Die von den Historikern in der Bundesrepublik geführte neuere Theoriediskussion hat eine Reihe von Ursachen. Sie lagen zu einem Teil in fachinternen Richtungskämpfen, zum anderen in externen Herausforderungen. Nach 1945 hatte sich, insbesondere im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Geschichte des »Dritten Reiches«, verschärft die Frage gestellt, ob die in der Tradition des Historismus stehende Geschichtswissenschaft in der Lage sei, historische Phänomene wie den Totalitarismus zu erforschen. Für die Erschließung von Motiven, Entscheidungen, Handlungen historischer Persönlichkeiten reichten die Instrumente der traditionellen Geschichtswissenschaft aus. Es wurde aber problematisiert, ob Konzentration auf die historische Individualität, hermeneutisch verstehende Auslegung, Verstehen historischer Phänomene aus den eigenen Bedingungen und nach den Maßstäben der eigenen Zeit ausreichten, um die Strukturen einer historischen Zeit wie der des Nationalsozialismus zu erklären. Das vorherrschende theorieskeptische historistische Paradigma wurde kritisiert. In diesem Zusammenhang ist die Diskussion der 50er Jahre zu sehen, sozioökonomische, soziopolitische und soziokulturelle Phänomene, Strukturen und Prozesse in die Forschung einzubeziehen. Strukturgeschichte war einer der Schlüsselbegriffe.

Die Auseinandersetzung der Historiker war auch eine Reaktion auf die Herausforderung der Geschichtswissenschaft durch die systematischen Sozialwissenschaften, [/S. 544:] insbesondere → Politikwissenschaft und → Soziologie, die sich an den Universitäten etabliert hatten und mit ihrem Instrumentarium, ihren Methoden, Fragestellungen, Theorien für die anstehenden Probleme der Gesellschaft Lösungsmöglichkeiten anboten. Das führte zu einem Statusverlust der Geschichtswissenschaft. Eine Folge dieser Entwicklung war, dass das Unterrichtsfach Geschichte in den Schulen zurückgedrängt wurde, was wiederum zu einer Gegenbewegung der Historiker und der Geschichtslehrerverbände führte. Von einem Teil der Historiker wurde der Ruf nach Öffnung gegenüber den systematischen Sozialwissenschaften aufgegriffen, da deren Instrumente die Erforschung von Strukturen und Prozessen, also von überindividuellen Phänomenen, ermöglichte. Es ging auch darum, verlorene Positionen in der öffentlichen Diskussion, in den Universitäten, im Schulcurriculum zurückzugewinnen.

In den frühen 70er Jahren vertrat eine jüngere Gruppe von Historikern, beeinflusst von der Frankfurter Schule, eine praktisch engagierte Geschichtswissenschaft in emanzipatorischer Absicht. Sie verstanden Geschichtswissenschaft als Historische Sozialwissenschaft oder Gesellschaftsgeschichte. In einer Reihe von Publikationen und in der neu gegründeten Zeitschrift »Geschichte und Gesellschaft« forderten sie Kritik am überkommenen Historismus und mehr Theorieorientierung der Geschichtswissenschaft. Sie hoben die gesellschaftlichen Funktionen der Geschichtswissenschaft hervor und betonten den Praxisbezug.

An dieser engagiert geführten Diskussion um Theorieorientierung und Paradigmawechsel in der Geschichtswissenschaft hat sich nur ein Teil der Historiker beteiligt. Viele Historiker sind gegenüber einer Theorieorientierung in der Geschichtswissenschaft skeptisch geblieben. Sie fürchten, dass die Komplexität historischer Wirklichkeit aus dem Blick geraten könne, weil Geschichtsschreibung aus der Perspektive des »Sehschlitzes« von Theorien zur Verkürzung führe. Hinzu kommt, dass sich nicht jeder Historiker dem hohen Anspruch einer theorieorientierten Geschichtswissenschaft gewachsen fühlt. Aber durch diese Auseinandersetzung wurde die Krise, in der sich Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht Ende der 60er Jahre befanden, überwunden. Die Konkurrenz mit den systematischen Sozialwissenschaften wurde erfolgreich aufgenommen, und die Geschichte hat in der öffentlichen Diskussion an Gewicht gewonnen. Im Rückblick erweist sich diese Auseinandersetzung als eine frühe Phase des Richtungsstreites in der Historikerschaft der Bundesrepublik, der seit 1986 öffentlich ausgetragen wird.

Im Gegenzug zur Theorieorientierung, die eher von Experten als von der breiten Gruppe historisch Interessierter angenommen wurde, ist es über die → Alltagsgeschichte zu einer Gegenbewegung gekommen. Auf der Mikroebene wird im überschaubaren Feld gearbeitet. So versteht sich Erforschung der Alltagsgeschichte oft als antitheoretische Bewegung, die durch einfühlende Rekonstruktion der Lebenszusammenhänge des »kleinen Mannes« erzählend und berichtend vergangene Wirklichkeit treffender erschließt, als es nach Ansicht vieler ihrer Vertreter durch den Einsatz von Theorien möglich sei. Hier liegt die Gefahr naiver Vergangenheitserschließung. Andererseits ist festzuhalten, dass theoretisch abgesicherte Alltagsgeschichtsforschung ein Defizit der Sozialgeschichte aufhebt. Konsens besteht in der Auffassung, dass die theorieorientierten, engagierten Historiker die traditionellen Methoden der [/S. 545:] Geschichtswissenschaft nicht aufgeben, sondern hermeneutische und analytische Methode miteinander verbinden.

Der innerhalb der Geschichtswissenschaft geführte Disput hat die Grundlagendiskussion der Disziplin intensiviert. Die Auseinandersetzung wurde auf zwei Ebenen geführt. Einmal ging es um die Fragen, die das Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft betreffen: Wodurch unterscheidet sich Geschichtswissenschaft von den systematischen Sozialwissenschaften? Wie ist das Verhältnis von Hermeneutik und analytischer Wissenschaftstheorie? Wie steht es um Wertbezogenheit und Wertfreiheit von Wissenschaft, um Objektivität und Parteilichkeit? Wie ist das Verhältnis von Verstehen und Erklären? Diese erkenntnistheoretisch und geschichtsphilosophisch orientierte Diskussion über das Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft hat Karl-Georg Faber 1971 bilanziert. In den folgenden Jahren wurde der »Arbeitskreis Theorie der Geschichte« eingerichtet, in dem Historiker, Philosophen, Sozialwissenschaftler die begonnene geschichtstheoretische Diskussion fortführten.

Von dieser Theorie der Geschichtswissenschaft, die als Metatheorie zu bezeichnen ist, unterscheiden wir die gegenstandsbezogene Theorie des Historikers. Theorien in diesem Verständnis sind für den Historiker Instrumente, mit denen er die Quellenvielfalt ordnet. Es handelt sich bei der Metatheorie der Geschichtswissenschaft also um Begriffssysteme, die zur Identifikation und Erklärung historischer Prozesse eingesetzt werden, die aber nicht aus den Quellen selbst abgeleitet sind. Kollektive historische Phänomene können nur angemessen erforscht werden, wenn Theorien, Fragestellungen und Methoden der systematischen Sozialwissenschaften einbezogen werden. Der explizite Theoriegebrauch schafft erst die Voraussetzung, historische Realität wie Klassen, Schichten, Rollen, Status, Stratifikationen, Sozialisation zu erfassen.

Eine neue Qualität erhielt die Auseinandersetzung durch die sogenannte Historikerdebatte (oder Historikerstreit), die durch den von Ernst Nolte in der FAZ (6. 6. 1986) veröffentlichten Artikel »Vergangenheit, die nicht vergehen will. Eine Rede, die geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte« und die Antwort von Jürgen Habermas, »Eine Art Schadensabwicklung. Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung«, in der ZEIT (10. 7. 1986) ausgelöst wurde.

Der bisher fachintern ausgetragene Richtungsstreit wurde nun nicht nur von Historikern, sondern auch von Publizisten und Vertretern der sozialwissenschaftlichen Disziplinen in eine breite öffentliche Diskussion eingebracht. Der Kern dieser Auseinandersetzung lässt sich auf die Kurzformel bringen: Geschichte als Aufklärung oder Geschichte als Identifikationsstifterin. Zu kurz greift die Hypothese, aufklärend-emanzipatorische Geschichtswissenschaft führe zu Destabilisierung, identitätsstiftende Geschichtswissenschaft zu Orientierung. Aufklärung und Identitätsstiftung sind zwei dominante Funktionen der Geschichtswissenschaft, die sich ergänzen. Durch Aufklärung wird tragfähige Identität gewonnen. Das so erworbene Geschichtsbild erweist sich als tragfähig, weil es offen und nicht geschlossen, rational und nicht irrational, dynamisch und nicht statisch ist. Historische Identitätsgewinnung muss Ergebnis kritischer Auseinandersetzung mit Vergangenheit sein, also traditionskritisch gewonnen werden. Für die Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik gilt, dass die Ausfüllung von Erinnerung nicht uniform gedacht werden kann, sondern nur [/S. 546] plural. Es gibt in der Demokratie nicht das eine Geschichtsbild, sondern die Vielheit der Geschichtsbilder. Deshalb sind in der Bundesrepublik auch »verordnete Geschichtsbilder« nicht denkbar, wie irrig in einem Beitrag zum Historikerstreit geargwöhnt wird (Hans Mommsen, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 1/1986). Solche Intentionen würden auch angesichts der konkurrierenden Richtungen, die an den Historischen Instituten vertreten werden, nicht realisierbar sein.