Die Schülerinnen und Schüler führen in ihrem Berufsorientierungsprozess selbst Regie. Dies muss ermöglicht und immer wieder verdeutlicht werden. Sie werden dabei jedoch nicht alleine gelassen, sondern von den Lehrerinnen und Lehrern in vielerlei Hinsicht unterstützt und begleitet. Aber sie übernehmen zunehmend mehr Verantwortung für ihren Lernweg und ihr Orientierungssystem. Sie werden als individuell und aktiv Lernende ernst genommen und mit der eigenen bewussten und unbewussten Lernorganisation konfrontiert. Die individuelle Lernorganisation wird zum Gegenstand des Lernens.

Wer Selbstverantwortung übernimmt, muss sich selbst kennen. Berufsorientierung unterstützt die Schülerinnen und Schüler bei der Klärung ihres Selbstbildes, ihrer Interessen, Potenziale und Ziele. In entsprechenden Lernsituationen vergleichen die Schülerinnen und Schüler ihre Selbstwahrnehmung mit der Wahrnehmung der eigenen Person durch andere (Mitschüler, Lehrende, Eltern) und werten den Unterschied aus. Sie reflektieren und korrigieren ihr Selbstbild. Dieser Prozess wird im Rahmen der [/S. 112:] Berufsorientierung mehrmals wiederholt und die Veränderungen werden wahrgenommen. Das Zur-Kenntnis-Nehmen verdeutlicht Entwicklungen. Die Veränderungen und die Wahrnehmung der Veränderung sind wichtige Informationen und Motivation für die Entwicklung der Orientierungskompetenz.

Schülerinnen und Schüler müssen Eigeninitiative entwickeln. Die Lernsituationen müssen dafür Freiraum bieten. Eigeninitiative entwickeln und Lernprozesse selbst steuern bedeutet nicht, unabhängig von den Lehrenden über Inhalte und Lernwege zu entscheiden. Auch für selbst gesteuertes Lernen gelten Rahmenbedingungen, die die Lehrenden setzen und verantworten (vgl. Schiersmann 2001). Diese Rahmenbedingungen sind es aber, die den Unterschied zum traditionellen Lernen ausmachen. Sie werden von den Lehrenden bestimmt und definieren den Raum, in dem die Lernenden ihren Lernprozess selbst planen und realisieren und schließlich Prozess und Ergebnisse auswerten.

Es reicht heute angesichts der dominanten Trends für die Zukunft der Erwerbsarbeit nicht aus, nur lebenslang zu lernen. Das wäre weder neu noch eine Antwort auf die Herausforderungen. Neu an der Forderung nach lebenslangem Lernen ist die Professionalität, mit der der Einzelne sein Lernen organisieren muss und die Verantwortung für die Initiierung des Lernens - beides wird durch selbst gesteuertes Lernen gefördert und gilt für formales wie auch informelles Lernen gleichermaßen. Vorteile im Wettbewerb um Ausbildung und Arbeitsplätze wird erzielen, wer gelernt hat, das eigene Lernen zu optimieren und Lernanlässe, egal an welchen Orten, für sich zu nutzen, d. h. wer

  • seine Stärken erforscht und Ziele entwickelt, die mit den Stärken korrespondieren,
  • seinen Lernprozess organisieren kann, Lernvereinbarungen aufstellt, Lernschritte festlegt und Lernberatung abrufen kann, wer die Zielerreichung überprüft und den Lernprozess und die Lernergebnisse auswertet und schließlich
  • sich seinen individuellen Lern- und Bildungsplan bewusst macht und an den eigenen Zielen orientiert fortschreibt.

Im Rahmen der Berufsorientierung kann in verschiedener Weise selbst gesteuertes Lernen ermöglicht werden, von der selbst geplanten Betriebserkundung mit Präsentation der Ergebnisse bis hin zur Bearbeitung einer besonderen (betrieblichen) Lernaufgabe, die die Schülerinnen und Schüler selbst konzipieren, mit den Lehrenden vereinbaren und am außerschulischen Lernort erstellen. Derartige "besondere Lernaufgaben" werden im Hamburger Schulversuch "Lernen und Arbeiten in Schule und Betrieb" seit dem Schuljahr 2000/01 entwickelt und erprobt (vgl. BSJB 2001a). An zwei Tagen in der Woche lernen und arbeiten die Schülerinnen und Schüler der letzten [S. 113:] beiden Schuljahre der Hauptschule bzw. im letzten Jahr der Realschule an außerschulischen Lernorten. Sie arbeiten jeweils ein halbes Jahr an einem Lernort, erkunden also vier bzw. zwei verschiedene Ausschnitte betrieblicher Wirklichkeit. Innerhalb der ersten vier Wochen im Betrieb entwickeln die Schülerinnen und Schüler entsprechend ihrer besonderen Interessen und Fähigkeiten eine Lernaufgabe, die mit dem Betrieb in einem Zusammenhang stehen muss. Die besondere Lernaufgabe wird mit den Lehrenden und den betrieblichen Anleitern abgestimmt und schriftlich vereinbart. Die Schülerinnen und Schüler bearbeiten die Lernaufgabe eigenverantwortlich und selbstständig. Dabei werden sie durch die betrieblichen Anleiter und die Lehrkräfte beraten und unterstützt. Die Lernaufgabe wird während der Praktikumszeit angefertigt, schriftlich dokumentiert und präsentiert. Die Lernleistung wird bewertet und geht als eigenständige Note in das Zeugnis ein. Lernaufgaben wie z. B. "Beschreibung des Baus unterschiedlicher Koffer (Cases) für spezifische Anforderungen der Kunden und Fertigung eines eigenen Cases" oder "Eigenständiges Einrichten eines Systems zum Sortieren von Normteilen in einer kleinen Metallwerkstatt" wurden erstellt. Die Schülerinnen und Schüler haben die Erwartungen übererfüllt. Auch leistungsschwache Schülerinnen und Schüler arbeiteten intensiv und erfolgreich an ihren Lernaufgaben. Die erste Auswertung zeigt, dass die Leistungen der Schülerinnen und Schüler insgesamt deutlich gestiegen sind. Selbst gesteuertes Lernen, eingebunden in einen dem jeweiligen Grad der Selbstständigkeit entsprechenden Rahmen, durch den die Anforderungen und Verpflichtungen klar geregelt sind und Bearbeitungsschritte vereinbart werden, motiviert zum Lernen und ermöglicht Erfolg. Die Schülerinnen und Schüler nehmen ihre erbrachte Leistung mit Stolz zur Kenntnis. Diese Erfahrungen unterstützen die Entwicklung der Lernfähigkeit und fördern individuelle Bildungsplanung. Eigeninitiative und Erfolg schaffen Lust auf Zukunft.

Zur Unterstützung der Schülerinnen und Schüler auf diesem Weg haben Hamburg und sechs weitere Bundesländer im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gemeinsam mit den Bundesländern gestalteten Programms "Schule - Wirtschaft/Arbeitsleben" den Berufswahlpass (vgl. Lumpe 2002) entwickelt. Der Berufswahlpass ist ein DIN A4-Ordner und wird den Schülerinnen und Schülern im Jahrgang 7 überreicht. Jeder Schüler und jede Schülerin verwendet den Berufswahlpass eigenverantwortlich zur Gestaltung des Orientierungsprozesses. Der Berufswahlpass unterstützt sie dabei in dreifacher [/S. 114:] Hinsicht: Im ersten Teil stellt die jeweilige Schule ihr Programm zur Berufsorientierung dar und erhöht damit die Transparenz der berufsorientierenden Angebote. Selbstverständlich werden auch Informationen über die Berufsberatung der Arbeitsverwaltung und über die mit der Schule kooperierenden Partner aufgenommen. Die Schülerinnen und Schüler wissen rechtzeitig, was ihre Schule anbietet, wer weitere Angebote zur Verfügung stellen kann und welche Schritte sie individuell planen können. Mit dem ersten Teil des Berufswahlpasses erhalten die Schülerinnen und Schüler Informationen zur eigenverantwortlichen Planung ihrer beruflichen Orientierung. Im zweiten Teil bietet der Berufswahlpass Hinweise und Vorschläge zur Organisation des Lernens. Mit den Hinweisen wird der Berufsorientierungsprozess strukturiert und überschaubar. Die Schülerinnen und Schüler erhalten Anregungen, wann sie welche Schritte planen sollten, wo sie Unterstützung erhalten und wie sie Ergebnisse auswerten können. Erst der dritte Teil ist ein Pass im eigentlichen Sinne und dient der Dokumentation der Leistungen, die für den Übergang in die Berufswelt von besonderer Relevanz sind. Auch hier wird den Schülerinnen und Schülern nur vorgeschlagen, welche erbrachten Leistungen sie selbst beschreiben und dokumentieren sollten und welche Leistungen sie sich bestätigen lassen sollten. Unter anderem wird angeregt, Beschreibungen von besonderen Arbeiten im berufsorientierenden Unterricht oder in Projekten einzuheften. Damit wird Schülerinnen und Schülern auch empfohlen, darüber nachzudenken, mit welchen schulischen Lernereignissen sie die eigene Qualifikation für einen Ausbildungsplatz in besonderer Weise nachweisen können. Darüber hinaus wird empfohlen, Bescheinigungen über ehrenamtliche Tätigkeiten, Jugendgruppenleitungstätigkeiten, über die Teilnahme an Volkshochschulkursen, Auslandsaufenthalten, Zertifikate über Kenntnisse im Bereich der neuen Medien und Bescheinigungen über Jobs aller Art und geleistete Betriebspraktika einzuheften. Die Schülerinnen und Schüler erhalten eine Übersicht, was bedeutsam sein kann und entscheiden selbst, welche Anregung sie aufnehmen oder nicht. Der Berufswahlpass ist noch in der Entwicklungsphase. Die ersten Rückmeldungen bestätigen die Annahme, dass mit diesem Instrument der Berufswahlprozess strukturiert und die Selbstverantwortung der Schülerinnen und Schüler gefördert werden kann.