Gegen die Vorstellung einer bruchlosen Fortsetzung einer pathogenen Geschichte in der aktuellen Identitätskommunikation spricht – paradoxerweise – ein Phänomen, das die neuen sozialen Bewegungen mit den Bewegungen verbindet, die die antidemokratische Tradition in Deutschland getragen haben: nämlich Angstkommunikation (28). Angst war das zentrale Motiv in den antidemokratischen Bewegungen der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (29). Angst vor der sich demokratisierenden Gesellschaft, Angst vor der Erosion des Selbstverständlichen, Angst vor dem Verlust traditional eingelebter Identität wurde durch die Identifikation mit dem Staats schließlich mit dem Charisma eines Führers kompensiert. Angst verstärkte also die Blockierung von Identitätskommunikation. Sie blockierte damit die Idee einer sich selbst konstituierenden Gesellschaft, deren Identität gerade nur in der Fähigkeit bestehen konnte, partikulare Identität als partikulare zu institutionalisieren.

Angst in den neuen sozialen Bewegungen ist davon grundverschieden. Sie richtet sich nicht mehr gegen die Gesellschaft, sondern gegen den die Gesellschaft überformenden und mediatisierenden Staat (30). Wo sich Angst mit der Kritik am konkreten [/S. 360:] staatlichen Handeln verbindet, etwa mit der Kritik am politisch institutionalisierten und reproduzierten Umgang mit äußerer und innerer Natur, gelingt es, Staat und Autorität voneinander abzukoppeln. Das eröffnet einen neuen Spielraum für das Experimentieren mit Identität.

In dem Maße, wie diese »neue« Angstkommunikation mit Identitätskommunikation verknüpft wird, wird es – so die These – möglich, letztere zu »entblockieren«. Die neue Angstkommunikation eröffnet Perspektiven

  • der Desillusionierung (Entzauberung der Aufklärung),
  • des kollektiven Lernens (Institutionalisierung von Frühwarnsystemen) und der
  • Erinnerungsarbeit (Auflösung pathogener Rationalisierungsprozesse).

Die erste Möglichkeit, die moderne Angstkommunikation eröffnet, ist ein desillusionierender Umgang mit der Aufklärung. Angstkommunikation thematisiert das Problem, dass Aufklärungsdiskurse unter der Bedingung hoher Unbestimmtheit ablaufen. Angstkommunikation desillusioniert über das Ritual des Aufklärungsdiskurses, der Angstfreiheit unterstellt. Damit verliert der Aufklärungsdiskurs ein Moment der Selbstillusionierung, das ihm von Anfang an eigen war: zu unterstellen, dass sich Aufklärung von selbst einstellt.

Die bürgerliche Bewegung war noch davon überzeugt, dass kognitive Einsicht die Aufklärung voranbringt. Die kleinbürgerliche Bewegung hat dagegen argumentiert, dass nur normative Orientierungen, nämlich Werte wie Ordnung, Fleiß und Gerechtigkeit die Aufklärung in die richtige Richtung lenken können. Die neuen sozialen Bewegungen argumentieren – und hier gehen sie über die alten kleinbürgerlichen Bewegungen hinaus – auch mit Empfindungen und Gefühlen, über die Aufklärung notwendig sei, damit Aufklärung stattfinden kann. Man kann diesen Umgang mit der Aufklärung als ein Problem des Aufklärungsstils bezeichnen (31). Es handelt sich um einen veränderten Stil des Miteinanderredens. Angstkommunikation ist dann eine Variante des Aufklärungsdiskurses. Sie bricht mit der kognitiven und normativen Illusion, die Stilfragen als sekundär betrachtet hat.

Eine zweite Funktion aktueller Angstkommunikation besteht darin, wie ein Frühwarnsystem zu funktionieren, das Sensibilität erhöht und dem Immunsystem »Gesellschaft« Zeit gibt, sich auf eine bedrohliche Umwelt einzustellen (32). Man kann dieses Frühwarnsystem historisch und sozial kontextuieren und damit genauer [/S. 362:] bestimmen. Was die neuen sozialen Bewegungen tun, ist nichts anderes als das, was die frühen bürgerlichen Emanzipationsbewegungen schon versucht haben: durch Verständigung auf gemeinsam betreffende Probleme sich einer formalrationalen »Traktierung« von Problemen entgegenzustellen und Bedürfnisse einzuklagen, die ansonsten systematisch ausgeschlossen würden. Was die neuen sozialen Bewegungen »objektiv« tun, ist nichts anderes, als den Bereich relevanter Bedürfnisse und damit auch die Komplexität von Entscheidungskriterien auszuweiten. In diesem Sinne kann man dann von einer Ersetzung der »Gerechtigkeitsformel« durch die Formel des »guten Lebens« sprechen. Aber die Form, in der diese Einklagen konstituiert und reproduziert werden, bleibt identisch: nämlich die Organisation kollektiver Lernprozesse außerhalb formal rationaler Institutionen, die Herstellung politischer Öffentlichkeit – das ist der altmodische Begriff dafür – durch Assoziation, Diskussion und kollektive Aktion. Angstkommunikation wird so zum Kristallisationspunkt einer Form politischer Kommunikation, deren Dynamik sich auch Identitätskommunikation nicht mehr entziehen kann (33).

Eine dritte Funktion wäre die Reflexivität von Angstkommunikation. Was in der Angstkommunikation in den neuen sozialen Bewegungen transportiert werden kann, ist eine neue Form von kollektiver Erinnerungsarbeit: nämlich die Idee der Aufklärung über sich selbst. Das würde bedeuten, das kollektive Gedächtnis, das sich in der Pathogenese der Moderne abgelagert hat, selbst im Prozess der Radikalisierung der Moderne auf und durchzuarbeiten, Erinnerungsarbeit als Aufklärung über die Aufklärung zu betreiben. Und dazu gehört gerade auch Erinnerungsarbeit über misslungene Kommunikation, Erinnerungsarbeit über Identitätskommunikation (34).