1. Im Vergleich zum politischen Unterricht ist die didaktische Diskussion und Theoriebildung für den Geschichtsunterricht sehr viel weniger weit entwickelt. Es gibt z. B. noch keine zusammenfassenden Darstellungen sowie historisch-kritische Aufarbeitungen bisheriger Entwürfe (1). Das kann auch ein Vorteil sein, insofern vielleicht die nun notwendigen Überlegungen unbefangener geführt werden können; denn es ist keineswegs sicher, dass der z. T. gewaltige fachdidaktische Aufwand dem politischen Unterricht auch immer genützt hat, teilweise scheint er sich auch ihm gegenüber verselbständigt zu haben. Längst nämlich hat sich die didaktische Diskussion des politischen Unterrichts gelöst von der Aufgabe, Erkenntnisfortschritte zu leisten, indem der jeweils vorliegende Problemstand Zug um Zug verbessert wird. Statt dessen stehen sich "Richtungen" und "ideologische Parteiungen" gegenüber, die einander nicht mehr zum Zwecke des Erkenntnisfortschritts befragen, sondern eher an Abgrenzung interessiert sind. Das hängt keineswegs nur mit der inzwischen eingetretenen politischen Polarisierung zusammen, sondern auch mit der fachdidaktischen Professionalisierung und Spezialisierung, die offenbar notwendigerweise ein gewisses Maß der Energie in die eigene Profilierung und Abgrenzung investieren muss. Vielleicht erklärt sich daraus auch die Tendenz, für die didaktische Grundlegung relativ beliebige "erkenntnisleitende Interessen" anzusetzen, wobei die Beliebigkeit gerade im Verzicht auf historische Reflexion begründest ist; die bisher vorliegende Diskussion wird nicht aufgegriffen, sondern durch schlichte Neusetzungen einfach außer Kraft gesetzt (2).
2. Es erscheint mir also schon aus methodischen Gründen sinnvoll, die Überlegungen zu einer historischen Didaktik noch einmal dort beginnen zu lassen, wo sie zum erstenmal systematisch entwickelt wurden: bei Erich Weniger (3). Seine Überlegungen zum Geschichtsunterricht stehen im größeren Zusammenhang seiner Bemühungen, eine Theorie für den Lehrplan der Schule überhaupt zu entwickeln. Warum gibt es in den Schulen eigentlich bestimmte Fächer und andere nicht? Und aus welchen Gründen werden irgendwann neue Fächer eingeführt? Weniger suchte die Antwort auf diese Fragen, indem er die Entstehung der Fächer historisch zurückverfolgte. Und dabei zeigte sich ihm, dass neue Schulfächer immer dann eingeführt werden, wenn eine sogenannte "Bildungsmacht" im politisch-gesellschaftlichen Leben so mächtig geworden ist, dass sie vor den Heranwachsenden in der Schule repräsentiert sein wollte. Zu diesen Bildungsmächten gehörten unter anderem der Staat, die Kirchen und die Wirtschaft. Im Geschichtsunterricht nun wende sich der Staat mit seinen Ansprüchen an die junge Generation, und zwar unter dem Gesichtspunkt, dass die nachwachsende Generation ja künftig die Verantwortung für diesen Staat werde übernehmen müssen. "Der Gegenstand des Geschichtsunterrichts war immer auf den Bereich der künftigen Verantwortung bezogen und eingegrenzt. Der Geschichtsunterricht sollte die geschichtlichen Voraussetzungen erarbeiten, unter denen die jeweilige Verantwortung stand, und damit der heranwachsenden Generation das Rüstzeug mitgeben, dass sie zur Bewältigung der vor ihr liegenden Aufgaben braucht" (4). Im Geschichtsunterricht komme also der Selbsterhaltungswille des Staates gegenüber der heranwachsenden Generation zum Ausdruck, er ist für Weniger die eigentliche Einführung der jungen Generation in die Politik; seine Aufgabe ist, die "Lebensgeschichte" des Staates produktiv, aber eben nicht historisch beliebig fortzuschreiben.
3. Wenn man bei diesem Gedanken heute noch einmal ansetzt, darf man sich nicht beirren lassen von zeitbedingten bzw. personbedingten Irrtümern und Einseitigkeiten, son- [/ S. 150:] dern muss zwischen dem Prinzipiellen und dem historisch zu Modifizierenden unterscheiden. Ich halte Wenigers prinzipielle These nicht nur nach wie vor für richtig, sondern auch für die einzige Möglichkeit, die Notwendigkeit des Geschichtsunterrichts in den Schulen überzeugend zu begründen; dieser Argumentation kann man jedoch nur dann folgen, wenn man Wenigers Konzept konsequent, und d. h. auch: in der historischen Verlängerung, zu Ende führt.
4. Weniger hatte bereits einige andere Begründungsversuche für den Geschichtsunterricht überzeugend zurückgewiesen, die gleichwohl später immer wieder eine Rolle spielen sollten. Das betraf zunächst die Rolle der Geschichtswissenschaft. Sie könne als solche den historischen Unterricht nicht begründen, sie sei nicht selbst das, was sich im Geschichtsunterricht repräsentiert, weil sie ausschließlich der historischen Wahrheitsfindung verpflichtet sei und nicht dem Selbsterhaltungswillen des Staates; sie sei für den Geschichtsunterricht nur Mittel zum Zweck, also methodologisches und materiales Repertoire. Auch psychologisch-anthropologische Begründungen könnten nicht überzeugen, wie, dass man in der Begegnung mit der Geschichte notwendige Aspekte der Bildung (heute würde man eher sagen: der Identität) erfahre. Es lasse sich nämlich zeigen, dass alle solche Bildungsmomente bzw. Tugenden oder menschlichen Grunderfahrungen auch in anderen Fächern bzw. in der Begegnung mit anderen kulturellen Objektivationen entstehen könnten (z. B. Literatur, Theater, Kino) und jedenfalls nicht spezifisch aus dem Geschichtsunterricht erwüchsen. Darauf hatte Theodor Litt schon in seinem Buch "Geschichte und Leben" (Leipzig 1918) hingewiesen.
Diese Kritik trifft - so scheint mir - auch manche gegenwärtigen Versuche, historischen Unterricht als notwendig für die Identitätsbildung des Schülers zu verstehen - jedenfalls dann und insofern, als solche Begründungen lediglich von der Anthropologie des Schülers ausgehen und nicht auch von seinen politischen Pflichten und Aufgaben. Dieser Einwand gilt übrigens über den Geschichtsunterricht hinaus für alle gegenwärtigen didaktischen Konzepte, die kultu- [/ S. 151:] rellen, beruflichen und politischen Lernziele einseitig aus den subjektiven Dimensionen der Bedürfnisse, Motivationen und Interessen herleiten wollen - was oft nur eine naive Fortsetzung der alten "Pädagogik vom Kinde aus" ist - und dabei übersehen, dass solche Lernziele auch von den objektiven Ansprüchen her, die diesen Bedürfnissen usw. zunächst einmal gleichgültig gegenüberstehen, formuliert werden müssen. Kommunikationstheoretische, identitätstheoretische und auch psychoanalytisch orientierte didaktisch-methodische Konzepte drohen die Einsicht zum Verschwinden zu bringen, dass realitätsbezogene und deshalb lohnende Lernprozesse die grundsätzliche Spannung zwischen subjektiven Bedürfnissen und den Ansprüchen der diesen gegenüber prinzipiell gleichgültigen objektiven Realitäten aushalten und produktiv bearbeiten müssen (5).
5. Die prinzipielle Zustimmung zum Ansatz von Weniger macht zugleich seine Weiterentwicklung nötig. Die Grenzen seiner Argumentation müssen überschritten werden. Da ist zunächst zu klären, warum der Geschichtsunterricht die ihm von Weniger gesetzte Aufgabe von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr hat wahrnehmen können, sondern durch einen zusätzlichen politischen Unterricht ergänzt bzw. seit Ende der 50er Jahre teilweise fast ersetzt worden ist. Weniger hat sich schwer damit getan, nach 1945 den politischen Unterricht in seinen Begründungszusammenhang des Geschichtsunterrichts einzubeziehen. Grund dafür war seine Überlegung, dass die Jugend noch nicht im Ernst der politischen Kämpfe und Entscheidungen stehe, weshalb es auch keinen Sinn habe, sie in der Schule mit aktuellen politischen Kontroversen zu befassen. Deshalb könne der historisch-politische Unterricht nur propädeutische Funktion haben, auf künftige Verantwortung vorbereiten, indem er gerade in Distanz zur Aktualität das Repertoire für die politische Besinnung aus der Geschichte nehme; dabei ging es Weniger keineswegs um einseitige historische Informationen im Sinne etwa der "staatstragenden Mächte", sondern durchaus um die Darlegung der staatlichen und gesellschaftlichen Widersprüche -aber eben nicht mit dem Ziel jeweils [/ S. 152:] aktueller politischer Stellungnahmen der Schüler. Angesichts mancher Entwicklungen an Schulen und Hochschulen in den letzten Jahren, angesichts leichtfüßiger politischer Stellungnahmen mit wenig Distanz und noch weniger Nachdenken mag Wenigers Auffassung nachträglich gerechtfertigt erscheinen. Dennoch beruhte sie auf Voraussetzungen, die nicht mehr gültig sind.
6. Politische Verantwortung war für Weniger unmittelbar staatsbezogen (aktives und passives Wahlrecht; Wehrdienst), nicht auch gesellschaftsbezogen, wobei die traditionelle Trennung von Staat und Gesellschaft vorausgesetzt wurde. Unabhängig nun von der Frage, wie das Verhältnis von Staat und Gesellschaft zu definieren sei - worüber es auch heute noch keineswegs Konsens gibt - , dürfte Einigkeit darüber herrschen, dass im politisch-historischen Unterricht auch die nichtstaatlichen politisch-relevanten Mächte angemessen präsentiert sein müssen; das ergibt sich allein schon aus ihrer objektiven Bedeutung für das Gemeinwesen. Gesellschaftlichen Verantwortlichkeiten sind aber auch Jugendliche schon ausgesetzt - z. B. im Beruf und in Schulen und Hochschulen. Das heißt: In dem Augenblick, wo man den Blick vom Staatswesen auf das demokratische Gemeinwesen im ganzen richtet, entfällt Wenigers Voraussetzung, dass der historische Unterricht als ein politischer nur propädeutische Bedeutung haben könne. Aber noch eine weitere Konsequenz wird sichtbar. Für die Ausdehnung des Begriffs Verantwortung auf die gesellschaftlichen Bezüge der Jugendlichen reicht der Geschichtsunterricht nicht mehr aus. Selbst wenn er stärker sozialgeschichtlich (statt einseitig staatsgeschichtlich) orientiert wäre, könnte er den komplexen Zusammenhang der gegenwärtigen politisch-gesellschaftlichen Strukturen und Beziehungen nicht hinreichend erschließen. Wäre dies möglich, so wären Wissenschaften wie Politikwissenschaft und Soziologie überflüssig, und ihre Aufgaben könnten von der Historie mit erledigt werden. Die von Weniger formulierte Funktion des historischen Unterrichts muss also ergänzt werden durch kognitive Modelle der aktuell-bezogenen Politikwissenschaft und Soziologie, [/ S. 153:] die Gleichzeitigkeit der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse und Beziehungen zum Ausdruck bringen (6).
7. Wenigers Vorstellung von der politischen Exterritorialität des Jugendalters wurde ferner in dem Maße hinfällig, wie die soziale Funktion der Familie und ihre Sozialisationsfunktion sich änderten. Je mehr die soziale und ökonomische Autonomie der bürgerlichen Familie durch vielfältige bürokratisierte Verflechtungen mit der Gesamtgesellschaft beschnitten wurde, und je weniger der Vater noch als Garant bzw. Vertreter der politischen und gesellschaftlichen Interessen der Familie gelten konnte, um so mehr wurden die jugendlichen Mitglieder der Familie selbst auch politisch-gesellschaftliche Subjekte. (Ein vielleicht extremes, aber anschauliches Beispiel: Durch die Stipendienvorschriften mehr oder weniger aufgezwungene Unterhaltsprozesse von - wenn auch erwachsenen - Kindern gegen ihre Eltern). Weniger sah im Jugendlichen nicht das politisch isolierte Individuum, den isolierten einzelnen Pflichten- und Rechtenträger, wie es sich heute etwa im Bild des "Rollen-Ensembles" ausdrückt, er sah ihn vielmehr als Teil eines Sozialverbandes, nämlich der Familie. Die ökonomische und soziale Emanzipation der Jugendlichen von ihren Familien machte sie nun notwendig auch - relativ unabhängig von ihrem Alter - zu politisch-gesellschaftlichen Subjekten, also zu Menschen, die selbst für ihre gesellschaftlichen Interessen eintreten müssen und nicht mehr damit rechnen können, dass dies irgend jemand sozusagen "naturwüchsig" für sie tut (7).
8. Die Bedeutung, die Weniger allein dem Geschichtsunterricht beimaß, hatte ferner zur Voraussetzung, dass es so etwas wie Geschichtsbewusstsein überhaupt in nennenswertem Ausmaß in der Bevölkerung gab, dass das alltägliche, private und öffentliche Leben auch in einem historischen Kontinuum gelebt, erlebt und interpretiert wurde; dass Zukunft als verantwortliche Fortschreibung von Vergangenheit und Gegenwart angesehen wurde. Eine wesentliche Bedingung der Möglichkeit für ein derartiges Geschichtsbewusstsein ist offenbar wiederum eine bestimmte Familienkonstellation. [/ S. 154:] Es hängt nämlich davon ab, inwieweit die Menschen sich selbst biographisch, oder besser: in der Sequenz von Generationen in ihrer Familie erleben. Die zunehmende Vergesellschaftung der Familie, die zunehmende Aushöhlung ihrer "naturwüchsigen" Funktionen, die Aufsaugung vieler ihrer Aufgaben durch gesamtgesellschaftliche Rechts- und Fürsorgemaßnahmen zerstören auch notwendigerweise die unmittelbare Erfahrungsbasis für historische Prozesse. Wo es keine biographische Verbindlichkeit gibt, kann es auch kein historisches Bewusstsein geben - es sei denn als professionell und artifiziell konstruiertes.
9. Diese Tendenz wird noch dadurch unterstützt, dass die grundlegenden Prinzipien der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die ihrer Natur nach ahistorisch sind, sich inzwischen radikal durchgesetzt haben gegen anderwertige - z. B. religiöse - Prinzipien. Die Prinzipien der technologischen Effizienz, des wirtschaftlichen Wachstums und des maximalen Profits sind ahistorisch in dem Sinne, dass ihr jeweils fortgeschrittener Stand den zurückliegenden, aus dem er hervorgegangen ist, nicht nur überflüssig macht und zum "Wegwerfen" verurteilt, er bedarf des voraufgegangenen nicht einmal zu seiner Rechtfertigung oder auch nur Erklärung. Eine neue Produktionsmethode macht die alte überflüssig, die Umkehrung kommt nicht in Frage: dass etwa frühere Methoden besser sein könnten als neuere. Die Annahme, das Frühere könne auch das Bessere sein, kann nur dann erwogen werden, wenn andere Prinzipien für "Fortschritt" eingeführt werden, z. B. solche der Lebensqualität oder der Humanisierung der Arbeit, die den eben genannten Prinzipien entgegengesetzt werden müssen und von daher nicht zu legitimieren sind, sondern ihrer eigenen Legitimation bedürfen.
Ähnlich verhält es sich mit den für die herrschenden gesellschaftlichen Prinzipien benötigten humanen Dispositionen: Die Kategorien der individuellen Leistung, des individuellen Wettbewerbs, der sozialen Mobilität, des Rollenhandelns, ja sogar der "balancierenden Identität" (Krappmann) sind gegenüber biographisch-familiären wie auch historischen Prozessen prinzipiell gleichgültig (8).
[/ S. 155:] Weder die anthropologischen noch die technologisch-ökonomischen Prinzipien unseres gesellschaftlichen Lebens benötigen historisches Bewusstsein, vermögen dieses allenfalls als eine Art von Luxus zu dulden oder lieber noch als funktionalen "Reibungsverlust" zu verhindern. Wenn man also die Herausarbeitung von historischem Bewusstsein in den Schulen fordert, muss man dafür andere Kategorien und Kriterien ins Feld führen als die eben genannten. Einen derartigen Versuch hat z. B. die "kritische Theorie" unternommen, indem sie die realen Lebensverhältnisse - und damit auch jene obengenannten Prinzipien - kritisch konfrontiert mit den Prinzipien und Versprechungen, die am Beginn der bürgerlichen Gesellschaft formuliert wurden (z. B. höchstmögliche Individuation und Entfaltung des Individuums; Mündigkeit).
10. Wenn es nach Weniger darum geht, im Geschichtsunterricht die "Lebensgeschichte" des Staates zu präsentieren mit dem Ziel, sein weiteres Schicksal der nachkommenden Generation zu überantworten, dann muss der Begriff des Staates als eines demokratischen präzisiert werden: Weniger hatte seine Thesen nur formal begründet, das heißt ohne nähere Ausführung zu den Besonderheiten des demokratischen Staates. Ob dieser nämlich historisch verstanden werden muss, hängt davon ab, wie man seine Aufgabe definiert. Wenn der Staat z. B. lediglich als "Krisenmanager" fungieren soll, als oberste Ordnungsmacht für die Regelung widersprüchlicher gesellschaftlicher Interessen, benötigt man zu seinem Verständnis und zur verantwortlichen Partizipation an ihm kein historisches Bewusstsein, sondern eher "zeitlose" funktionale Verständnismodelle, wie das Modell der "demokratischen Spielregeln" oder das "Rollen-Modell". In diesem Falle genügt es; wenn sich der Staat nach jenen technologisch-ökonomischen ahistorischen Prinzipien konstituiert.
Nur wenn man unterstellt, dass der demokratische Staat sich gerade dadurch auszeichnet, dass er für sein Handeln anderen normativen Bedingungen unterliegt, die einerseits ganz bestimmte Qualitäten im Umgang mit und in der Für- [/ S. 156:] sorge für die Bürger zur Folge haben, andererseits aber auch ganz bestimmte qualitative Anforderungen an das Bewusstsein der Bürger voraussetzen (z. B. Mündigkeit), wird historisches Bewusstsein nötig, allerdings dann eben ein solches, das die ahistorischen technologisch-ökonomischen Prinzipien transzendiert, sich von ihnen kritisch distanziert. Im Grunde müsste über dieses letztere Verständnis des Staates als eines demokratischen in unserem Lande Konsens sein. Allerdings hätte dies unter anderem zur Folge, dass eine Theorie des Geschichtsunterrichts ohne Aufarbeitung der kritischen Theorie nicht möglich ist, weil und insofern diese eine ausformulierte Theorie zur Kritik der bloß technologisch-ökonomischen Effizienz-Rationalität angeboten hat.
Das bedeutet nicht, dass man die "kritische Theorie" im ganzen, sozusagen als "ideologischen Überbau" übernehmen muss, aber wohl, dass man sie in ihren grundsätzlichen Frageansätzen ernst nehmen muß. Insofern sind alle wissenschaftstheoretischen Polarisierungen, die kritische Theorie als Nicht-Wissenschaft, als Ideologie, als parteiliche Einseitigkeit denunzieren - wenngleich derlei Vorwürfe auch immer wieder im Detail überprüft werden müssen - nicht nur unsinnig. Sie zerstören auch die einzig überzeugende Möglichkeit der Neubegründung eines historischen Unterrichts; denn um es noch einmal zu betonen: Weder aus den herrschenden aktuellen gesellschaftlichen Prinzipien, noch aus herrschenden funktionalen Verhaltensmodellen für die Bürger (z. B. Rollen-Theorie), noch aus den vorherrschenden wissenschaftstheoretischen Richtungen wie Positivismus, kritischer Rationalismus und Systemtheorie lässt sich auch nur die Vernünftigkeit eines historischen Bewusstseins, geschweige denn seine Notwendigkeit ableiten. Dies geht vielmehr nur, wenn man die grundlegenden normativen Prinzipien des demokratischen Staates und der demokratischen Gesellschaft (Grundrechte; Menschenrechte; soziale Solidarität; Mitbestimmung; Mündigkeit; Freiheit; Gleichberechtigung, Sozialpflichtigkeit des Eigentums usw.), die er für sich in Anspruch nimmt, nicht als solche versteht, die ein für allemal realisiert seien, sondern als solche, deren Sinn angesichts sich wandelnder Realitäten und Handlungs- [/ S. 157:] zwänge immer neu gefunden werden muss. Und diese Reflexion auf den praktischen Sinn jener Prinzipien ist nur möglich mit der Durchbrechung des "Schleiers" der Aktualität, durch historische Transzendierung und Vergewisserung.
11. Historischer Unterricht kann nicht mehr wie früher die Reproduktion des "Zeitgeistes" sein, er könnte nur gegen ihn betrieben werden, als dessen Kritik und Aufklärung. Insofern hat sich - etwa im Vergleich zu den 50er Jahren - die öffentliche Einschätzung des politischen Unterrichts einerseits und des historischen Unterrichts andererseits gründlich verändert. Galt nämlich früher der politische Unterricht als kritischer Störenfried des auf Identifizierung mit den konservativen Mächten und Traditionen bedachten historischen Unterrichts (9), so scheint heute der politische Unterricht sehr viel selbstverständlicher gesellschaftlich integriert und anerkannt zu sein als der Geschichtsunterricht. In dem Maße jedoch, wie der politische Unterricht sich von der historischen Dimension getrennt hat - und diese Tendenz scheint sich zu verstärken - , müssen sich auch die Zweifel an seiner kritisch-emanzipatorischen Tendenz und Wirkung melden (10).
Notwendig ist der historische Unterricht jedoch als Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft, ihrer Leitbilder, Normen und Programme - als ständiger Hinweis auf Alternativen; auf die Gemachtheit der gesellschaftlichen Realität und damit auf ihre Veränderbarkeit; auf die Kontinuität und zugleich Wandelbarkeit herrschender Ideologien; auf die gleichbleibenden und sich verändernden Formen menschlicher Unterdrückung und Ausbeutung; auf die Nicht-Selbstverständlichkeit des scheinbar Selbstverständlichen usw.
12. Für Weniger kam es im Geschichtsunterricht darauf an, die Geschichte des Volkes den Heranwachsenden im Zusammenhang zu erzählen, im Sinne einer in sich kontingenten Präsentation der Tradition, in die neue Generation verantwortlich "einsteigen" soll. Nicht einmal für die Oberstufe des Gymnasiums wollte er ein kritisches Quellenstudium.
[/ S. 158:] Diese Vorstellung hatte jedoch zur Voraussetzung, dass es möglich und konsensfähig sei, durch den Geschichtsunterricht eine Art von "Geschichtsbild" zu präsentieren, das trotz aller Widersprüche - die Weniger durchaus sah - als Einheitliches der jungen Generation angeboten werden könne. Das ist jedoch nur in einer Gesellschaft möglich, die sich ihrer Traditionen noch ziemlich sicher ist bzw. die in der Lage ist, bestimmte dem widersprechende Traditionen (z. B. der Arbeiterbewegung) auszuklammern oder zu "kanalisieren" - z. B. dadurch, dass diese "störende" Tradition lediglich in Form der staatlichen "Sozialpolitik" aufgenommen wird.
Eine demokratische Staats- und Gesellschaftsverfassung darf jedoch unter Berücksichtigung der Pluralität von Traditionen, die in sie eingegangen sind, kein offizielles Geschichtsbild mehr vermitteln, muss vielmehr ihre "Lebensgeschichte" von Tabus freihalten und zur Disposition stellen, um auf diese Weise von jeder neuen Generation wieder eine demokratische Tradition erarbeiten zu lassen; denn es ist nicht einmal sicher, dass so, wie die Geschichte des demokratischen Gemeinwesens bisher verlaufen ist, sie im ganzen demokratisch-"fortschrittlich" verlaufen ist. Weniger nahm dies offensichtlich an, wenn er meinte, die Tradition als Einheit durch den Lehrer präsentieren zu können. Aber die kritische Theorie hat demgegenüber den begründeten Verdacht geweckt, dass es möglicherweise auch um die Wiederbelebung verschütteter Traditionen gehen müsse, nicht nur um die Fortschreibung dessen, was sich durchgesetzt hat.
13. Auch die Rolle der Geschichtswissenschaft im historischen Unterricht muss man heute anders sehen als Erich Weniger. Richtig bleibt zwar, dass sie den Geschichtsunterricht nicht konstituieren kann, aber die Frage ist, wie denn mit den historischen Stoffen im Unterricht verfahren werden soll, wenn ein einverständliches "Geschichtsbild" durch den Lehrer nicht mehr präsentiert werden kann. Die Antwort kann nur lauten, dass nun die Schüler selbst bzw. die Unterrichtsgemeinschaft von Lehrern und Schülern die Erarbeitung eines Geschichtsbildes vornehmen müssen, sie [/ S. 159:] müssen selbst die historische Rekonstruktion leisten mit der unausweichlichen Folge, dass dabei mehrdeutige "Geschichtsbilder" zustande kommen bzw. dass der Konsens über die "demokratische Lebensgeschichte" des Gemeinwesens nicht Ausgangspunkt, sondern allenfalls Ergebnis des Unterrichts sein kann. Die Interpretationen müssen gleichsam "freigegeben" werden für die unterrichtliche Bearbeitung.
In dieser Situation erhält die Geschichtswissenschaft eine neue Funktion. Ihre Methoden der Erkenntnisgewinnung werden nun in wenn auch elementarisierter Form für den Geschichtsunterricht benötigt, soll dieser nicht beliebig werden; denn alle Methoden sorgfältigen Nachdenkens über historische Entwicklungen sind auch historisch-wissenschaftliche Methoden, wobei allerdings die Umkehrung nicht gilt: Nicht alle historisch-wissenschaftlichen Methoden können auch in der Schule Verwendung finden, das ergibt sich aus dem spezifischen didaktischen Auftrag des schulischen Unterrichts, Komplexität zu reduzieren. Die Verpflichtung auf die wissenschaftsorientierten Methoden des Nachdenkens und Arbeitens ist nach der Unmöglichkeit, noch weiter komplette Geschichtsbilder zu lehren, die einzige konsensfähige Basis für den Geschichtsunterricht, also auch dafür, die in der Geschichtswissenschaft selbst vorliegenden unterschiedlichen Interpretationen der historischen Sachverhalte und Entwicklungen im Schulunterricht "auszuhalten".
Anders als in Wenigers Konzept ist eine öffentliche Legitimierung des Geschichtsunterrichts ohne Bezugnahme auf den wissenschaftlichen Standard nicht mehr möglich, und das gilt sowohl für die objektive Seite (Lebensgeschichte des demokratischen Gemeinwesens) wie auch für die subjektive Seite (historische Selbstaufklärung zum Zwecke der Mündigkeit). Sowohl für den politischen Unterricht wie auch für den Geschichtsunterricht ist der Weg zum Subjektivismus und zur Indoktrination sehr kurz geworden, er kann nur vermieden werden von der formalen Seite her, also von der Art und Weise, wie man zu einem Ergebnis gekommen ist. Das Lernergebnis selbst gibt keine Möglichkeit zur öffentlichen Rechtfertigung mehr ab. Angesichts [/ S. 160:] der auch im Geschichtsunterricht zunehmenden Tendenz, Lernziele zu setzen und zu realisieren, kann dieser Punkt nicht genügend ins Bewusstsein genommen werden: dass nämlich gerade dadurch die Legitimationsprobleme nicht gelöst, sondern nur verstärkt bzw. sogar hergestellt werden. Wahrscheinlich wird man sich in Zukunft daran gewöhnen müssen, dass es zwischen Wissenschaftsdidaktik und Schuldidaktik nur noch graduelle, keine prinzipiellen Unterschiede mehr geben kann (11).
Damit ist aber nur die kognitiv-unterrichtliche Seite des Problems angesprochen, wie man verhindern kann, dass die Freigabe pluralistischer Interpretationen der "Lebensgeschichte" des Staates nicht beliebig wird, dem Lehrer z. B. Tür und Tor öffnet, im Geschichtsunterricht seine eigenen politisch-historischen Urteile und Vorurteile unkontrolliert an die Schaler weiterzugeben. Der zweite Gesichtspunkt ist, dass die fachwissenschaftliche Qualifikation des Lehrers unter diesen neuen Bedingungen konstitutiv für den Legitimationszusammenhang wird. Und dies nicht nur in dem Sinne, dass die fachwissenschaftliche Qualifikation eine Funktion der fachdidaktischen Qualifikation ist und von dieser her zu begrenzen wäre. Vielmehr muss er zumindest auch in der Lage sein, die Gegenstände, die er unterrichtet, hinsichtlich der damit verbundenen wertenden Urteile für sich selbst argumentativ diskutieren zu können. Er muss also - prinzipiell unabhängig von seiner beruflichen Aufgabe - historisch-wissenschaftlich "gebildet" sein.
Eine dritte wichtige Bedingung, die Pluralität der Interpretation nicht beliebig werden zu lassen, sind bestimmte Möglichkeiten für die Kommunikationsstruktur des Unterrichts. Die Frage ist ja, ob und in welchem Maße die kommunikativen Bedingungen überhaupt zulassen, dass auch die Schüler von der Freigabe der Interpretation profitieren können und nicht nur ihre Lehrer. Es ist wohl kein Zweifel, dass kommunikations- und interaktionstheoretische Überlegungen und Konzepte in den letzten Jahren in der Erziehungswissenschaft ein so großes Interesse gefunden haben. Das hängt zweifellos auch mit dieser Legitimationsproblematik zusammen (12). Allerdings droht auch hier bereits die Ge- [/ S. 161:] fahr der Verabsolutierung eines wichtigen Gesichtspunktes. In dem Maße nämlich, wie sich solche Überlegungen von den anderen beiden hier genannten Bedingungen isolieren, führen sie auch nur wieder zu einem pädagogisch-provinziellen Rückzug auf die menschliche Unmittelbarkeit.