Aus dieser Diskussion lässt sich eine erste Schlussfolgerung ziehen. Identitätskommunikation kann nur dann gelingen, wenn Identität im Hinblick auf Vergangenheit erinnerungsfähig bleibt und sich im Hinblick auf Zukunft nicht festlegt. Abstrakter formuliert: Wenn Identität im Hinblick auf Vergangenheit und Zukunft offen ist.

Für eine solche Identitätskonzeption eignet sich der Begriff des citoyen. Der citoyen, der politische Bürger im Gegensatz zum Staatsbürger (35), ist derjenige, der kollektive Identität jenseits partikularer Zugehörigkeiten formuliert. Seine kollektive Identität besteht in der fiktiven Gemeinschaft der am Gemeinwesen Interessierten. In der aktuellen Identitätskommunikation wird jedoch diese fiktive Gemeinschaft substantiell ausgefüllt. Wer nationale Identitätssurrogate symbolisch bekräftigt, der sollte sich nicht wundern, wenn sich im Rücken dieser Identitätskommunikation wieder jene blutige Tradition europäischer Kultur – von der die deutsche ja ein Teil ist (36) – durchsetzt, wie sie bereits die Jahrhunderte seit Beginn der Neuzeit kennzeichnete.

Gegen diese Tradition ist die Idee des citoyen gedacht worden. Denn der citoyen ist zunächst citoyen und erst dann Teil einer Herkunftsgemeinschaft. Dies ist die Voraussetzung für reflexive Identitätskommunikation. Denn der citoyen sieht kollektive Identität nicht als Faktum, sondern als Problem. Er geht nicht in kollektiver Identität auf, sondern verhält sich reflexiv zu ihr. Der citoyen weiß, dass er – wie alle anderen – einen sozialen Gebrauch von kollektiver Identität macht. Kollektive Identität ist ein Politikum. Kollektive Identität ist jenes Gefühl der Gemeinschaft – jener »Konsens« –, das zu bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten dann entsteht, wenn es um die Mobilisierung von sozialen Gruppen für oder gegen politische Entscheidungen geht. Kollektive Identität ist Identität, die im Prozess kollektiven Handelns entsteht und wieder vergeht. Sie kann sich – je nach Problemlage und Problemdefinition – ethnischer, religiöser, ökonomischer oder sonstiger partikularer Interessen bedienen. Entscheidend ist, dass die Bezugspunkte kollektiver Identität als partikulare Interessen erkennbar bleiben und nicht in Identitätsunterstellungen verschwinden. Das, was als Gemeinsames bleibt, ist nur mehr die Unterstellung, dass man citoyen, ein politischer Bürger ist. Identität wird in einem so verstandenen Politikbegriff entsubstantialisiert.