Die Gesamtschulen in Hessen und NW, ursprünglich als Schulversuch deklariert, können längst nicht mehr als pädagogische Experimente gelten - sie sind nach den Aussagen der verantwortlichen Kultusminister und ihrer Mitarbeiter die Regelschulen der Zukunft. Mit ihnen wurden nach eigenem Anspruch nicht etwa nur Reformen in die Wege geleitet, sondern "schrittweise durchzuführende ,Innovationen' an der Gesamtstruktur des Bildungswesens" (NW. Vorwort, S. 2).

Ein Kernstück der Innovation ist die Erneuerung der Lehrpläne von Grund auf (NW. Vorwort, S. 3); in ihrem Zentrum steht die Integration der bisher selbständigen bzw. kooperierenden Schulfächer Geschichte, Sozialkunde, Geographie und Arbeitslehre zu einem einheitlichen Lernbereich "Gesellschaftslehre" (Hessen) oder "Gesellschaft/Politik" (NW), mit dem die generell intendierte Befähigung der Schüler zur "Teilnahme an der produktiven Gestaltung gesellschaftlicher Realität" in erster Linie erreicht werden soll (H. S. 7; NW. S. 1).

Die folgende Untersuchung fragt nach dem Stellenwert der Geschichte in diesem zentralen Lernbereich der künfti- [/S. 30:] gen Regelschule. Die Antwort auf diese Frage ist für unsere Schule und unsere Gesellschaft von höchster Bedeutung. Mit der Analyse wird jedoch, das sei gegenüber möglichen Missverständnissen ausdrücklich gesagt, keineswegs das Konzept der Gesamtschule als solcher mit ihrer fundamentalen Zielsetzung des "Abbaus bestehender Chancenungleichheit der Schüler" und der "Vermittlung sozialintegrativer Lerninhalte und eines entsprechenden Verhaltens" (NW. Vorwort, S. 9/10) infrage gestellt.

Vorweg sei ebenfalls erklärt, dass die Integration der Geschichte in ein mehrere sozialwissenschaftliche Teilbereiche umfassendes allgemeines Unterrichtsfeld Gesellschaft/Politik als ein notwendiger Versuch zur didaktischen Zusammenführung von einander korrespondierenden Wissenschaften begrüßt wird. Eine unerlässliche Forderung an jede Art von Integration bleibt jedoch, die Integrationsfaktoren in ihrem je spezifischen Potential nicht auszulöschen, sondern interdependent zur Entfaltung kommen zu lassen, was u. a. auch bedeutet, das Interaktions- und Spannungsfeld der zugehörigen Wissenschaften zu erhalten. Es sei ausdrücklich vermerkt, dass die "Rahmenrichtlinien" (Hessen) wie auch die "Rahmenlehrpläne" (NW) angesichts der schwierigen theoretischen und praktischen Probleme der intendierten Integration den beteiligten Lehrern aus wohlbegründetem Pragmatismus eine Schonfrist, einen Lernprozess zubilligen und "Koordination" dort gestatten (H. S. 41; NW. S. V), wo das Maximalprogramm der Integration organisatorisch und personell noch nicht durchführbar ist. Die Begründung für die didaktische Notwendigkeit der Integration sowie ihrer zeitweiligen Suspendierung erfolgt in den hessischen Richtlinien in auffälligem Unterschied zum lapidaren Befehlston der NW-Lehrpläne in einer vorsichtigen, differenzierten und verbindlichen (demokratischen) Sprechweise. Gegenüber der im hessischen Plan vorgenommenen Wortwahl "Verschränkung", "gemeinsamer Bezugsrahmen" (H. S. 11), "Unmöglichkeit jeden Versuchs, Gesellschaftslehre auf der Systematik einer der beteiligten Fachdisziplinen zu begründen" (H. S.13), dekretiert der NW-Plan: "Unterricht im Lernbereich G/P ist grundsätzlich auf Voll- [/S. 31:] integration ausgerichtet und auszurichten" (NW. S. IV).

Die mit diesem dubiosen Begriff "Vollintegration" sich beim Leser sofort herstellende Assoziation eines totalen Zugriffs verfehlt nicht etwa den gemeinten Sachverhalt, sondern trifft, wie sich in der Begriffserläuterung (und später im unterrichtspraktischen Teil) zeigt, das Gemeinte leider nur zu genau: "Damit [mit der "Vollintegration"] ist weder die Addition eines Nacheinander oder Nebeneinander noch eine Kooperation von im Prinzip selbständigen Einheiten gemeint, sondern eine spezielle Qualität: das einheitliche, ungeteilte Ganze" (NW. S. IV). Aus dieser Setzung der Gesellschaftslehre und also auch der Gesellschaft als eines solchen "ungeteilten Ganzen" folgt zwangsläufig das Postulat der Eliminierung fachspezifischer Elemente oder Teilbereiche und ihre Reduktion auf "Aspekte". Die Zulassung von "Koordination" als Surrogat von "Integration" wird im NW-Plan wiederum im lakonischen Kommandoton verkündet - ohne weitere Kommentierung und vor allem ohne nähere pädagogische Dispositionen, wie sie der Hessen-Plan in Rücksicht auf eben nur langsam zu verändernde Vorgegebenheiten vornimmt. Was in den hessischen Richtlinien eher verhüllt und indirekt spürbar ist, das offenbart der Sprechstil der NW-Planer dagegen als Missbilligung einer verkehrten Welt.

In der Mystifikation einer "Vollintegration", eines "einheitlichen, ungeteilten Ganzen" liegt die Verschmelzung der unterschiedlichen Elemente der Gesellschaft und der Ebenen ihrer Analyse. Darin gehen die NW-Rahmenpläne weit über die hessischen Richtlinien hinaus: "Unterricht im Lernbereich Gesellschaft/Politik ist ein Unterricht, der politologische, sozialpsychologische, anthropologische, juristische ökonomische, geographische, historische und andere Aspekte gesellschaftlicher Realität und Möglichkeit in ihrer Komplexität und Interdependenz aufgreifen, einsichtig machen und handlungsrelevant erarbeiten will" (NW. S. I). Dieser voluminöse Satz mit seinem Universalanspruch wäre in den Formulierungen der hessischen Richtlinien so noch nicht vorstellbar. Die NW-Rahmenpläne, die die Rahmenrichtlinien Hessens im übrigen als Modell zu kopieren vorgeben [/S. 32:] (NW. S. III), haben, das lässt sich also schon jetzt sagen, Tendenzen ihres Vorbilds in einem Maximalsinn zu einer Aspekt-Didaktik ausgezogen. Was ist nun die Integrationsmitte, auf die fachspezifische Aspekte hingeordnet werden? Als "oberstes Lernziel" ist dem integrierten Lernbereich Gesellschaftslehre bzw. Gesellschaft/Politik aufgegeben: "Die Befähigung zur Selbst- und Mitbestimmung" (H. S. 7 f.; NW. S. 1 f.). Dieses Ziel ist kein aus Wissenschaft abgeleitetes und auch nicht ableitbares Postulat, sondern eine (wie die hessischen Planer im Unterschied zu den nordrhein-westfälischen ausdrücklich hervorheben) politische, am Demokratiegebot des Grundgesetzes orientierte Setzung. Mit der, politisch-legitim, letztlich auf der Vernunftfähigkeit aller Menschen gegründeten Zielsetzung der "optimale(n) Teilhabe des einzelnen an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen" als "an die Aufhebung ungleicher Lebenschancen geknüpft(e)" (NW. S. 1) Aufgabe ist die politisch-pädagogische Einstellung des Leitziels in den von weither kommenden geschichtlichen Emanzipationsprozess gegeben. Ob dies den Planern bewusst ist, muss freilich bezweifelt werden; sie sprechen den Zusammenhang weder hier noch später an. Im Gegenteil, wo von Geschichte im allgemeinen und geschichtlicher Situation im besonderen die Rede ist, da werden anstelle der emanzipatorischen Potenzen die negativen Erscheinungen in den Vordergrund gerückt: Geschichte als Ansammlung abgelebter Strukturen, Geschichtswissenschaft und Geschichtsbewusstsein als ideologisches Weltbewusstsein, das von der Soziologie destruiert werden muss, das ist - trotz mancher Gegenbeteuerungen - der Grundtenor der Aussagen insgesamt. Eindeutig ist die Dominanz einer unhistorischen Soziologie, deren Provenienz im Diffusen bleibt.

Im Diffusen bleibt nun aber vor allem das "oberste Lernziel", "die Befähigung zur Selbst- und Mitbestimmung". Die Verfasser wissen das selbst und konzedieren, dass die jeweilig mit diesem Lernziel verbundenen Inhalte nur in Beziehung zu konkreten "Anwendungssituationen" deutlich werden. Was aber in bestimmten und nicht vorwegnehmbaren Situationen "Selbstbestimmung oder soziale Gerechtig- [/S. 33:] keit" (zwei Begriffe, die hier fast synonym gebraucht werden, aber in Opposition stehen können) jeweils bedeuten, ist nicht festlegbar. So geraten die Verfasser beim Versuch, das oberste Lernziel zu differenzieren, notwendig in das Dilemma jeder normativen Didaktik. Sie geben sich so, als ob die Unterrichtsentscheidungen aus den obersten Setzungen ableitbar wären. "Tatsächlich aber sind die didaktisch-methodischen Entscheidungsgründe durch viele Faktoren mitbedingt, die nicht aus Sinnormen, wie sie als philosophisch explizierte Vernunftpostulate, als religiös-theologisch ausgelegte Offenbarungswahrheiten oder als Weltanschauungen mit politisch-gesellschaftlichen Zielen auftreten, abgeleitet werden können" (1). Innerhalb des Spielraums der "Sinnormen" sind aber nicht nur verschiedene didaktische Konzeptionen möglich, vielmehr sind hier die Sinnormen so vage, dass sie sogleich ambivalent und kontrovers auslegbar sind. Auch die Verfasser dieser Richtlinien sind der Deduktionsproblematik (2) insofern erlegen, als ihre einzelnen Lernziele keineswegs durch Berufung auf die oberste Setzung gerechtfertigt werden können, sondern jeweils selbst wieder ganz bestimmten Auslegungen dieser Setzung verpflichtet sind, die nun aber nicht mehr begründet, sondern unterschwellig eingeführt werden. Ließen die alten normativen Didaktikmodelle unter dem weiten Deckmantel des obersten "Bildungszieles" dem Lehrer Freiheit, die Stoffpläne hinsichtlich der an den Unterrichtsgegenständen zu gewinnenden Einsichten variabel auszulegen, so ist hier, in einer "lernzielorientierten" normativen Didaktik der Lehrer sehr viel strenger an die Einsicht der Richtlinienverfasser und an ihre Auslegung der obersten Norm gebunden - bis in die untersten Lernziele, bis in die empfohlenen oder vorgeschriebenen und zugelieferten Materialien hinein. Auf diese Weise entsteht eine scheinbar wissenschaftlich abgeleitete, in Wahrheit aber irrationale - d. h. im Entscheidenden der Diskussion und Offenlegung entzogene - Diktatur gesetzter Lernzielketten (3).

Eine so angesetzte politisch-normative Didaktik könnte nun kritisiert werden von den politischen Grundentscheidungen her - nicht von der allerobersten Norm, die min- [/S. 34:] destens verbal wohl in den meisten politischen Systemen der Welt Applaus findet -, sondern von den in den einzelnen Ausführungen, Frageansätzen, Blickausrichtungen, Lernzielformulierungen, Vorbehalten, Materialhinweisen usw. versteckten konkreten politischen Entscheidungen. Es wäre zu fragen, ob hier nicht eine Sicht vom Zustand wie von Veränderungstendenzen der Gesellschaft zugrunde liegt, die sich sehr viel genauer ausweisen müsste, ehe sie in Form von ministeriellen Richtlinien allen Schulen auferlegt werden dürfte. Es hat bisweilen den Anschein, als ob hier ein dialektisches Denkmuster durchschlägt, das die Schüler in der Gegenwart die Gesellschaft als ein schichten-/ klassen-/gruppenantagonistisches Modell sehen lehrt, in dem alles Denken nur Mittel im Kampf aller gegen alle ist - dass aber mit dem Zauberwort "Veränderung" die Richtung auf ein Harmoniemodell des Ausgleichs aller Ungleichheit, der sozialen Gerechtigkeit wie der Selbst- und Mitbestimmung zugleich eingeschlagen wird.

Aber hier geht es nicht um die Auseinandersetzung mit den nur diffus erkennbaren Konturen der Ausfüllung der obersten Norm, des "Demokratiegebotes". Gewiss ist richtig, dass eine politisch normative Didaktik zunächst in ihren politischen Setzungen zu kritisieren ist; hier geht es sehr viel bescheidener lediglich um die Untersuchung der didaktischen Dignität, also der Frage, ob die Entwürfe, gemessen an ihren eigenen Intentionen, stichhaltig sind. Die Frage nach der "Parteilichkeit" bleibt also aus dem Spiel.

In diesem Zusammenhang lässt sich hier schon die Hauptfrage umreißen, die sich immer wieder herandrängt: Ist die Zurückweisung der fachwissenschaftlichen Aspekte hinter eine politisch-didaktische Setzung nicht ein vielleicht unbewusst gebrauchtes Mittel, Instanzen der Kritik an einem im einzelnen voluntaristisch gesetzten Unterrichtsmodell auszuschalten? Denn die Reduzierung der Gesellschaftsvorstellung auf die konfliktträchtigen Antagonismen (ein allenfalls historisch verständlicher Gegenschlag gegen die "Institutionenkunde") und die Destruktion der Geschichte zum Instrumentarium für Orientierung oder Legitimierung von Gegenwartsaktionen findet in den systematischen wie hi- [/S. 35:] storischen Sozialwissenschaften ein Widerstandspotential gegen verzerrende Einseitigkeiten. Die Erfahrung, dass in der neueren Geschichte "Veränderungen" immer dann regressive, reaktionäre Veränderungen waren, wenn sie die Wissenschaften mediatisierten - unter welchen politischen Vorentscheidungen immer -, zwingt zu einer kritischen Untersuchung von Richtlinien und Lehrplänen, die sich ausdrücklich als Ableitungen aus einer politischen Norm zu erkennen geben. Hier geschieht das unter Begrenzung auf die Funktion, die der Geschichtswissenschaft und dem Geschichtsunterricht in dem neuen politischen Rahmenfach zugewiesen wird.

Das Geschichtsverständnis und die in ihm begründete gesellschaftliche Rollenzuweisung für Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht innerhalb der Gesellschaftslehre artikulieren sich programmatisch in den allgemeinen Ausführungen zum "Arbeitsschwerpunkt Geschichte" (H. S. 18-30) bzw. zum "Historischen Aspekt" (NW. S. 15-20) und in der unterrichtspraktischen "Strukturierung der Lernfelder" (H. S. 47-311) bzw. "Unterrichtsorganisation" (NW. S. 29-131) (4).