Krol: 'Ökonomische Bildung' ohne 'Ökonomik'?

Gerd-Jan Krol

Zur Bildungsrelevanz des ökonomischen Denkansatzes

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In jüngster Zeit gewinnt die Diskussion um eine ökonomische Grundbildung als Teil von Allgemeinbildung an Dynamik. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände fordern gemeinsam ein eigenes Unterrichtsfach Wirtschaft. Bildungspolitiker plädieren für eine Anreicherung wirtschaftlicher Inhalte in den bestehenden Fächerkanon. In Nordrhein-Westfalen sollen ökonomische Schwerpunktsetzungen im Rahmen des Unterrichtsfachs Sozialwissenschaften möglich werden. Gleichzeitig zeugt eine kaum noch zu überschauende Vielzahl und Vielfalt von Praxiskontakten zwischen Schulen und Wirtschaft von einem wechselseitigem Bedürfnis nach einer engeren Verzahnung. Heute steht nicht mehr ernsthaft zur Diskussion, dass junge Menschen in einer sich zunehmend ökonomisierenden, internationalisierenden und flexibilisierenden Gesellschaft auf die Wirtschaftswelt mit ihren Chancen und Risiken bei der Übernahme der Rollen als Produzent, Konsument und Wirtschaftsbürger vorzubereiten sind, im Mittelpunkt der Diskussion steht immer noch die Frage nach den hierfür geeigneten Wegen. Die aktuelle Diskussion hat hierzu wesentliche Argumente zusammengetragen. (v. Rosen: 2000; Hartwig: 2000; Kruber: 2000; Reinhardt: 2000; Kaminski: 1999)

Randständig bleibt meines Erachtens jedoch in der bildungspolitischen Diskussion, was denn ein originärer Beitrag einer Ökonomischen Bildung für eine zeitgemäße Allgemeinbildung sein könnte, der über den Lerngegenstand "Wirtschaft" hinausreicht, und welcher Beitrag von der Ökonomik als einer bisher weitgehend ausgeklammerten Bezugswissenschaft erwartet werden kann.

Die stärkere Einbeziehung der Wirtschaftswelt in den Unterricht - sei es durch Anreicherung unterschiedlicher Fachcurricula mit Lerngegenständen aus dem Bereich der Wirtschaftswelt, sei es durch Praxiskontakte unterschiedlicher Art zwischen Schule und Wirtschaft - ist für die Vorbereitung auf die Bewältigung lebenspraktischer Probleme zwar wichtig. Sie vermag aber keine Bildung zu stiften, die die Heranwachsenden zu einem angemessenen Verständnis gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Strukturen und Prozesse in einer zunehmend durch "ökonomische Gesetzmäßigkeiten" durchdrungenen Welt befähigt, in der sich Probleme auf der Makroebene gerade nicht durch Erfahrungen auf der Mikroebene erschließen lassen.

Die Frage nach dem Stellenwert der Wirtschaftswissenschaft als Bezugswissenschaft für eine Ökonomische Bildung ist von Belang, aber auch zugleich in besonderer Weise bemerkenswert. Sie ist von Belang, weil gegenwärtig unterschiedliche Bezugswissenschaften den Gegenstandsbereich Wirtschaft mit je eigenen Fragestellungen und Methoden bearbeiten, die sie dann je nach bildungspolitischer Institutionalisierung über die Lehrerausbildung, die Lehrerfortbildung, aber auch über die Konstruktion einschlägiger Richtlinien und Lehrpläne in den Unterricht einbringen. Ob die Wirtschaft unter raumwirtschaftlichen Aspekten im Geografieunterricht, unter ethischen Aspekten im Religionsunterricht oder unter soziologischen, politikwissenschaftlichen oder gar wirtschaftswissenschaftlichen Aspekten im Unterricht thematisiert und problematisiert wird, ist zentral für das, was gelernt wird. Immer stehen die Ziele, Fragestellungen und Methoden des jeweiligen Faches im Mittelpunkt der Betrachtung. Es kann also nicht (nur) um die Anreicherung bestehender Curricula mit ökonomischen Themen und Inhalten gehen, wie es der vormalige Präsident der Kultusministerkonferenz Willi Lemke bei seiner Ablehnung eines von Gewerkschaften und Arbeitgebern gemeinsam geforderten Unterrichtsfachs Wirtschaft vorgeschlagen hat. Dieser Vorschlag ist offensichtlich von der Vorstellung geleitet, dass das für die Alltagsbewältigung im wirtschaftlichen Bereich für notwendig erachtete "instrumentelle Wissen" als Erfahrungswissen und das für ein Verständnis wirtschaftlicher Zusammenhänge notwendige "Funktionswissens" ohne Rückbindung an nomologisches Wissen und an die Methodik der Ökonomik erschließbar ist. Beides ist nachdrücklich in Frage zu stellen (vgl. hierzu insbesondere Kruber: 2000, S. 285-295).

Es ist bemerkenswert, dass die Relevanz der Ökonomik und des ökonomischen Denkansatzes für eine Ökonomische Bildung begründet werden muss. Man stelle sich vor, sich auf Natur- und Technikverständnis beziehende Bildungsprozesse würden sich auf religiöse statt auf naturwissenschaftliche Denkansätze stützen. Diese historische Analogie zur vorkopernikanischen Zeit ist nur scheinbar weit hergeholt. Denn nach wie vor ist die sich auf die Allgemeinbildung beziehende bildungspolitische Diskussion um eine Abgrenzung zur Ökonomik als wissenschaftlicher Disziplin bemüht, überwiegt Kritik an missverstandenen oder missverständlich rezipierten Aussagen der Ökonomik die Suche nach ihrem für Bildungsprozesse nützlichen oder gar notwendigen Erklärungs- und Problemlösungspotenzial.

Hierfür gibt es viele Gründe, historische, verlaufsabhängige, bildungstheoretische und bildungspolitische und nicht zuletzt auch ideologische. Ein entscheidender Grund aber liegt meines Erachtens in der paradigmatischen Struktur des ökonomischen Denkansatzes. Mit seiner Fokussierung auf allen Individuen gleichermaßen unterstellte, selbstinteressierte Handlungsmotivationen, die unter unterschiedlichen Handlungsbedingungen verfolgt werden, gerät er bei oberflächlicher Betrachtung fast zwangsläufig in Widerspruch zu einem um umfassende Persönlichkeitsbildung bemühten pädagogischen Ansatz. In diesem Beitrag werden pädagogischer und ökonomischer Ansatz (vereinfachend und paradigmatisch gebündelt) voneinander abgegrenzt und anders als üblich als komplementär dargestellt. Es wird gezeigt, dass gerade der ökonomische Denkansatz eine fruchtbare Perspektive für die Bearbeitung von Krisenphänomenen in der modernen Gesellschaft bietet. Kennzeichnend für diesen Ansatz sind die Problematisierung des Zusammenhangs von Einzelhandlung und gesellschaftlichen Handlungsergebnissen, ein zentraler Stellenwert regelabhängiger Anreizsteuerung, die Entkopplung von Handlungsmotiven und Handlungsergebnissen und soziale Dilemmata als spezifisches Deutungsmuster für gesellschaftliche Problemlagen.

Pädagogischer und ökonomischer Denkansatz

Pädagogik befasst sich mit Bildungs- und Erziehungsprozessen, die letztlich ein der Humanitas verpflichtetes prinzipiengeleitetes Individuum zum Ziel haben. Wissenserwerb und Normenentwicklung sind Kernelemente von Bildungsprozessen, die die Formung eines zu "Selbstbestimmung in sozialer Verantwortung" befähigten Individuums entwickeln lassen. Es soll für richtig Erkanntes auch gegen die vielfältige Bedrohungen und Verlockungen der natürlichen, technischen und sozialen Umwelt behaupten. In dieser notwendigerweise normativen Ausrichtung stehen Fragen der Formung von Wissen und Werten als Kernelemente der Persönlichkeitsbildung im Mittelpunkt. Übersetzt in die Kategorien der Ökonomik geht es um Fragen der "Präferenzbildung und -beeinflussung". Sie, die Präferenzen, werden als zentrale Variable für die Erklärung von Handlungsergebnissen auf der kollektiven Ebene herangezogen. Das grundlegende Paradigma kann in Anlehnung an Suchanek (Suchanek: 1997, S. 59 ff.) wie folgt schematisiert werden:

Präferenzen/Dispositionen => Handlungen => Handlungsfolgen / -ergebnisse

Ganz anders der ökonomische Denkansatz. Dieser sucht seine Erklärungsvariablen für bestimmte Handlungsergebnisse auf der Makroebene nicht in den Werten, Zielen und Motiven (Handlungsdispositionen) des Individuums, sondern auf der Ebene der Anreize, der Handlungsbeschränkungen, denen durchschnittliche Individuen bei der Verfolgung ihrer jeweiligen Ziele gegenüber stehen. Schematisch:

Handlungsbedingungen => Handlungen => Handlungsfolgen / -ergebnisse

Es geht dabei um Mustererklärungen, Erklärungen im Prinzip statt Erklärungen im Detail. Das Erklärungsprogramm der Ökonomie geht davon aus, dass die Menschen in ihren unterschiedlichen Rollen (als Verbraucher, Arbeitnehmer, Mitglied bzw. Leiter von Organisationen, Unternehmer, Manager, Bürokraten, Politiker u.a.) in systematischer und damit vorhersagbarer Weise auf eine Veränderung der Handlungsbedingungen reagieren: Individuen wählen aus dem Spektrum der wahrgenommenen Alternativen systematisch nach Maßgabe von Vorteilskalkülen (individuellen Nutzen-/Kostenkalkülen) aus. Die Vorteilskalküle können sich auf die Verbesserung oder die Abwehr einer Verschlechterung der individuellen Position beziehen. Hier steht nicht die Frage im Mittelpunkt, wie Menschen sich verhalten sollen, sondern wie sie sich typischerweise verhalten werden. Auch ist die Orientierung an Vorteilskalkülen keineswegs mit einer Schlechterstellung anderer zu verbinden.

Damit stehen sich die zwei Ansätze nur auf den ersten Blick unversöhnlich gegenüber. Auf der einen Seite steht ein Erklärungsansatz, der Verhalten auf Handlungsgesinnungen zurückführt und damit die Beeinflussung der Gesinnungen von Personen (auch durch Moralisierung) als Lösungsansatz nahe legt. Auf der anderen Seite findet sich die Erklärung des Verhaltens durch die Handlungsbedingungen (Handlungsbeschränkungen z.B. zeitlicher, pekuniärer, rechtlicher, sozialer Art), was die Suche nach Problemlösungen auf der Ebene der Veränderung von Rahmenbedingungen der Situation durch Regeländerungen nahe legt. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die beiden Ansätze sich auf Unterschiedliches beziehen, also nicht eigentlich konkurrieren. Der pädagogische Ansatz bezieht sich auf Persönlichkeitsbildung. Hier steht die Individualität der Individuen und deren identitätskongruentes Handeln im Mittelpunkt. Der ökonomische Ansatz bezieht sich auf typisierte Individuen und durchschnittliches, typisches Verhalten. Er nimmt als "typisierten Input", was im pädagogischen Ansatz als "individualisierter Output" angestrebt wird. Insofern verbessert der Output des letzteren den Input des ersteren und genau hierin liegt die Komplementarität. Als problematisch wird erst angesehen, wenn mit einem dem pädagogischen Ansatz nahe stehenden, auf Dispositionsbeeinflussung abzielenden Ansatz grundlegende Probleme in der modernen Gesellschaft entschärft werden sollen. Hier gewinnt der ökonomische Denkansatz eigenständige Bedeutung. Er bezieht seine Bildungsrelevanz letztlich aus zunehmenden Problemen, die sich bei der Bearbeitung gesellschaftlicher Problemlagen mit einem Ansatz ergeben, der auf Verhaltensdispositionen involvierter Akteure aufbaut. Der ökonomische Ansatz deutet gesellschaftliche Probleme als "Knappheitsprobleme" mit der Folge, dass man sich zwischen konkurrierenden Zielen entscheiden muss, als unintendierte Ergebnisse intentionalen Handelns mit der Fokussierung auch auf Verzichte bei anderen Zielen bzw. den Zielen anderer. Hier geht es um eine systematische Verknüpfung von einzel- und gesamtwirtschaftlicher, von individueller und kollektiver, von Mikro- und Makroperspektive. Auf der Mikroebene findet der Ansatz regelgebundener Anreizsteuerung Anwendung. Die Makroebene wird insbesondere mit der Kreislaufanalyse bearbeitet. Die Erklärung zentraler gesellschaftlicher Problemlagen erfolgt durch Verknüpfung der Mikro- und der Makroebene mittels der Kategorie "sozialer Dilemmata".

Fokussierung auf die Anreizproblematik

Als ein Ausgangspunkt für Überlegungen zur Bildungsrelevanz des Ökonomischen Denkansatzes kann die allgemein zu beobachtende Tendenz genommen werden, auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen und Missstände mit "Moralisierung" zu reagieren. Diese Tendenz wird ausdrücklich auch als eine Herausforderung für die Politischen Bildung artikuliert (vgl. z. B.: Sander: 1999, S. 28ff.). Typisches Merkmal von Moralisierungen sind (i.d.R. personalisierte) Erklärungsmuster, die auf ein "Fehlverhalten" von involvierten Akteuren abstellen und auf der Lösungsebene appellative Ansätze zur Stärkung von Handlungsmoral bevorzugen. Bestehen Probleme fort, wird mit Intensivierung von Moralisierung reagiert. Dieses Konzept steht paradigmatisch einem "pädagogischen Ansatz" nahe und es ist nicht zufällig, dass gerade Schule als systematischer Ort von gesellschaftlicher Moralkommunikation für Lösungen gesellschaftlicher Probleme in Anspruch genommen wird. Aus der Sicht des ökonomischen Denkansatzes wird diese Strategie bei vielen Problemen nicht nur unwirksam bleiben, diese Strategie trägt auch zur Persistenz von Problemen bei, die sie eigentlich lösen (helfen) will.

Grundlage für diese These ist der Wandel von einer werteintegrierten, normengesteuerten hin zu einer modernen Gesellschaft. Die moderne Gesellschaft ist durch funktionale Ausdifferenzierung in Teilsysteme mit je eigenen Funktionslogiken gekennzeichnet. Diese Ausdifferenzierung ist einerseits Quelle von Produktivität und (materialen) Freiheitsspielräumen, schafft aber andererseits auch neue Abhängigkeiten, die sich mit den Kategorien "Macht" und "Konflikt" nur unzureichend beschreiben lassen. Diese Abhängigkeiten können als Kooperationsprobleme betrachtet werden, deren Überwindung mit Vorteilen für "alle" verbunden sein kann, während ihre Bearbeitung mittels der Kategorien Macht und Konflikt zu Positionierungen herausfordert, die den Charakter von "Nullsummenspielen" haben. Als weitere Merkmale der modernen Gesellschaft gelten Wertepluralismus, Individualisierung sowie steigende Komplexität und Anonymität von sozialen Interaktionen. Anders als durch "überschaubare Nahbereiche" (Bellmann: 1999, S. 276) geprägte, verliert die moderne Gesellschaft die verhaltensprägende Kraft gemeinsam geteilter Normen. In ihr wird Verhalten verstärkt durch aus den Rahmenbedingungen der Entscheidungssituationen resultierende, regelgebundene Anreize, statt durch gemeinsam geteilte Normen gesteuert. Sie ist stärker regelintegriert weniger werteintegriert. Hier dienen Regeln, d. h. institutionelle Arrangements, der situativen Beeinflussung generell wirksamer Vorteilskalküle. Zwar kennt auch die moderne Gesellschaft noch "überschaubare, normengesteuerte Nahbereiche". Aber die "großen gesellschaftlichen Probleme" resultieren nicht daraus, dass Akteure gegen Verhaltensnormen verstoßen, sondern daraus, dass sie sich entsprechend den Funktionslogiken der ausdifferenzierten Teilsysteme an fehllenkende Anreizstrukturen anpassen.

Die analytische Fruchtbarkeit dieses Denkansatzes, der Verhalten aus Vorteilskalkülen der Akteure unter den jeweils geltenden Handlungsbeschränkungen erklärt, ist nun keineswegs auf den Gegenstandsbereich Wirtschaft zu beschränken. Breitere Anwendungsmöglichkeiten ergeben sich, wenn neben den für wirtschaftliches Handeln zentralen pekuniären Handlungsbeschränkungen wie Einkommen, Preise, Abgaben u.a. auch zeitliche, soziale, rechtliche oder politische Restriktionen berücksichtigt werden. Der ökonomische Denkansatz kann dann gleichermaßen als Erklärungsmuster auf andere gesellschaftliche Bereiche wie Politik, Bürokratie, Wissenschaft, Verbände u.a. bezogen werden. Exemplarisch und vereinfachend für politische Entscheidungen: An die Stelle des mentalen Modells eines paternalistischen, interessenausgleichenden, gemeinwohlorientierten staatlichen Handelns tritt ein an Zufuhr bzw. Entzug politischer Loyalität in Form von Wählerstimmen oder gar nur politischer Sympathie orientiertes Erklärungsmodell. Politisches Handeln gelangt aus der Erwartung einer werteverpflichteten Allgemeinwohlorientierung in die Perspektive der für Machterhaltung oder -erlangung maßgeblichen Handlungsbeschränkung erwarteten Wählerverhaltens. Das dem Denkansatz zu Grunde liegende Handlungsziel Machterhaltung (Regierung) bzw. Machterlangung (Opposition) kann unter den verfassungsmäßigen Rahmenbedingungen einer parlamentarischen Demokratie im Nebenprodukt Gemeinwohl hervorbringen. Das Erstrebenswerte wird nicht kurzschlüssig aus Zielen und Motiven involvierter Akteure abgeleitet, sondern aus verhaltenskanalisierenden institutionellen Regeln der politischen Ordnung, die Grundlagen der Rahmenbedingungen von Entscheidungssituationen definieren. Der mit der Rückbindung an Wähler(erwartungen) systematisch verbundene Perspektivwechsel kann ein besseres Verständnis für politisches Handeln in Demokratien bewirken und so beklagtem Desinteresse an Politik oder gar Politikverdrossenheit entgegenwirken.

Entkopplung von Handlungsmotiven und -ergebnissen

Damit ist ein wichtiges weiteres Merkmal des ökonomischen Denkansatzes skizziert, nämlich die Entkopplung von Handlungsmotiv und Handlungsergebnis. Diese Entkopplung hat nicht nur fundamentale Bedeutung für eine angesichts begrenzten Wissens unverzichtbare kritische Distanz zu Gesellschaftsentwürfen. Man kann diese ideologiekritische Funktion unter das Bonmot stellen, nach dem der Weg in die Hölle mit guten Absichten gepflastert ist. Aber auch viele für die moderne Gesellschaft geradezu typischen Probleme und Krisenerscheinungen lassen sich als unintendierte Wirkungen intentionalen Handelns deuten: Schattenwirtschaft und abnehmende "Steuerehrlichkeit" als Ausweichreaktionen der Bürger auf ein zunehmend unübersichtliches und ungerecht empfundenes System der Besteuerung; die mit zunehmendem Ausbau der sozialen Sicherungssysteme einhergehenden Effekte, dass das, was zur Abdeckung des Risikos gegen Ausfall von Leistungseinkommen gedacht war , im Kalkül von Betroffenen zu einer prinzipiell gleichwertigen Alternative zum Erwerb von Leistungseinkommen werden kann; Vermeidungsreaktionen als Antwort auf als zu restriktiv empfundene staatliche Regulierungen, insbesondere angesichts einer zunehmenden Internationalisierung und Globalisierung. So kann z.B. die Entstehung von Umweltproblemen als ungewolltes Nebenprodukt intentionalen Produzenten- und Konsumentenverhaltens gesehen werden. Umweltprobleme mit einer Stärkung individueller Umweltmoral entschärfen zu wollen, würde nicht nur bedeuten, die wirtschaftlichen und sozialen Handlungsabsichten umfassend ökologischen Zielen zu unterwerfen, ein Vorhaben, welches handlungstheoretisch gesehen nicht gelingen kann (Bayertz: 1997; Diekmann: 1995; Hirsch: 1993). Allenfalls im überschaubaren, durch soziale Beziehungen kontrollierbaren Nahbereich oder dort, wo umweltverträglicheres Verhalten ohne große Opfer zu realisieren ist, kann von Umweltmoral ein Beitrag zu umweltverträglicherem Verhalten erwartet werden. Das Gros der Umweltprobleme ist aber ein Ergebnis anonymer, systemischer Handlungskontexte. Hierauf Umweltmoral anzuwenden würde bedeuten, von den sozialstrukturellen Bedingungen einer modernen Gesellschaft zu abstrahieren und deren Probleme mit dem Instrumentarium einer vormodernen Gesellschaft zu bearbeiten.

Soziale Dilemmata

Nichtintendierte Wirkungen intentionalen Handelns lassen sich mit der Kategorie "sozialer Dilemmata" und den in ihnen wirksamen Anreizkonstellationen angemessen erfassen, erklären und bearbeiten. Soziale Dilemmata liegen vor, wenn die aus einzelwirtschaftlicher Sicht günstigste Handlungsalternative zu gesellschaftlich unerwünschten Ergebnissen führt bzw. wenn das von allen gewünschte Ergebnis systematisch den Verzicht von aus einzelwirtschaftlicher Sicht Vorteilhaftes bedeutet. Soziale Dilemmasituationen kennzeichnen grundlegende Kooperations- bzw. Interaktionsprobleme moderner Gesellschaften, die mit den tradierten Kategorien "Interessen, Macht und Konflikt" nicht angemessen beschrieben werden können. In der Realität sind soziale Dilemmasituationen sind nicht neu. Neu hingegen ist, dass sie nicht länger durch die verhaltensprägende Kraft gemeinsam geteilter Normen beherrscht werden können. Um ein viel zitiertes Beispiel (ohne jede historische Verknüpfungsabsicht) zu nennen: Die die Dorfgemeinschaft zur gemeinsamen Nutzung umgebende Allmende war ehemals durch geteilte Normen, deren Einhaltung im überschaubaren Nahbereich zudem noch kontrolliert werden konnte, vor Übernutzungen und damit vor kollektiver Selbstschädigung geschützt. Heute sind Allmendegüter wie z.B. Fischgründe außerhalb von Hoheitsgewässern oder besonders attraktive Landschaften durch Übernutzung gefährdet. Der modernen Gesellschaft sind mit dem Wertepluralismus in vielen Bereichen von allen geteilte Normen abhanden gekommen. Wo sie noch bestehen, verringert sich ihre verhaltensprägende Wirkung einmal mit der funktionalen Differenzierung, die einzelne Lebensbereiche nun Eigengesetzlichkeiten unterwirft, zum anderen mit der Anonymisierung sozialer Kontexte, die eine soziale Sanktionierung von Normverstößen erschwert bzw. verhindert. Unter diesen Bedingungen führt die Bearbeitung wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Probleme mittels Moralisierung auf der Handlungsebene zu ungerechtfertigten Verantwortungszumutungen (Knobloch: 1994, S.162 für den Bereich des Konsumentenverhaltens) und auf der gesellschaftstheoretischen Ebene in das Doppelproblem einer Erosion der Gesellschaft oder einer Erosion der Moral.

Handlungsmoral als Verantwortungszumutung

Von einer Verantwortungszumutung ist zu sprechen, weil die Lösung in Dilemmasituationen nicht von Lösungsbeitrag der jeweils Einzelnen abhängt, sondern davon, dass ihnen die jeweils anderen folgen. Eben dies ist angesichts der Anreizkonstellationen unwahrscheinlich. Wiederum exemplarisch auf Umweltprobleme bezogen: Für den einzelnen (Staat, Produzenten, Konsumenten, je nach Problem) ist es vorteilhaft, für eine hohe Umweltqualität zu plädieren, aber gleichzeitig den Lösungsbeitrag in der Erwartung zu verweigern, dass die anderen diesen schon erbringen werden. Wo dem Einzelnen der Nutzen einer verbesserten Umweltqualität nicht vorenthalten werden kann, auch wenn er selbst keinen Beitrag zum Zustandekommen erbringt, wird eine Trittbrettfahrerposition attraktiv. Unter solchen Konstellationen bleibt ein individueller Verhaltensbeitrag durch Trittbrettfahrer systematisch ausbeutbar. Und in anonymen Kontexten ist davon auszugehen, dass es auch so einer solchen Ausbeutung kommen wird. Nicht die Dispositionen der Akteure, sondern die in den Handlungssituationen geltenden Regeln und daraus folgende Anreize bleiben für das Resultat maßgeblich. "Nicht fehlendes Wollen, sondern fehlendes Können ist für das Ergebnis verantwortlich zu machen" (Pies: 2000, S.18). Erklärungskräftige und auf tragfähige Lösungen orientierende Ursachen für solche Problemlagen sind nicht in den Personen, sondern in den Institutionen als den "Spielregeln der modernen Gesellschaft" zu suchen.

Eine Handlungsmoral, die dem Einzelnen abverlangt, systematisch den Anreizen zur Wahrnehmung aus individueller Sicht vorteilhafter Alternativen zu widerstehen, ohne dass damit zugleich ein spürbarer Beitrag zur Problementschärfung geleistet werden kann, kann als Verantwortungszumutung gekennzeichnet werden. Genau in diese Verantwortungszumutung mündet ein "pädagogischer Ansatz" ein, der anreizbedingte Fehlsteuerungen als individuelles Fehlverhalten deutet und als solches therapieren will.

Die Erosionsfalle

Von einer Erosionsfalle der Bearbeitung grundlegender Probleme einer modernen Gesellschaft mittels Moralisierung kann gesprochen werden, weil Moralisierung sowohl für den Fall der Befolgung, wie auch für den Fall der Nichtbefolgung zu unerwünschten Ergebnissen führen kann (Pies: S.17). Moralisierung von Problemen beinhaltet Aufforderungen an die Akteure, sich entgegen den Funktionslogiken der ausdifferenzierten Teilsysteme zu verhalten (statt die Eigengesetzlichkeiten zu stärken und durch Regeländerungen zu kanalisieren). Das ist in Bezug auf Postulate an das Verhalten in Wettbewerbsprozessen regelmäßig der Fall, die in einzelwirtschaftlicher Perspektive als Beschränkung von Handlungsmöglichkeiten erscheinen, obwohl sie gesamtwirtschaftlich und gesellschaftlich, wie keine andere Institution, Handlungsmöglichkeiten ausgeweitet haben. So konfligieren beispielsweise Appelle an Unternehmen, freiwillig mehr für die Umwelt zu tun oder mehr Arbeitskräfte einzustellen mit ihrer "systemischen Funktion", ihre Wettbewerbsposition auch durch Wahrnehmung von Kostensenkungspotenzialen zu erhalten und zu verbessern. Entsprechend untergraben Forderungen an Verbraucher, beispielsweise zu Gunsten umwelt-, sozial- oder entwicklungspolitischer Ziele auf ein preiswertes Angebot zu verzichten, ihre systemische Sanktionsfunktion auf den Märkten. Wird der Moralisierung also gefolgt, erodieren Grundlagen der arbeitsteiligen, gesellschaftlichen Aufgabenwahrnehmung.

Bleibt hingegen eine verbreitete Befolgung der kommunizierten Appelle aus, ist eine Erosion der den Appellen zu Grunde liegenden moralischen Standards wahrscheinlich. Denn das Engagement derjenigen, die den Appellen folgen, wird auf Dauer Schaden nehmen, wenn sie immer wieder feststellen müssen, dass sie trotz ihrer Bemühungen keine spürbare Verbesserung bewirken können, weil andere ihnen nicht folgen, sie also nur die "Kosten" tragen. Denn ihr Verhaltensbeitrag bleibt mangels institutioneller Flankierung durch Trittbrettfahrer ausbeutbar.

Zusammenfassung

Ökonomische Bildung will Heranwachsende mit einem für die Zukunftsbewältigung für notwendig erachteten instrumentellen und Funktionswissen und Kompetenzen zur selbstbestimmten, sozial verantwortbaren Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen ausstatten. Hierfür erforderlich gehaltene inhaltliche Beiträge sind an anderer Stelle überzeugend dargelegt. Dieser Beitrag befasst sich mit der Frage eines originären Beitrags einer dem ökonomischen Denkansatz verpflichteten Ökonomischen Bildung zur Erklärung (und zur Einschätzung konkurrierender Lösungsansätze) zentraler Probleme in der modernen Gesellschaft. Entgegen weit verbreiteter Ansicht wurde hier die Auffassung vertreten, dass der ökonomische Denkansatz ein in der modernen Gesellschaft unverzichtbares Element der Persönlichkeitsbildung darstellen sollte, weil dieser Denkansatz eine Strukturierung von Handlungssituationen erlaubt, auf die die Problemlösungskapazität individueller Handlungsmoral sinnvoll zu beziehen ist.

Konkreter: Auf wirtschaftliches Handeln (aber nicht nur darauf) bezogene Lernkontexte sind entsprechend dem ökonomischen Denkansatz und auf der Grundlage nomologischen Wissens systematisch in Bezug auf die regelgebundenen Handlungsanreize der Situationen, nicht nur in Bezug auf die Ziele und Motive der involvierten Akteure zu überprüfen. Dies setzt einen systematischen Perspektivwechsel mit voraus. Ziel dieses Perspektivwechsels ist nicht nur und nicht primär die Aufdeckung von Wert- und Interessenkonflikten, sondern die Aufdeckung regelgesteuerter Anreizstrukturen, die wechselseitig vorteilhafte Kooperationen be- oder gar verhindern. Die Fokussierung auf Wert- und Interessenkonflikte fordert zu Positionierungen heraus, die den Blick für wechselseitig vorteilhafte Lösungsansätze verstellen können. Umgekehrt ist die Deutung gesellschaftlicher Problemlagen als Kooperationsdilemmata und deren Entschärfung durch anreizverändernde Regeländerungen mit der Möglichkeit wechselseitiger Vorteile um Fragen nach der Verteilung solcher Vorteile zu ergänzen. Spätestens an dieser Stelle ist zu betonen, dass Ökonomische Bildung nicht in einen Gegensatz zur Politischen Bildung gebracht werden kann, aber zur Verbesserung des theoretischen Fundamentes einen originären Beitrag leisten kann. Zu Versuchen der Verankerung dieses Ansatzes in Umweltbildungsprozessen unterschiedliche Schultypen und -stufen sei auf das methodenoffene (und leicht auf andere Kontexte übertragbare) Modell der "Sozialökologischen Kartografierung" verwiesen (Krol, Zoerner, Karpe: 1999).

Bleibt die Frage nach einer Institutionalisierung bzw. die Frage: brauchen wir ein eigenständiges Fach für eine ökonomische Bildung? Auch hierzu ist in den o.a. Beiträgen Wichtiges gesagt worden. Ein Aspekt ist allerdings m.E. in Anwendung der Grundthese diese Beitrags zu ergänzen: die Bedeutung der aus den jeweiligen institutionellen Arrangements resultierenden Handlungsanreize. Nicht ganz unzulässig vereinfacht sehe ich folgenden Zusammenhang und zwar in dieser Reihenfolge: Ohne ein Schulfach und hierfür speziell ausgebildete Lehrkräfte kann eine Ökonomische Bildung nur geringe Reputation im schulischen Fach-/Kurskanon mit allen Folgen für schulinternes Curriculum, Engagement, Ressourcenbereitstellung und Wahlverhalten von Schülern erwerben; ohne ein Schulfach aber keine qualifizierte Fachlehrerausbildung; ohne einen dafür qualifizierenden Lehramtsstudiengang nur eine geringe Reputation der Aktivitäten in dieser Richtung im Wissenschaftsbetrieb mit allen Folgen für Engagement und Ressourcenbereitstellung in den Hochschulen. Ein circulus vitiosus, den der Präsident der Kultusministerkonferenz mit seinem o.a. Vorschlag zu überspielen versuchte.

Spielraum dürfte aber bestehen, wenn man im Rahmen einschlägiger Unterrichtsfächer Schwerpunktsetzungen zuließe, die den Schülern dann die Wahlmöglichkeit beließen. Nordrhein-Westfalen sieht im Rahmen des Faches Sozialwissenschaften in der gymnasialen Oberstufe die Möglichkeit der Wahl eines Schwerpunktes Wirtschaft vor. In der Logik dieses Beitrags wäre zu wünschen, eine entsprechende Schwerpunktsetzung auch im disziplinübergreifenden Lehramtsstudiengang Sozialwissenschaften zu ermöglichen.

 

Literatur:

Bayertz, K.-O. (1997): Globale Umweltveränderungen und die Grenzen der ökologischen Moral. In: Globale Umweltveränderungen, hrsg. v. W. Barz u.a., Landsberg, S. 219-231

Bellmann, J. (1999): Die Konstruktion des Ökonomischen bei Eduard Spranger und Theodor Litt. Zeitschrift für Pädagogik, 45.Jg, Nr.2, S. 260 - 280

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Hartwig, H.-H. (2000): Kein neues Fach Ökonomie, aber eine moderne Wirtschaftslehre in der schulischen, politischen Bildung! Gegenwartskunde, Heft 1, S. 22-36

Hirsch, G. (1993): Wieso ist ökologisches Handeln mehr als eine Anwendung ökologischen Wissens. In: GAIA Ecological Perspectives in Science, Humanities and Economics, S. 141-151

Kaminski, H. (Hrsg.)(1999): Ökonomische Bildung und Schule, politische Rahmenbedingungen und praktische Realisierungsmöglichkeiten, Neuwiedt, Kriftel

Knobloch, U. (1994): Theorie und Ethik des Konsums. Reflexion auf die normativen Grundlagen sozialökonomischer Konsumtheorien. Bern, Stuttgart, Wien

Krol, G. J./ A. Zoerner/ J. Karpe, (1999): Sozialökologische Kartografierung - Ein Instrument zur Förderung von Nachhaltigkeit in Umweltbildungsprozessen, hrsg. vom Umweltbundesamt, Münster, u.a..

Kruber, K.-P. (2000): Kategoriale Wirtschaftsdidaktik - Der Zugang zu Ökonomischen Bildung, Gegenwartskunde, Heft 3, S. 285-295

Pies, I. (2000): Wirtschaftsethik als ökonomische Theorie der Moral - Zur fundamentalen Bedeutung der Anreizanalyse für ein modernes Ethikparadigma. In: Wirtschaftsethische Perspektiven v. Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 228/V, hrsg. v. W. Gaertner, Berlin, S. 11-33

Reinhardt, S. (2000): Ökonomische Bildung für alle - aber wie? Plädoyer für ein integrierendes Fach, Gegenwartskunde, Heft 4, S. 413-422

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Suchanek, A. (1997): Chancen und Grenzen der Implementierung umweltverträglicher Verhaltensmuster in der modernen Gesellschaft in Umweltethik und ihrer gesellschaftlichen Vermittlung, Hrsg. V. M. Sellmann, Bad Honnef, S. 45-116