende. Ein Pfarrer kommt hinzu und schimpft. Über Moral und die gottlose Gesellschaft. Seine Stimme ist laut, fast aggressiv.

Die ersten mit Einkaufstüten bepackten Menschen bleiben stehen, schauen zu. Abwartend und eher amüsiert. Dann springt Thomas, der den Schurken mimt, aufgebracht aus der Menge vor zu dem Tisch. Schreiend, fluchend, polternd schmeißt er den Tisch um, brabbelt faschistische Parolen. Sekunden später liegt das Material der Aids-Hilfe neben den Geldmünzen verstreut auf dem Boden. 30, vielleicht 40 Menschen stehen staunend 'rum. Niemand greift ein.

,Vielleicht sollte man die Polizei holen', sagt jemand. Nichts passiert. Nur als der randalierende Skin von der Fußgängerbrücke aus ein gellendes ,Ins Lager müßten die Schwulen, alle' den Menschen zubrüllt, geht ein Raunen durch die Menschen. Irritierte Blicke. Beklommenheit und Sprachlosigkeit. (...)

Thomas, der ,Skin', erzählt Stunden später im Jugendzentrum Jokus, das die Schauspieler im Rahmen der Aids-Projektwoche engagierte, von einem Ehepaar, Mitte 40. Die hatten die Szene im Seltersweg beobachtet. Als die beiden ihm anschließend begegneten, sagte der Mann zu Thomas: ,Gut so, Junge, weiter so'. Dann fuhr das Paar im dicken Wagen davon."

Volker Trunk: "Theater von Menschen für Menschen". In: Frankfurter Rundschau, 27. 11. 1992.


Erfahrungsbericht

" Zwischendurch hatte sich ein Teamer unauffällig entfernt und tauchte mitten in der Diskussion wieder auf, geschminkt und als Punker verkleidet, so daß er von einigen Teilnehmerinnen bzw. Teilnehmern bis zum Schluß des nun folgenden Gesprächs nicht wiedererkannt wurde.

Durch provozierendes Auftreten und Fragestellungen versuchte er allen gängigen Vorurteilen und negativen Erscheinungsformen gerecht zu werden, die in der Öffentlichkeit verbreitet sind. Durch offene Anwerbungsversuche von Jungen als ,roadies' für eine Punk-Rock-Tournee und Mädchen als Verkäuferinnen für eine Punk-Mode-Boutique, sowie durch abschätzige Bemerkungen über Ziele und Inhalte des Wochenendseminars versuchte er, in zugespitzter Weise die kommerziellen Interessen am Punk-Rock zu verdeutlichen. Er stellte sich zugleich als Talentsucher für eine Plattenfirma vor und versprach mögliche Aufstiegschancen und das ,große Geld' für Jugendliche, die selber Musik machen würden und talentiert wären.

Nach anfänglicher Fassungslosigkeit erkannten die Jugendlichen zunehmend den provozierenden Charakter der vorgestellten Interessen parallel zu der Erkenntnis, daß der ,Punker' ein Teamer war und sie die Teilnehmer eines Situationstheaters; sie reagierten durch eine ähnlich aggressive Veröffentlichung ihrer Interessen, z. B., daß sie eine Musik haben wollten, die ,ihre' ist und ihrem Lebensgefühl entspricht, und sie sich verhalten und anziehen wollen, wie es ,ihnen' paßt, und nicht, wie es Eltern oder Modeindustrie vorschreiben."

Robert Krieg: Kulturelle Bildung als Chance politischer Bildung. In: Materialien zur politischen Bildung.

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