Berufsorientierung ist mehr als Anpassungsqualifizierung für die Belange der Wirtschaft. Als letzte verbliebene gesellschaftliche Einrichtung, die alle jungen Menschen erreicht, haben Schulen zudem eine wichtige Funktion für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. In einer Gesellschaft, die den Anspruch erhebt, die Gestaltung ihrer Lebensbereiche demokratisch zu legitimieren, hat Schule die Aufgabe, Einsicht in die sozialen, ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen zu geben. Jugendliche müssen darauf vorbereitet werden, an den Entscheidungen über die künftige Gestaltung der Gesellschaft mitzuwirken. Schulen können helfen, die Standards und Werte unserer Gesellschaft zu verbessern, damit Menschen nicht auf ihre ökonomische Verwertbarkeit reduziert werden. Dies schließt die Fähigkeit junger Menschen ein, die eigene Arbeitskraft selbstbestimmt "so teuer wie möglich" zu verkaufen.

In dieser Situation werden Schulen gebraucht, die Chancengleichheit und eine fundierte Bildung anstreben, damit alle jungen Menschen entsprechend ihrem "Lerntyp" ihre Talente und Potenziale entwickeln können. Es werden Schulen gebraucht, die es der jungen Generation ermöglichen, gleichermaßen konkurrenz- und solidaritätsfähig zu werden.

Arbeitsbezogene technische und ökonomische Inhalte stellen in diesem Zusammenhang zentrale Themen allgemeiner Bildung dar, mithilfe derer Heranwachsende auf das zukünftige gesellschaftliche Leben am Arbeitsplatz und anderen Orten vorbereitet werden. Veränderungen und Verschiebungen in der Arbeitswelt müssen von ihr wahrgenommen werden. Lehrerinnen und Lehrer müssen ihre pädagogische Kompetenz dafür einsetzen, dass Schülerinnen und Schüler in der Berufsorientierung und späteren Berufswahl bewusste Entscheidungen treffen können.

Dieses Bewusstsein sollte sich auf die Unterstützung des Selbstwertgefühls und des Selbstbewusstseins beziehen, in dem die Schülerinnen und Schüler gestärkt werden die Ausbildung anzustreben, die ihren Begabungen und Interessen entspricht und nicht zu früh Abstriche zu machen, nur weil der Markt sie in die Schranken weist.

Die Hinführung zur Wirtschafts- und Arbeitswelt wurde im Katalog vieler Schulrichtlinien festgeschrieben. Zur Entwicklung dieser Kompetenzen und von Ansätzen der Umsetzung im Unterricht sind vielfache Voraussetzungen geschaffen worden. Die meisten Haupt-, Real- und Gesamtschulen führen Schülerbetriebspraktika durch. Gleiches gilt in einigen Bundesländern für die Gymnasien. Und dieses Betriebspraktikum wird von den Schulen vielfach dazu genutzt, eine erste Berufsorientierung zu leisten.

Auf den ersten Blick passiert hier eine ganze Menge. Erschrecken muss jedoch die Tatsache, dass sich die Jugendlichen immer noch auf bestimmte Ausbildungsberufe beschränken und nicht ausreichend über die ganze Bandbreite der mehr als 360 dualen Ausbildungsberufe informiert sind. Noch immer wird Berufsvorbereitung und Berufsorientierung heute von den meisten Schulen als etwas angesehen, was man zusätzlich leistet und wozu man eigentlich nicht da ist. Das ist ein Irrtum.
Die eine große Hauptaufgabe von Schulen ist es, Schülerinnen und Schüler bei der Berufsorientierung und bei der Berufseinmündung zu unterstützen. Nicht als Ersatz des Arbeitsamtes, aber durchaus in Kooperation mit dem Arbeitsamt und in ganz enger Kooperation mit den Betrieben. Deshalb muss auch gefragt werden, ob es nicht zu spät ist, wenn die Kooperation erst bei Jugendlichen mit 14 oder 15 Jahren beginnt.

Der berufsorientierende Unterricht muss die herausragende Bedeutung der Erwerbsarbeit für die Persönlichkeitsentwicklung zum Inhalt haben. Schülerinnen und Schüler müssen Kenntnis über die Handlungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten zur Realisierung ihrer Lebenspläne im Beschäftigungssystem und für dessen Mitgestaltung erhalten. Sie sollen darüber hinaus Einsichten über die Möglichkeiten einer eigenverantwortlichen, sachkundigen und persönlichkeitsbezogenen Entscheidung für eine Ausbildung oder ein Studium und die folgende berufliche Laufbahn erwerben. Letztendlich gilt es, die politische Gestaltung des Wirtschafts- und Beschäftigungssystems und der internationalen Wirtschaftsbeziehungen zu verstehen.

In der Berufsorientierung sind deshalb folgende Leitfragen zu beantworten:

  • Wie gestaltet sich die Arbeitswelt praktisch?
    (Welche Anforderungen sind zu erwarten? Welche Mitwirkung am Arbeitsplatz ist möglich und nötig? Welche Chancen bestehen, eigene Ideen einzubringen?);
  • Mit welchem Know-how, mit welchen Techniken wird heute in Produktion und Dienstleistung gearbeitet?
    (Welchen Stellenwert nimmt dabei Kommunikation, Medienkompetenz, Wissenserschließung, Wissenstransfer und soziale Kompetenz ein?);
  • Was ist das Ziel der Wirtschaft?
    (Welche Kräfte stehen sich gegenüber? Welchen Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten folgt der Markt? Wo sind und wo müssen Grenzen gesetzt werden? Welche Wege stehen dazu zur Verfügung?);
  • Welche Rolle spielt der Mensch im Markt als Verbraucher?
    (Welche Wirkungen zeigt sein Marktverhalten? Welche Kompetenz ist erforderlich und welche Rechte stehen zur Verfügung?);
  • Welche neuen, interessanten und zukunftssicheren Berufe gibt es?
    (Dazu müssen nicht nur formale Qualifizierungswege aufgezeigt werden, sondern entschieden mehr thematisiert werden, wie eine chancenreiche Lebens- und Berufswegplanung aufgebaut werden muss.)

Um diese Fragen beantworten zu können, um sie mit der Lebenswirklichkeit verbinden zu können, bedarf es einer aktiven Auseinandersetzung und damit einer Öffnung des Unterrichts. Im berufsorientierenden Unterricht - aber nicht nur dort - brauchen wir einen verstärkten Praxisbezug. Lernen soll und kann kein geschlossenes Weltbild ergeben, sondern verschiedene Zugänge zur Realität zeigen. Dieses Verständnis von Lernen liegt jedoch bisher vielfach quer zur curricularen Praxis in Schulen. Dort findet sich noch oft die Vorstellung eines geschlossenen Wissenskanon, der sich vom traditionellen Lernbegriff aus begründet. Die Orientierung ist hier das überprüfbare Wissen. Die Lernprozesse selbst, die Entwicklung von Interessen und die Erweiterung von Handlungskompetenz einschließlich der damit im Zusammenhang stehenden sozialen Erfahrungen werden darin vernachlässigt.

Gerade die Ergebnisse der PISA-Studie haben gezeigt, dass Anwendungsbezug und Praxisorientierung viel stärker zum schulischen Alltag gehören müssen: gegen die herrschende Form der lehrerfixierten Wissensvermittlung optiert eigenverantwortliches, selbst gesteuertes Lernen, gegen einen Unterricht im 45-Minuten-Takt spricht alles für einen projektorientierten Lernzusammenhang, gegen die Vermittlung von bloß abstrakten Wissensinhalten sind praxisbezogene und projektorientierte Formen der Wissensvermittlung zu setzen, gegen die fortschreitende Verdichtung der Stoffpläne wird die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen benötigt.
Dies ist dann auch eine wesentliche Voraussetzung für ihre spätere berufliche Karriere.