Rein formal gilt auch in der schulischen Berufsorientierung Chancengleichheit. Berufswahlvorbereitung, Betriebserkundungen und Betriebspraktika gelten für Mädchen wie Jungen gleichermaßen. Und auch die alte Trennung in Hauswirtschaft für Mädchen und [/S. 122:] Technik für Jungen ist längst ein alter Hut. Ein etwas genauerer Blick aber zeigt sehr schnell, dass in der schulischen Berufsorientierung weder die mit der geschlechtlichen Arbeitsteilung zusammenhängenden Widersprüche zur Sprache kommen, noch der Komplexität des weiblichen Berufsfindungsprozesses Rechnung getragen wird.

  1. Wie im Alltagsverständnis gilt auch für den berufsorientierenden Unterricht: Arbeit, das ist Erwerbsarbeit, berufsförmig organisierte, marktvermittelte Arbeit. Die andere, die nicht marktvermittelte, die unbezahlte, nach den Marktgesetzen "wertlose", für das Überleben der Menschheit aber notwendige Arbeit wird nicht thematisiert. Damit bleibt nicht nur ein wesentlicher Teil der von Frauen geleisteten Arbeit unberücksichtigt, sondern es werden auch die eigentlichen Ursachen für Widersprüche und Ambivalenzen im weiblichen Berufsfindungsprozess und für die ungleichen Situationen von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt nicht benannt: die hierarchischen Geschlechterverhältnisse und die geschlechtliche Arbeitsteilung.
  2. Schulische Berufsorientierung orientiert sich bisher einseitig an Erfahrungen und Perspektiven der männlichen Erwerbsbiografie und setzt diese als Norm. Dass es daneben auch eine andere "Normalität" gibt, die z. B. durch Berufsunterbrechungen, Teilzeitarbeit, Wiedereinstiegsprobleme und Versorgung von Kindern neben der Erwerbsarbeit - möglicherweise aber auch durch andere Interessen und Lebensentwürfe - gekennzeichnet ist, wird selten angesprochen. Dadurch bleiben die spezifischen Berufs- und Lebensperspektiven, Sichtweisen und Erfahrungen des weiblichen Geschlechts ausgeblendet.
  3. Seit einigen Jahren steht zwar in Schulbüchern und berufsorientierenden Materialien die Lohntabelle der Frauen neben der der Männer, wird darauf hingewiesen, dass Frauen auf wenige "frauenspezifische Berufe" konzentriert und häufiger erwerbslos sind als Männer. Damit aber wird lediglich eine schlechte [/S. 123:] Wirklichkeit registriert, nicht aber nach Ursachen und Erklärungszusammenhängen gefragt. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass Frauen selber schuld oder eben unzureichend qualifiziert seien, wenn sie in den "Frauenberufen", den unteren Lohngruppen und Positionen verbleiben.
  4. Ein wichtiger Bestandteil schulischer Berufsorientierung sind Betriebserkundungen und Betriebspraktika. Sie werden mit Mädchen und Jungen gleichermaßen und zunehmend in allen Schulformen durchgeführt. Vielfach erwarten Eltern, SchülerInnen und Lehrerinnen von Praxiserkundungen und mehr noch vom Betriebspraktikum, dass sich darüber Eignung und Neigung für einen Beruf feststellen lassen, dass die Wirklichkeit der Arbeitswelt unmittelbar erfahren und damit die Berufswahl auf eine rationalere Grundlage gestellt werden kann. An dieser SteIle kann nicht ausführlich darauf eingegangen werden, warum derartig hohe Erwartungen unrealistisch sind und welche didaktischen Probleme mit einem Betriebspraktikum verbunden sind; ich möchte nur kurz auf zwei Gefahren hinweisen, die ein unreflektierter Umgang mit Praxiskontakten mit sich bringt:

    Erstens auf die Gefahr der affirmativen Wirkung des Betriebspraktikums: Praktikantinnen und Praktikanten ordnen sich im Praktikum notwendigerweise in eine ihnen fremde und von ihnen nicht zu verändernde Situation ein. Der Ausbildungsplatzmangel der vergangenen Jahre verstärkte eine unreflektierte Anpassung an betrieblich vorgegebene Anforderungen. Zugleich wird der Betrieb als ein Ort wahrgenommen, der durch technisch-funktionale Erfordernisse geprägt ist und der sachgesetzlichen Notwendigkeiten folgt. PraktikantInnen können zwar beobachten, wie ein Betrieb organisiert ist, wo weibliche und männliche Arbeitskräfte eingesetzt, welche Anforderungen gestellt und welche technischen Mittel verwendet werden, aber sie können nicht ohne weiteres erkennen, warum das so ist, welche Entscheidungen dahinter stehen und wer diese [/S. 124:] Entscheidungen mit welchem Interesse getroffen hat. Wesentliche Merkmale der Arbeitssituationen, ihre Interessenbestimmtheit und die gesellschaftliche Überformung oder Veränderungstendenzen sind der bloßen "Anschauung grundsätzlich unzugänglich und können nur auf der Grundlage von Vergleich, Verallgemeinerung und theoretischen Überlegungen erschlossen werden" (Feldhoff u. a. 1985, S. 54).

    Ein zweites Problem liegt in der Gefahr falscher Schlussfolgerungen und falscher Verallgemeinerungen. Froh darüber, endlich einmal etwas anderes machen zu können als in der oft als kopflastig empfundenen Schularbeit, beurteilen die meisten SchülerInnen die Arbeit im Betriebspraktikum danach, in welchem Ausmaß sie praktisch tätig sein können und ob sie sozial, d. h. als Erwachsene anerkannt werden. Diese Kriterien sind für eine Beurteilung des Betriebspraktikums durchaus sinnvoll. Werden aber aus den positiven oder negativen Erfahrungen hinsichtlich dieser Kriterien Schlussfolgerungen für den Beruf gezogen, so handelt es sich um unzulässige und falsche Verallgemeinerungen. Was die PraktikantInnen kennen gelernt haben, sind Hilfstätigkeiten am Rande von Berufen, einfache Arbeiten, deren konstitutives Merkmal es gerade ist, dass sie keine berufliche Qualifizierung verlangen. Was aus der Perspektive des Praktikanten als soziale Anerkennung erfahren wird, sieht aus der Arbeitskraftperspektive möglicherweise ganz anders aus.
  5. Diese Gefahren und die bereits genannten didaktischen Defizite werden noch verschärft durch organisatorische Defizite: Schulunterricht ist, wie wir alle wissen, nach Fächern differenziert. Schon dadurch werden disziplinübergreifendes und problemorientiertes Arbeiten, wie es angesichts der Komplexität [/S. 125:] des weiblichen Berufsfindungsprozesses dringend notwendig wäre, weitgehend verhindert. Wenn Haus-/ Familienarbeit der Hauswirtschaft zugeordnet wird und Erwerbsarbeit der Wirtschaftslehre, wird dadurch gerade getrennt, was unmittelbar zusammengehört.

    Die Aufgabe der Berufsorientierung ist in den Bundesländern unterschiedlichen Fächern, zum Teil aber auch gar nicht fachlich zugeordnet. Dies macht sich insbesondere bei den Betriebspraktika bemerkbar. Da bereitet der in der Regel männliche Wirtschaftslehrer vor, da betreuen KlassenlehrerInnen das Praktikum, und da wertet die in der Regel weibliche Deutschlehrerin die Berichte nach Kriterien aus, die eben für Berichte gelten. Durch eine solche Organisation bleiben die falschen Schlussfolgerungen unbemerkt und das, was über eigene Arbeit, Beobachtungen und Fragen im Betriebspraktikum gelernt werden kann, ungeprüft.

Was ist diesen didaktischen und organisatorischen Defiziten entgegenzusetzen?