Das dritte Modell lässt sich durch die Figur der sich überschneidenden Kreise veranschaulichen. Geschichtsunterricht und Politikunterricht sind in ihren Lernzielen und in ihren Bildungsperspektiven nicht identisch, aber aufeinander verwiesen. Sie haben ein Gebiet gemeinsamer Gegenstände, Methoden und Ziele sowie gemeinsamer Rückgriffe auf die Bezugswissenschaften. Diesen &Uml;berschneidungsbereich als das eigentliche Feld ihrer Zusammenarbeit gilt es zu bestimmen und von dem jeweils eigenen, geschichts- oder politikspezifischen Feld zu unterscheiden.

Obgleich immer wieder von den Prinzipien politischer Bildung im Geschichtsunterricht hier, von der historischen Perspektive im Politikunterricht dort gehandelt wurde, fehlt es an einer generellen Bestimmung des &Uml;berschneidungsbereiches beider noch weithin. Mit dem Hinweis auf den gemeinsamen Stoff, den die Zeitgeschichte liefert, ist zwar Richtiges, aber durchaus Vorläufiges über die Schwierigkeiten beider Fächer gesagt. Eine Annäherung an die Bestimmung der Gemeinsamkeiten lässt sich vielleicht am besten durch den Versuch erreichen, das Unterschiedliche zu benennen.

Historisches und politisches Lernen zielen gleichermaßen auf den Erwerb von Kompetenzen, sich in Gegenwart und Zukunft unserer Welt zuverlässig zu orientieren und verantwortlich zu verhalten. Aber in verschiedener Weise. Wie in den Bezugswissenschaften des politischen Unterrichts das Erkenntnisinteresse auf die gegenwärtige Gesellschaft zielt, sie zu erklären und ihren praktischen Handlungsbedarf zu ermitteln sucht, so geht es der poetischen Bildung um Erkenntnis der Grundstrukturen dieser Gegenwart und die Vermittlung der Fähigkeit, sich in ihnen angemessen zu orientieren und zu verhalten. Dem widerspricht nicht, dazu gehört vielmehr, dass Erkenntnis der Gegenwart angewiesen ist auf das Wissen und die Erfahrung des Gewordenseins und der Veränderlichkeit der gegenwärtigen Gesellschaft. Mit dieser historischen Perspektive wird nicht die Geschichte selbst zum Ziel der Erkenntnis. Greifen die Sozialwissenschaften in die Vergangenheit zurück, tun sie es, um entweder die Genese der Gegenwart oder, durch historischen Vergleich, ihre Strukturen deutlicher zu erfassen; so auch die politische Bildung, welche bestimmte, dazu dienliche geschichtliche Zustände oder Prozesse in Kontrast oder Ähnlichkeit oder in Betrachtung von Ursache und Wirkung, also als Vorgeschichte der Gegenwart zu deren Erklärung heranzieht. Historisches hat in dieser Perspektive keinen Eigenwert, sondern bleibt notwendig (und bisweilen problematisch) in einer Hilfsfunktion. &Uml;ber diese historischen Verständnishilfen hinaus gibt es für die politische Bildung angesichts der komplizierten gesellschaftlichen Verhältnisse einen so ausgeweiteten Kenntnis- und Einsichtbedarf, den der Geschichtsunterricht bei noch so intensivem Gegenwartsbezug nicht befriedigen könnte, dass schon allein deshalb der politischen Bildung ein breiter Raum eigener Kenntnis- und Einsichtsvermittlung verbleibt (7).

Noch wichtiger für die Begründung der Selbständigkeit politischen Unterrichts: Seine Bildungsziele umfassen den kognitiven Bereich, greifen aber darüber hinaus in den affektiven und instrumentalen Lernzielraum: politische Bildung erfährt ihre Vollendung nicht in der Kenntnis und Einsicht, sondern im politischen und sozialen Verhalten, das aus Einsicht und Engagement zugleich erwächst. Insofern ist der politische Unterricht handlungsorientiert. Hier entsteht nun sein ureigenstes Problem: In einer Gesellschaft hochgradiger Komplexität, in der nur noch Experten einen kleinen Bereich politischen, sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen Lebens zu durchschauen und zu beurteilen vermögen, gilt dennoch das Postulat universaler Partizipation, der Anspruch eines jeden - und an einen jeden -, mindestens über alles Grundsätzliche mitzubestimmen und auf den verschiedensten Wegen an Entscheidungsfindungen teilnehmen zu können, deren Auswirkungen er - häufig nicht einmal auf seine eigenen Interessen bezogen - kaum kalkulieren kann. In dieser Situation die Balance zwischen Kompetenz und Teilhabe zu gewinnen, ist die wichtigste und schwierigste Aufgabe politischer Bildung - der Geschichtsunterricht wird hier bestenfalls mittelbar helfen können.

Politischer Unterricht überschneidet sich - wie gesagt - mit dem Lernzielraum des Geschichtsunterrichts im genetischen oder vergleichenden Rückgriff auf die Geschichte. Der Geschichtsunterricht aber kann sich nicht im Aufweiß von Genese oder Analogie erschöpfen - kann nicht die "Gegenwart" allein zum Maß für die Wahrnehmung der Vergangenheit machen. Er richtet die Aufmerksamkeit darüber hinaus auf die Eigenart der Vergangenheit selbst, die durch ihre gegenwartsbestimmenden Erscheinungen nicht ausdefiniert ist, sondern immer einen &Uml;berschuss an Andersartigem, Fremdem enthält. Er kann uns als abgetan vorkommen und wird von den Fragerichtungen und Erkenntniszielen, auch von den Verhaltensnormen, die der Politikunterricht anstrebt, nicht erfasst, gehört aber zu den wesentlichen Elementen historischer Bildung. Geschichte ist nicht Echo der Gegenwart, sondern Frage, Kommentar, Widerspruch. Als Analogon und durch die Erhellung der Genese der Gegenwart leistet historische Bildung einen Beitrag zur politischen Bildung des Bürgers; als Bemühung um Erkenntnis der Fremdheit, der Andersartigkeit, der besonderen Existenz von Mensch und Gesellschaft, die ganz unabhängig von ihrer Gegenwartsbedeutung von Belang ist, bestimmt er seinen eigenen Lernzielbereich für eine Bildung des Menschen. Auf diesem "immediaten" Zugang zur Vergangenheit muss der Geschichtsunterricht schon deshalb bestehen, weil man nie weiß, welche Vergangenheit für Gegenwart und Zukunft relevant werden wird - das führt uns heute die geschehende Geschichte in Ost- und Südosteuropa vor Augen.

Stärker als durch verborgene Kontinuitäten lässt sich die Eigenbedeutung der Vergangenheit durch unmittelbare humane Relevanz begründen: Gerade Anschauung und Verständnis der zeitlich, politisch, kulturell fremden, unvertrauten, ganz eigenartigen Lebens- und Denkweisen kann Solidarität mit der "Menschheit", ihren Leistungen und ihrem Leiden anbahnen, auch wenn uns beides nicht direkt und real betrifft. Der Geschichtsunterricht bietet damit ein Gegengewicht zum Gegenwartsbezug und zum Selbstbezug - beide haben ja neben ihren pädagogischen Vorzügen auch die Nachteile der Befangenheit. Deshalb wird der Geschichtsunterricht, so wenig er vor der genetischen Erklärung der Gegenwart oder dem Vergleich von Gegenwart und Vergangenheit zurückscheut, immer wieder auch Distanz zur Gegenwart schaffen müssen.

Mit dieser erkenntniserweiternden Distanz bringt er in die politische Bildung einen Reflexionswiderstand ein, der zur Vorsicht und Abwägung bei Urteilen mahnt und den schnellen direkten Handlungsimpuls bremst, den Drang zum Aktionismus zügelt. Dass politisch in der Gegenwart ohne letzte Sicherheit gehandelt werden muss, bleibt davon unberührt - aber es sollte im Wissen um diese letzte Unsicherheit gehandelt werden. Der "Machthaber" muss sich nicht auch als "Rechthaber", gar als alleiniger, fühlen dürfen, und die Bürger sollten aus historischer Kenntnis und Bildung so auftretenden Politikern nicht als den charismatischen Führern folgen, sondern sie mit Skepsis beurteilen können - auch das ist eine handlungsorientierte Zielvorstellung, in der sich Lernziele des Geschichtsunterrichts gerade wegen ihrer Distanz vom unmittelbaren Gegenwartsbezug wieder mit denen des politischen Unterrichts treffen.

Positiv kann man diese Reflexionshürde, die historische Bildung vor politisches Handeln setzt, als "Besonnenheit" bezeichnen. Kern dieser Besonnenheit ist das durch Vergegenwärtigung geschichtlicher Abläufe, Ursachen und Wirkungen gewonnene Wissen um die Ambivalenz und die Kontingenz politischer Programme und Maßnahmen, Planungen und Wirkungen, um die Bedeutung der ungewollten Nebenfolgen und letztlich um die Ungewissheit und also um die ständige Korrekturbedürftigkeit politischen Verhaltens und Handelns.Das ist kein Plädoyer für einen historisch legitimierten Quietismus. Historisches Lernen steht politischem Wollen und Handeln nicht im Wege. Die kognitiven und zugleich "empathischen", den Horizont des Verständnisses über die offensichtlichen Gegenwartsbelange hinaus weitenden Lernziele des Geschichtsunterrichts fügen der Handlungsorientiertheit, die aus politischem Willen, aus Interesse und Vision, aus Einsicht und Moral sich speist, den Verweis auf sekundäre Erfahrung hinzu. Sie kann zugleich Vorsicht und Entschiedenheit bewirken, vor allem aber &Uml;berhebung und falsche Selbstgewissheit verhindern.

Wie die schwierigste Aufgabe des politischen Unterrichts darin besteht, die Spannung zwischen allgemeinem Partizipationsanspruch und hochkomplexer Realität durch politische Bildung verantwortbar zu vermitteln, so die des Geschichtsunterrichts, die Unendlichkeit und Vielfalt historischer Anschauung zu historischer Bildung zusammenzufügen. Beliebigkeit des historischen Wissens, Blindheit des historischen Gefühls, des "Geschichtsbegehrens", ebenso zu vermeiden wie anmaßende Geschichtsgewissheit. Der Versuch, das Lernzielspektrum dieses Faches durch den Leitbegriff des "Geschichtsbewusstseins" zu bündeln und durch die Ausfächerung der dadurch bezeichneten Leistungen zu konkretisieren, steht im Dienst dieses Bemühens, das sich schon lohnt, wenn es nur annäherungsweise sein Ziel erreicht (8).

Dieser Ansatz braucht hier nicht entfaltet zu werden; er gehört zu den ausführlich diskutierten Themen der Geschichtsdidaktik. Im Hinblick auf die indirekte Bedeutung für die politische Bildung soll nur auf den Gegenwartsverständnis und Vergangenheitsdeutung verbindenden Bereich der historischen Wertungen verwiesen werden, die in der Regel in unmittelbarem Zusammenhang mit politischen Positionen der Gegenwart stehen. Alle Legitimierungen politischen Handelns oder politischer Zustände durch historische Bezüge lehrt ein so verstandener Geschichtsunterricht durch die Kritik des historischen Sachurteils und der Zeitanalyse zu schicken, auf ihre Stichhaltigkeit zu befragen, zu differenzieren und damit zuverlässiger zu machen oder als Agitationsfigur abzutun. Dass mit solcher Leistung kontroverse politische Positionen der Verhärtung entzogen und in ein diskursives Verhältnis zueinander gesetzt werden können, ließe sich am Beispiel der internationalen Schulbuchforschung nachdrücklich zeigen.

Der Gedankengang hat uns über den Versuch, den je eigenen Bereich des politischen und historischen Unterrichts zu umreißen, unversehens zu der Einsicht geführt, dass gerade bei Anerkennung der Eigenständigkeit des historischen Bildungsinteresses - neben den direkten Zusammenhängen beider Fächer, also dem Schnittmengenbereich - ein mittelbarer, indirekter Einfluss historischer auf politische Bildung sich ergibt - und zwar gerade dadurch, dass man die eine nicht von der anderen ableitet und beide in konzentrischen Kreisen integriert. Das lässt sich in Umkehrung der Betrachtung auch auf die indirekte Bedeutung eines seine eigenen Ziele entwickelnden politischen Unterrichts für die historische Bildung zeigen. Zur Erklärung und zum Verständnis historischer Zustände, Prozesse, Verhaltensweisen sind die Instrumente der politischen Wissenschaft und der Sozialwissenschaft für den Historiker unerlässlich und anwendbar auch auf vergangene gesellschaftliche, politische und kulturelle Formationen geworden. Der Beitrag der Sozialwissenschaften für die Geschichte als Wissenschaft, aber auch für die Geschichte als Unterricht braucht heute nicht mehr dargetan zu werden; dies ist eine unmittelbare Ergänzung und Hilfestellung, die der politische Unterricht dem Geschichtsunterricht geben kann und sollte. Indem er aber die Gegenwart selbst für Erkenntnis und Verhalten zum Bezugspunkt seiner Ziele macht, stellt er die der Geschichtsbetrachtung immer innewohnende Perspektive der Gegenwartserklärung und der Gegenwartsbezogenheit auch unmittelbar unter einen reflektierten Erkenntniszwang angesichts der nicht mehr unverstanden hingenommenen Gegenwart. Den einer bloß historisch ansetzenden Erklärung der Gegenwart innewohnenden Gefahren der vorschnellen Identifikation und Traditionsbildung, sei es konservativer, sei es progressiver Art, setzt der politische Unterricht durch Erhellung der Komplexität der Gegenwart ein kritisches Fragezeichen an die Seite, indem er seinen eigenen Lernzielen folgt. Wird also der Geschichtsunterricht z.B. jener Legitimierung der Gegenwart aus einem zu pauschalen Begriff der "Demokratie", wie ich ihn eben zitierte, mittels der historischen Erfahrung von der Widersprüchlichkeit dieser Erscheinung dem politischen Urteil Distanz und Besonnenheit geben, so wird der Politikunterricht durch Vergegenwärtigung der komplexen Strukturen unseres demokratischen Systems einer vorschnellen Traditionsbildung und damit falschen Identitätsstiftung, welche etwa von der athenischen Demokratie über die Kommunen des Mittelalters, die ständischen Freiheiten der Magna Charta bis zur Oligarchie des englischen Parlamentarismus im 19. Jahrhundert eine scheinbar historisch schlüssige teleologische Linie zu ziehen geneigt ist, widersprechen müssen und die Eigenart der Gegenwart gegenüber einem falsch verstandenen historischen Traditionsanspruch zu behaupten haben (9).

Ich belasse es bei diesen Andeutungen. Es genügt, wenn daraus die Notwendigkeit hervorgeht, dieses Modell der sich überschneidenden Kreise genauer und am konkreten Fall zu durchdenken und für die Unterrichtsplanung in Richtlinien und Materialien fruchtbar zu machen. Dass dies nur in Zusammenarbeit von Vertretern beider Fächer geschehen kann, liegt auf der Hand.