Politische Bildung hat den Zweck, Schülern wie Erwachsenen eine Orientierung in der Gegenwart und für die absehbare Zukunft zu geben. Geschichte liefert Orientierung in der Zeit und vermag keine Orientierung für unmittelbares Handeln zu geben. Politik dagegen liefert Orientierung für politisches Handeln, vermag aber keine Orientierung in der Zeit zu liefern. Das Aufzeigen von Handlungsalternativen und Entscheidungen in den je aktuellen Umständen leistet Politik.

Aus der Geschichte lassen sich keine unmittelbaren Handlungsorientierungen für die Gegenwart gewinnen, wie es die konservative Sicht will; es lässt sich aber auch nicht unmittelbar handeln, ohne die geschichtlichen Bedingungen des Handelns zur Kenntnis zu nehmen, wie es voluntaristische und technokratische Positionen wollen.

Das Ziel von politischer Bildung wird meist mit "historisch-politischem Bewusstsein" angegeben. Dieser Bindestrichbegriff verdeckt die unterschiedlichen, aber aufeinander bezogenen Operationen des historischen Bewusstseins und des politischen. Diese beiden grundsätzlich unterscheidbaren Bewusstseinsstrategien richten sich auf unterschiedliche Bereiche. Politisches Bewusstsein ist auf Handeln bezogen und richtet sich vorwiegend auf die Dimension von Macht und Herrschaft, die das Verhältnis von Menschen zuein[/S. 322:]ander strukturiert. Unter dem Gesichtspunkt von Macht und Herrschaft sind die Beziehungen der Menschen untereinander asymmetrisch und bedürfen deshalb der Legitimation. Politisches Bewusstsein zielt auf die Praxis bestimmter Handlungsanweisungen und weiß um Bedingungen und Möglichkeiten politischer Handlungsstrategien in herrschaftsstrukturierten Gesellschaften.

Ein solches direkt auf Handeln orientiertes Bewußtsein ist nicht Gegenstand des historischen Bewußtseins. Historischem Bewußtsein geht es um die Kontingenzerfahrungen der Lebenspraxis und versucht, sie zu bewältigen. Es deutet die kontingenten Ereignisse, indem sie sie zu einem sinnvollen Zeitzusammenhang, zu einer Geschichte verbindet. Erst in einer Geschichte machen verschiedene Ereignisse Sinn. Durch Geschichte können die Menschen ihre Lebensverhältnisse "so ansehen ..., als hätten sie sie gewollt" (Rüsen 1989). Sie geben dem Ereignis denkend einen Sinn. Historisches Bewusstsein gibt deshalb dem politischen Handeln die notwendige Orientierung, die für ein Handeln im Zeitverlauf unerlässlich ist.

Historisches Bewusstsein zielt auf Handlungsorientierung in der Zeit, politisches Bewusstsein auf Bedingungen und Möglichkeiten des Handelns selbst. Auf diese Weise sind beide Bewusstseinsstrategien aufeinander verwiesen. Dass beide Aspekte des historisch-politischen Bewusstseins aufeinander bezogen werden können, dafür sind bestimmte Voraussetzungen unerlässlich. Geschichte muss sich zur Politik so verhalten, dass sie deren Orientierungsprobleme wirklich aufgreift und nicht auf die ästhetischen und exotischen Elemente ausweicht und diese gegen die politische Orientierungsfunktion ausspielt. Politisches Bewusstsein darf dagegen die Reflexion praktischen Handelns auf gegenwartsgebundene Mittel nicht verkürzen, denen Vergangenheitsanalyse und Zukunftsdeutung zur politischen Rhetorik verkommt, ohne Orientierungsfragen "über den Tag hinaus" ernst zunehmen.