Die Geschichtlichkeit von Themen des Politikunterrichts sei modellhaft an vier didaktischen Zugriffsweisen verdeutlicht.

Erstens ist wohl unmittelbar einsichtig, dass sich bei der Analyse aktueller politischer Konflikte oder Probleme, wenn sie über die reine Tagesaktualität hinausgelangen will, die geschichtliche Dimension als Zugang zum Verständnis geradezu aufdrängt. Gewiss fragen wir z.B. beim Nahost-Konflikt nach den ihn bedingenden Faktoren sozio-ökonomischer, macht- und sicherheitspolitischer, militärstrategischer und ideologischer Art. Aber seine Tiefenstruktur als ein Existenzkampf politischer Großgruppen wird nur verstehbar aus deren geschichtlich gewachsenem Selbstverständnis, das gleichsam alle andern Faktoren imprägniert. Im Grunde meldet sich darin die ganze jüdisch-israelische und die islamisch-arabische Geschichte als Thema. Diese kann der Politikunterricht nicht aufarbeiten; er ist dafür auf den Geschichtsunterricht angewiesen. Aber unabhängig von diesem wird er doch den gegenwärtigen Konflikt mindestens bis in die Zeit der Entstehung des Staates Israel zurückverfolgen müssen, um ihn in seinen heutigen Dimensionen verstehbar zu machen.

Zweitens wird die Beachtung der geschichtlichen Dimension politischer Themen unabdingbar, wenn es um die Analyse politischer Strukturen oder Mentalitäten geht; denn sie sind immer von längerer Dauer, aus reiner Gegenwart nicht zu verstehen. Die unterschiedlichen Ausformungen parlamentarischer Demokratie, Parteiensysteme, Sozialmilieus und ihr Wählerverhalten sind Fragen, die über die Zeitgeschichte im engeren Sinn zurückreichen in Entwicklungen gesellschaftlicher und politischer Konfliktlinien seit dem 19. Jahrhundert. Dabei treffen wir auf die Verbindung objektiver, sozialstruktureller Faktoren mit der Selbstdeutung und dem Selbstverständnis sozialer Gruppen, mit biographisch und sozial geprägten Einstellungen, die wir Mentalitäten nennen. Auch wenn sie sich heute vielleicht rascher als bisher verändern, teils gar auflösen, wirken sie doch auch in neuen Formierungen weiter. Sie zu verstehen und zu reflektieren, gehört zentral zum Verständnis heutiger Demokratie der pluralistischen Gesellschaft.

Drittens kommt Geschichte als Alternative in den Blick, wenn wir die Besonderheit unserer Zeit, ihrer Strukturen, Institutionen, Probleme und Wertmaßstäbe erfassen wollen. Die oberflächliche Neigung, die ganze Menschheit in ihrer Geschichte über den Leisten unserer heutigen Sichtweisen und Maßstäbe schlagen zu wollen, scheitert schon an der "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" in der gegenwärtigen, sich globalisierenden Welt. Das gilt für unsere industriell-technisch bedingte Lebensweise ebenso wie für die Prinzipien und Institutionen unserer Demokratie und für unsere Vorstellung von Menschenrechten. Gerade die heute diskutierte Universalität der Menschenrechte bzw. ihre kulturell unterschiedliche Interpretation enthält die Frage nach geschichtlichen Alternativen. Historischer Blick relativiert unsere Ordnungsformen und Wertorientierungen. Das muss keineswegs zu reinem Wertrelativismus führen, kann vielmehr mit besserem Verständnis für andere Kulturen auch eine höhere Wertschätzung der eigenen bewirken.

Viertens schließlich kann damit Geschichte als universaler Horizont unseres Verständnisses von Gegenwart und unseres politischen Denkens und Wollens ins Blickfeld kommen. Die Neuartigkeit oder jedenfalls die spezifische Eigenart heutiger weltweiter Probleme wird in diesem Horizont erst angemessen erfassbar. Das gilt für die Frage der Ökologie im "Raumschiff Erde" ebenso wie für die Sicherung des Friedens in einer Welt von 190 Staaten ganz unterschiedlichen Gewichts und Interesses angesichts der Existenz von Massenvernichtungswaffen und für die Frage nach der Sicherung des Minimums an Bedürfnisbefriedigung für 6 Milliarden Menschen, zwischen denen Wohlstand und Armut provozierend ungleich verteilt sind. Die Grundfrage nach einer künftigen politischen Weltordnung ist unabweisbar gestellt. Nur wer geschichtlich bewusstlos lebt, kann die Neuartigkeit der heutigen Herausforderungen übersehen. Politik wird zunehmend international, wird zu Weltpolitik. Deshalb erfordert sie auch zunehmend weltgeschichtliches Denken. Politikunterricht kann die entsprechenden Fragen an die Geschichte stellen, zu ihrer Beantwortung ist er auf Geschichtsunterricht angewiesen.