Die europäische Wende von 1989/91 hat - unbeschadet vieler Enttäuschungen und Konflikte - eine neue politische und intellektuelle Konstellation geschaffen. Das "Ende der Nachkriegszeit" eröffnet die Chance dauerhafter neuer (und friedlicher) Strukturen wie das Risiko extrem labiler und asymmetrischer Verhältnisse. In diesen werden die geschichtlichen Vorstellungen und politischen Einstellungen von Jugendlichen künftig sicherlich eine hoch bedeutsame Rolle spielen. Europäische Integration (oder Desintegration), ethnische Konflikte und Säuberungen (oder interkulturelle Harmonie), demokratische Stabilität (oder diktatorisch-populistische Abenteuer), Konfrontation zwischen Westeuropa und der osteuropäischen Zentralmacht Russland (oder Kooperation beider) werden auch durch den Bewusstseinsstand von Bevölkerungen mitbestimmt - neben dem Einfluss von Wirtschaftsinteressen und Machtpositionen.

Es lohnt sich also, mit wissenschaftlichen Mitteln empirischer Sozialforschung Landkarten allgemeiner und besonderer historisch-politischer Mentalitäten von Jugendlichen in Europa zu erstellen: Wie steht es z. B. mit Deutungen zu Mittelalter, Kolonialismus, Industrialisierung und Nationalsozialismus? Was halten die Jugendlichen von Nation und Europa, Demokratie und Fortschritt? Welche Erklärungen und Lösungsvorschläge haben sie für ökonomische Ungleichheit und ethnische Konflikte, Wanderungsbewegungen und Menschenrechte? Wie sehen sie die Zukunftsprobleme von Frieden, Freiheit, Wohlstand und Umweltschonung? Wie bringen sie historische Erfahrungen und Änderungstrends in ihre Gegenwartsbeobachtungen und Zukunftserwartungen ein?

Neben der pragmatischen und politischen Bedeutung eines solchen Kartierungsversuchs von Mentalitäten sind von einer kulturvergleichenden Betrachtung selbstverständlich auch theoretische Einsichten in Struktur und Genese historischen Bewusstseins zu erhoffen. Wieweit lassen sich theoretische Grundlegungen empirisch verifizieren oder falsifizieren? Es gibt - außer Feldexperimenten und Längsschnittstudien - z. B. keine besser geeignete Methode, um die Beziehungen zwischen Reifungsprozess und Sozialisationsabhängigkeit des Geschichtsbewusstseins aufzuklären. Im weiteren Verlauf kulturvergleichender Empirie könnten [/S. 209:] z. B. die geschichtslogischen Niveaus der traditionalen, exemplarischen, kritischen und genetischen Sinnbildung näher untersucht werden. Solche Studien dürften auch zu mehr Bescheidenheit, Nüchternheit und Bodenhaftung didaktischer Konzepte beitragen oder verdeckte normative Vorgaben in den erkenntnistheoretischen Analysen aufdecken.

Große europäische Kulturvergleiche sind ideologisch und organisatorisch überhaupt erst durch die Öffnung von 1989/91 möglich geworden. Seit 1991 wurde unter Leitung von Magne Angvik (Bergen), Bodo von Borries (Hamburg) und Lászlo Kéri (Budapest) ein Netzwerk nationaler Koordinatoren für "Youth and History. The Comparative European Project an Historical Consciousness among Adolescents" aufgebaut, das bald etwa 30 Territorien umfasste. 1992 wurde eine Pilotstudie in neun Ländern mit 900 Befragten durchgeführt (2). Die Finanzierung einer Hauptstudie war gleichwohl ein großes Problem. Nach jahrelangen vergeblichen Anträgen bei öffentlichen Stellen hat die Körber-Stiftung (Hamburg) die Kosten des internationalen Managements und der internationalen Auswertung übernommen. Die Europäische Kommission (Brüssel) steuert beträchtliche Summen bei, jedoch nur für ihre Mitglieder und einige Assoziierte. In vielen Ländern sind weitere Stiftungen, Universitäten und Regierungen mit nennenswerten Summen an der nationalen Finanzierung beteiligt.

Im Schuljahr 1994/95 wurden also über 31.000 Schülerinnen und Schüler 9. Klassenstufen (d.h. 800 bis 1.200 pro Land je nach vermuteter Homogenität oder Heterogenität) gemeinsam mit ihren mehr als 1.250 Lehrpersonen im Geschichtsunterricht befragt. Es nahmen - meist mit reinen Zufallsstichproben auf Klassenebene oder mit vorzüglich vertretbaren Konvenienzsamples (3) - über 25 Länder teil.

  • Den ersten großen Block bilden zehn "postsozialistische" Länder, darunter vier Nachfolgestaaten der UdSSR (Russland, Ukraine Litauen und Estland), zwei Nachfolgestaaten Jugoslawiens (Slowenien, Kroatien), drei Visengradstaaten Ostmitteleuropas (Polen, Tschechien und Ungarn) und Bulgarien (4).
  • Dem stehen im Westen elf Länder der Europäischen Union gegenüber, die skandinavischen Mitglieder (Dänemark, Schweden, Finnland), Großbritannien (England/Wales und Schottland), die iberischen Staaten (Portugal, Spanien), Griechenland und vier der Gründungsmitglieder (5): Frankreich, Italien, Belgien (nur Flandern) und Deutschland (mit den 1990 beigetretenen Ländern der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik) (6). [/S. 210:]
  • Dazu kommen eine Reihe von Ländern am Rande und in der Nachbarschaft Europas. Island und Norwegen sind der Europäischen Union eng assoziiert; neuerdings ist auch die Türkei vertraglich näher herangerückt. Israel wurde mit zwei unabhängigen Teilstichproben (Staatsnation und israelische Araber) berücksichtigt; außerdem wurden Palästinenser (in Ostjerusalem, Westjordanland und Gaza-Streifen) befragt (7). Die Einbeziehung solcher nicht- oder marginal-europäischer Gemeinschaften erlaubt - bis zu einem gewissen Grade - eine Kontrolle des gemeinsamen europäischen Charakters der restlichen Stichprobe und schützt vor der Deutung ihrer Reaktionen als allgemein-menschlicher.
  • Die Analyse soll jedoch auch unterhalb der Nationalstaaten für das Verhältnis zwischen staatstragenden Mehrheiten und anerkannten kulturellen Minderheiten (sprachlicher, ethnischer und konfessioneller Art) fortgesetzt werden. Die je zwei unabhängigen Samples in Großbritannien und Israel wurden schon erwähnt. Außerdem ist in Italien neben der nationalen Stichprobe eine besondere Stichprobe in der multikulturellen Provinz Südtirol (mit den drei Sprachgruppen des Italienischen, Deutschen und Ladinischen) befragt worden; in Russland wurde mit den Mari eine besondere autonome Gruppe einbezogen. In Estland lässt sich das knappe Drittel Russen mit der Mehrheit der Esten vergleichen. Die Jugendlichen wurden während zweier Schulstunden (95 Minuten) mit etwa 300 Fragen konfrontiert - und reagierten meist sehr positiv und vollständig. Dabei mussten sie fast ausnahmslos nur auf fünfstufigen Likertskalen von "nein, gar nicht" (1) bis "ja, sehr" (5) auswählen und ankreuzen. Die Begrenztheit dieser mechanischen Fragetechnik, die zunächst (auf der Ebene der einzelnen Frage) wohl Stellungnahmen, aber kaum Argumentationen und Zusammenhänge aufklären kann, ist uns sehr wohl bewusst. Für "Youth and History" gab es jedoch einige zwingende (oder wenigstens überzeugende) Gründe für die Wahl geschlossener Fragen.
  • Die Codierung offener Antworten bei repräsentativen Stichproben tausender Probanden wäre sehr aufwendig und teuer und nur begrenzt reliabel; sie würde zudem das Problem absoluter Bedeutungsgleichheit in verschiedenen Sprachen dramatisch verschärfen, weil es sich dann nicht mehr auf den Fragebogenwortlaut begrenzen ließe, bei dem mit Übersetzung und unabhängiger Rückübersetzung eine methodische Kontrolle möglich ist.
  • Bei offenen Fragen, d. h. selbst frei produzierten, argumentativen Antworten, ist man viel stärker von aktiver Sprach- und Schriftbeherrschung der Befragten sowie von ihrer Motivation abhängig. In entsprechenden Untersuchungen haben sich bei etwas schwierigeren Fragen Datenverluste bis 50 oder 60 % als üblich erwiesen. Das verzerrt grob die Repräsentativität, da unter weniger Intelligenten, Selbstsicheren und Motivierten ein viel größerer Anteil ausfällt. Im internationalen Vergleich drohen ebenfalls Einbrüche, und zwar in verschiedenen Ländern in abweichendem Maße (8).
  • Eine gewisse Argumentativität und Komplexität der Antworten kann auch bei geschlossenen Fragen (mit vorgegebenen Antwortalternativen) dadurch erzeugt werden, dass nacheinander die Zustimmung zu verschieden pointierten - auch gegensätzlichen - Argumentationsweisen abgerufen wird. Von diesen Möglichkeiten ist im Fragebogen vor allem bei historischen Dilemmata und politischen Entscheidungen reichlich Gebrauch gemacht worden. Proteste gegen die Primitivität von Likertskalen bleiben ganz vereinzelt (sie kommen [/S. 211:] nach Erfahrungen in anderen Studien nur gelegentlich bei besonders intelligenten Zwölftklässlern vor).
  • Die einzelne Antwort auf einer Likertskala wird zwar mechanisch gegeben und nicht legitimiert; ihre positive, negative oder fehlende Kombination mit zahlreichen anderen Antworten, die statistisch einfach und perfekt geprüft werden kann (z. B. Korrelationen), erlaubt aber zahlreiche Rückschlüsse auf Argumente und Strukturen, auch soweit sie den Antwortenden selbst kaum bewusst sind. Die Herstellung eines solchen Netzwerkes von Antworten setzt klar verarbeitbare und in sich einigermaßen simple (und vollständige) Einzeldaten voraus.