Das Material lässt sich durch Vergleich mit der Zukunft des eigenen Landes weiter auf Plausibilität und Konsistenz testen. Die Prognose für die Demokratie im eigenen Land in vierzig Jahren (d.h. um 2035) fällt eher bescheiden aus (MOverall = 3.50), wobei Osteuropa (außer Litauen) besonders niedrige Werte zeigt und auch Ostmitteleuropa (außer Tschechien und Kroatien) unterdurchschnittlich abschneidet (MOst = 3.21, MOstmittel = 3.46 gegen MSüdwest = 3.59, MNordwest = 3.60). Nur in Palästina ist man vergleichbar skeptisch hinsichtlich einer demokratischen Zukunft. Die positivsten Werte, d. h. den größten Optimismus legen die ostmittelmeerischen Länder (Griechenland, Türkei, Israel) an den Tag (MOst = 3.21, MNahost = 3.64), dazu Island. Nord-, West- und Westmitteleuropa bewegen sich ganz dicht am Gesamtmittel.

Völlig anders aber sieht die Einschätzung des eigenen Landes vor vierzig Jahren (also 1955) aus. Gegenüber der Zukunft ist das Gesamtmittel für "demokratisch" etwa drei Viertel Skalenpunkte niedriger (MOverall = 2.73). Das beruht auf durchweg deutlich negativen Mittelwerten aller 10 "postsozialistischen" Länder (vgl. Grafik 3). Es handelt sich um den maximalen gemessenen Ost-West-Unterschied (MOst = 2.19, MOstmittel = 2.29 gegen MSüdwest = 2.90, MNordwest = 3.22) und auch einen beachtlichen Abstand zum Nahen Osten (MNahost = 2.83). Polen und Slowenien geben noch die mildesten, Bulgarien und Tschechien die härtesten Urteile ab.

Auffälligerweise haben die skandinavischen Länder durchweg positive, die westeuropäischen Länder nur neutrale Werte. Offenbar ist langfristige Demokratie besonders im Norden Teil der kulturellen Selbstverständlichkeit, aber auch des Stolzes und der Identität. Ausgesprochen negative Werte gibt es in Spanien (Franco-Zeit), abgeschwächt in Portugal (Salazar-Zeit) und bei den beiden arabischen Gruppen.Anders ausgedrückt: In den länderspezifisch unterschiedlichen Einschätzungen der "Demokratie" vor vierzig Jahren steckt ein hoher Grad an empirischer historischer Triftigkeit - von mentaler Stimmigkeit in der heutigen Situation ganz abgesehen. Die Unterschiede sind enorm: Zwischen den Osteuropäern und den Nordeuropäern liegt mehr als ein Skalenpunkt (und mehr als eine Standardabweichung der Antworten); das ist ein sehr großer Effekt.[/S. 215:]

 

Aber auch die Ostmittel- und die Westmitteleuropäer sind noch beachtliche drei Viertel Skalenpunkte (oder fast zwei Drittel der Standardabweichung) entfernt.

Einen anderen Zugriff auf die Bewertung von Demokratie in der Geschichte bieten die Fragen nach dem Gewicht bestimmter Faktoren oder Determinanten für Änderungen des menschlichen Lebens. Auch diesmal wurde sowohl nach der Entwicklung in der Vergangenheit und der in der nächsten Zukunft (von 40 Jahren) gefragt. Unter den 15 Angeboten standen für beide Zeitformen neben "Kriegen", "Revolutionen" und "Umweltkrisen" auch "jeder Mensch" sowie "soziale Bewegungen und soziale Konflikte" und "politische Reformen". Der Einfluss von "jedem Menschen" in der Vergangenheit wie in der Zukunft wurde besonders uneinheitlich eingeschätzt (jeweils größte Standardabweichung überhaupt!). Die Gesamtmittelwerte für "jeden" (MOverall = 3.26 und 3.23), die deutlich unter denen der meisten anderen Determinanten liegen, sagen daher ziemlich wenig.

Dagegen sind die nationalen Unterschiede sehr bezeichnend (vgl. Grafik 4). Die Kontraste gehen jeweils mitten durch die regionalen und systemspezifischen Ländergruppen: Isländer halten gegen die anderen Skandinavier viel von der Kraft der Individuen, Litauer und Esten gegen die anderen Osteuropäer, Tschechen und Slowenen gegen die anderen Ostmitteleuropäer, Griechen, Spanier und Portugiesen gegen die anderen Mediterranen und Belgier gegen die anderen Westeuropäer. Das bedeutet aber: Fast durchgehend (Spanien ist die einzige Ausnahme!) sind es die mit Abstand kleineren Länder, die dem "einzelnen" großen Einfluss zutrauen. Dieses Muster schlägt gegenüber den sonst so deutlichen Besonderheiten (Nord gegen Süd und Ost gegen West) weithin durch. [/S. 216:]

 

Die künftige Bedeutung jedes einzelnen ist der vergangenen überaus ähnlich. Kein Land entfernt sich ernsthaft von den Angaben für die Vergangenheit (13). Das heißt aber: Ein Wandel im Einfluss des einzelnen von der Vergangenheit zur Zukunft wird nicht ins Auge gefasst. Man hat daher den Eindruck einer ausgesprochen unhistorischen Konzeption von Demokratie bzw. Partizipation, d. h. ihrer fehlenden Verankerung in einer Entwicklung. Das hängt gewiss damit zusammen, dass die Jugendlichen nachweislich mit Fremdverstehen abweichender geschichtlicher Zustände nicht viel anfangen und heutige Ideal-Maßstäbe (z. B. Menschen- und Bürgerrechte) ziemlich undifferenziert an das Verhalten von Menschen aller Epochen anlegen.

Eine gewisse Kontrolle des (absolut untergeordneten) Stellenwertes von "Demokratie" als historischem Thema und Motor lässt sich auch mittels der Frage nach den thematischen Interessen der Jugendlichen gewinnen (vgl. Grafik 5). Von elf Sektoren liegt "die Entwicklung der Demokratie" (MOverall = 2.80) im schwach negativen Bereich und eindeutig an letzter Stelle, etwa einen Skalenpunkt hinter der "Geschichte Deiner Familie" (MOverall = 4.02) oder "Abenteurern und großen Entdeckungen" (MOverall = 3.76), aber auch einen halben Skalenpunkt hinter "den Auswirkungen von Menschen auf ihre Umwelt" und "der Geschichte bestimmter Gegenstände (z. B. ... von Autos, von Kirchen, der Musik, des Sports)". [/S. 217:]

 

Das mit Abstand größte Interesse an der "Entwicklung der Demokratie" besteht in den ostmittelmeerischen Ländern (allerdings mit einem Einbruch in Israel); etwa neutrale Werte gibt es auch in Südeuropa (mit Kroatien und Bulgarien), während Osteuropa und Teile Ostmitteleuropas (Litauen und Tschechien wiederum mit Einschränkungen) sowie Nord- und Westeuropa ein vertieftes Desinteresse zeigen (vgl. Grafik 5). Der "postsozialistische" Bereich bleibt also hinter dem Westen kaum (MOst = 2.61, MOstmittel = 2.65 gegen MSüdwest = 3.20, MNordwest = 2.65), hinter dem Nahen Osten um so weiter zurück (MNahost = 3.32). Eine tiefe Kluft besteht auch zwischen dem reservierten ("kühlen") Norden und dem enthusiastischen ("heißen") Süden des westlichen, schon vor 1989 "marktwirtschaftlichen", Europa (MSüdwest = 3.20 und MNordwest = 2.65).

Nach den Kriterien der Wichtigkeit und des Interesses, der Erinnerung und der Erwartung bleibt Demokratie also für die Jugendlichen gleichermaßen untergeordnet - ganz im Gegensatz zu der herausragenden normativen Bedeutung, die Lehrerschaft (und Fachdidaktik) dem Gegenstand und seiner Internalisierung ausdrücklich zusprechen (Lehrziel MOverall = 4.18). Im großen und ganzen sind es auch stets dieselben Länder, die dabei einerseits mit besonderer Nichtachtung hervortreten oder die andererseits wenigstens verbale Zugeständnisse machen.

Ausführlich wurde weiterhin nach Urteilen über die osteuropäische Entwicklung seit 1985 gefragt. Die Antworten sind jedoch sehr vage (bei einzelnen Fragen kreuzen bis zu 51% das unentschiedene "teils-teils" an) - und überraschenderweise in Ost- und Westeuropa fast gleich, so auch beim Item "Demokratisierung der sowjetischen Gesellschaft" (MOst = 3.31, MOstmittel = 3.21 gegen MSüdwest = 3.43, MNordwest= 3.25). Insgesamt wird deutlich, dass [/S. 218:] den Jugendlichen von 1994/95 die Entwicklung 10 Jahre zuvor weder aus biografischer Erfahrung noch aus offizieller Überlieferung bekannt ist; auch das soziale Gedächtnis der Familien füllt die Lücke offenbar unzureichend.

Statt weitere (mögliche) Details zu präsentieren, ist eher danach zu fragen, was die Daten (ohnehin mehr politische Einstellungen als historische Vorstellungen betreffend) wirklich aussagen. Natürlich überlegt man, ob Angaben wie die vorgestellten irgendeine logische Konsistenz und politische Relevanz aufweisen. Aus der Forschung zur "öffentlichen Meinung" ist das aber eigentlich bereits bekannt: Die Aussagen sind soziale Wirklichkeit und insofern hoch bedeutsam, auch wenn sie vielfach widersprüchlich bleiben und Meinungen das Handeln keineswegs direkt und abschließend bestimmen. Das gilt selbst für Erwachsene, nicht nur für fünfzehnjährige Halbwüchsige wie in unserer Stichprobe.

In Deutschland haben Ende September 1996 etwa zwei Drittel der Menschen die einschneidenden Sparmaßnahmen der Regierung im Sozialbereich als überzogen und überflüssig abgelehnt. Gleichzeitig haben etwa zwei Drittel die Meinung vertreten, es müsse noch viel härter gespart werden. Weit über die Hälfte war zudem überzeugt, die Steuern müssten gesenkt werden (insbesondere der Spitzensteuersatz für die höchsten Einkommen). Das ist absolut widersinnig; aber man erkennt deutlich, in welchen Punkten Regierung und Opposition jeweils erfolgreich die "öffentliche Meinung" besetzt haben und beherrschen. Nur im Sinne solcher vager und fragwürdiger, aber gesellschaftstypischer und wichtiger Orientierungen vom Hörensagen sind unsere Daten und ihre Verteilung ernst zu nehmen.