Die Präpotenz der Fachwissenschaft und deren im doppelten Sinne isolierende Funktion in der Bestimmung von Unterrichtsinhalten hat in besonderem Maß bei didaktisch sensiblen Richtlinienverfassern und Lehrern zu einer in dieser Form nicht haltbaren Abwendung von den Wissenschaften geführt. Die diffizilen Zusammenhänge von Wissenschaft und Alltagswissen wurden nicht beachtet - oder nur unter dem Aspekt einer Manipulation des Alltagswissens durch die Wissenschaften gesehen. Es soll keineswegs bestritten werden,, daß eine Korrumpierung des Alltagswissens durch die Wissenschaften erfolgen kann und auch erfolgt. Darüber dürfen aber nicht die weiteren Aspekte des Zusammenhangs übersehen werden. Wissenschaft hat sich historisch aus Alltagswissen und Alltagsproblemen entwickelt. Ihre Denk- und Argumentationsweise ist allerdings rationaler und methodischer, da sie sich besserer Beobachtungstechniken und stringenterer Argumentationsweisen bedient. Trotz aller vorhandener esoterischer Forschung ist Wissenschaft auch gegenwärtig die rational-methodische Fortsetzung des Alltagsverständnisses. Fragen nach Genese und Wirkung, Zusammenhängen, nach Ursachen und Prognosen von und über gesellschaftliche Sachverhalte werden nicht nur in den Wissenschaften gestellt. Wir müssen in der Didaktik vielmehr davon ausgehen, daß Schüler immer schon strukturell das tun, was die politische Bildung in der Schule ihnen erst beibringen will. Die Beharrlichkeit und Folgerichtigkeit der Fragen des Alltagsverständnisses zu erhöhen - das ist ein Ansatzpunkt für die Didaktik der politischen Bildung. Auch die meisten erklärungsbedürftigen Phänomene haben Wissenschaft und Alltagsverständnis gemeinsam. Wenn Wissenschaft in problematisierter Erfahrung ihren Ursprung hat, aber dann nur in spezialisiertem Vorgehen mit rationalen und höchst kom[/S. 371:]plexen Techniken Ergebnisse erbringen kann, stellt sich das Problem der Rückübersetzung der Forschungsergebnisse in eben dieses Alltagsverständnis. Es zeigt sich immer deutlicher, daß spezialisierte Kenntnisse nur unter Schwierigkeiten in die unspezialisierte Praxis umgesetzt werden können. Läßt man alles Wissenschafts-Wissen ungeordnet, ungefiltert und unkoordiniert auf das Alltagsverständnis von Nicht-Wissenschaftlern zurückwirken, so ist dieses Wissen keine Hilfe, sondern eher eine Belastung, die das Problem, das eigentlich durch dieses Wissen aufgeklärt werden sollte, noch unerkennbarer macht. Hier liegt ein zweiter Ansatzpunkt für die Didaktik. Ein weiterer - systematischer - Gesichtspunkt des Zusammenhangs von Alltagswissen und Wissenschaft bildet die Struktur und die Historizität der Alltagssprache. Thomas S. Kuhn hat auf die Theorieabhängigkeit der Beobachtungssprache hingewiesen (39). In der Beobachtungssprache, derer wir uns in der Wissenschaft wie im Alltag bedienen, sind immer schon theoretische Vorannahmen eingeschlossen, die in der Realität bestimmte Relationen herstellen. Ohne diese Theorieelemente werden diese Relationen der Realität nicht entdeckt. Nicht jedes Theorieelement ist schon immer in der Beobachtungssprache enthalten gewesen. Es wurde vielmehr zu einer bestimmten historischen Zeit in sie aufgenommen (z. B. das Naturrecht oder das Theorem von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft). Das Eindringen neuer Theorieelemente in die Beobachtungssprache erzeugt "Wahrnehmungsverschiebungen" (40). Nach solchen "Umwandlungen des Sehbildes" (41) wirken diese Theoreme ihrerseits wieder als beharrende und resistente Momente gegen neue Sichtweisen. Der Physiker Thomas S. Kuhn hat hierin die Feststellungen der Soziologen Max Horkheimer und Erich Fromm über die historische Geform[t]heit des menschlichen Wahrnehmungsapparates bestätigt. Die in der Umgangssprache impliziten fachwissenschaftlichen Paradigmen und Theoreme sind unverzichtbar für sozialwissenschaftliche Erkenntnis. Wir besitzen in der Alltagssprache ein Wissen über Aspekte menschlichen Verhal[/S. 372:]tens, das nicht direkter sinnlicher Erfahrung zugänglich ist. Eine Intention ist z. B. kein direkt beobachtbares Element einer Handlungssequenz. Aussagen über gesellschaftliche Sachverhalte sind nur durch kommunikative und nicht (allein) durch sensorische Erfahrung möglich. Die fachwissenschaftlichen Begriffe der einzelnen Sozialwissenschaften lassen sich nicht unmittelbar durch sensorische Wahrnehmung aneignen. Sie sind nur ein Begriffsapparat, der mehr oder minder gut gehandhabt werden kann. Erst die Anwendung des Begriffs "Konflikt" auf ein Bündel menschlicher Handlungen und Äußerungen nach bestimmten Zuordnungsregeln führt zu der Erkenntnis, daß ein Konflikt vorliegt. Die Kombination von theoretischen Annahmen und "ouvertem Verhalten" (Mandelbaum) erlaubt es erst, Aussagen über gesellschaftliche Sachverhalte zu machen. Gesellschaftliche Ereignisse und Probleme sind nicht ausschließlich direkter, sondern nur theoriegeleiteter Beobachtung zugänglich. "Relative Deprivation", "Einstellungen", "Schichtung" und "Klasse" oder "Revolution" und "Feudalismus" sind in das Alltagsverständnis aufgenommene fachwissenschaftliche Begriffsbildungen. die eine bestimmte Theorie implizieren.