Damit können wir zu den Begriffen von Demokratie überwechseln, bei denen versucht wurde, auch einige historische Erfahrungen einzufangen. Im Gesamtmittel der Stichprobe werden alle positiven Aussagen über Demokratie vorsichtig bis lebhaft akzeptiert (MOverall ≈ 3.39), alle negativen Äußerungen schwach zurückgewiesen (MOverall ≈ 2.71, vgl. z. B. Grafik 6). Solche kritischen Aussagen waren die (theoretisch und empirisch teilweise durchaus triftigen) Feststellungen der bloßen Akklamation für Parteiführer (vgl. Grafik 6), der Lenkung durch die Reichen und Mächtigen und der Schwäche in Krisenzeiten. Die Anmahnung bisheriger Defizite von Demokratie (Wohlfahrts-Staat und Frauen-Gleichberechtigung) erhalten im Durchschnitt schwache Zustimmung (MOverall ≈ 3.40). Am positivsten kommen die Definitionen als "Regierung des Volkes über das Volk für das Volk und durch das Volk" (Lincoln) und als "Gesetzesherrschaft und Minderheitenschutz" weg (MOverall ≈ 3.60, vgl. Grafik 6), während historische Ableitungen aus dem alten Griechenland und einem langen "Prozess von Versuch und Irrtum" wenig Resonanz finden (MOverall ≈ 3.10).

Der Verweis auf die "Erbschaft des klassischen Griechenland" z. B. findet nur in Griechenland Gegenliebe. Der Hinweis auf lange und schmerzhafte geschichtliche Erfahrungen und Experimente wird im östlichen Mittelmeer (außer Griechenland), aber auch in Teilen Skandinaviens (Finnland, Island, Schweden), Ostmitteleuropas (Ungarn, Slowenien) und Osteuropas (Litauen, Estland) nur neutral (und insgesamt oft "unentschieden") betrachtet. Das gilt überraschenderweise auch für Deutschland (43 % "bin unentschieden"). Generell kann man wohl erneut eine geringe Historisierung des Demokratiekonzepts (und zugleich etwas illusionäre Vorstellungen) festhalten. Speziell muss man fragen, warum einerseits Länder mit einer alten, unproblematischen demokratischen Tradition, andererseits gerade Muster diskontinuierlicher Entwicklung (Deutschland, Ungarn, Slowenien) die Prozesshaftigkeit nicht erkennen und anerkennen.

Damit sind wir von den Gesamtmittelwerten zu den länderspezifischen Verteilungen übergegangen. Sie fallen teilweise recht abweichend aus. Die Lincoln-Formel z. B. (vgl. Grafik 6) [/S. 219:]

 

wird in Skandinavien weit stärker akzeptiert als in Osteuropa und Ostmitteleuropa (wo Tschechien erstaunlich weit nach oben und Slowenien erstaunlich weit nach unten abweicht). In Westeuropa wird Demokratie ebenso intensiv mit Lincolns Definition verknüpft wie in Skandinavien, nur dass (leider) Deutschland und Großbritannien auf den osteuropäischen Standard abrutschen (MOst = 3.54, MOstmittel = 3.53 gegen MSüdwest = 3.87, MNordwest = 3.72). Noch höher als in Skandinavien aber ist die Zustimmung im östlichen Mittelmeerraum (Griechenland, Türkei und Israel mit Palästina) (MNahost = 3.96). Das ist nun schon ein vertrautes Bild.

Die drei negativen Feststellungen werden - wie erwähnt - im Mittel abgelehnt. Es lohnt sich aber, solche Länder herauszusuchen, die im einen oder anderen Punkt neutral stehen oder zustimmen. Dass Demokratie bloße Akklamation für Parteiführer sei ("Stimmviehargument" und "realistische Demokratietheorie" im Sinne von Schaumpeter, vgl. Grafik 6) wird in Bulgarien fest behauptet, aber auch in einer Reihe anderer "postsozialistischer" Länder (Russland, Ukraine, Polen, Slowenien), in einigen westlichen Ländern (Portugal, Großbritannien, Belgien) und unter arabischen Israelis anerkannt (MOst = 3.04, MOstmittel = 2.62 gegen MSüdwest = 2.56, MNordwest = 2.64 und MNahost = 2.63). Gerade für Jugendliche ohne den Willen zu eigenem politischen Engagement (das Gesamtmittel für politisches Interesse ist deutlich negativ, MOverall = 2.52) müsste diese Feststellung an sich als empirisch korrekt gelten.

Die Kritik an der Demokratie als einer "schwachen Regierungsforen" mit fehlender Eignung für Krisenzeiten wird in Polen und Großbritannien zwar nicht geteilt, aber neutral [/S. 219:] eingeschätzt. Auch in anderen osteuropäischen (erneut außer Litauen!) und ostmitteleuropäischen Ländern (erneut außer Tschechien!) hat sie merklich höhere Werte als in Nord- und Westmitteleuropa (MOst = 2.78, MOstmittel = 2.69 gegen MSüdwest = 2.52 MNordwest = 2.63). Freilich ist man auch in den iberischen Ländern und den arabischen Stichproben etwas skeptischer (MNahost = 2.47). Im ganzen sind die Unterschiede nicht radikal; das Muster zeigt leise Anklänge an den ehemaligen Ost-West-Gegensatz, geht aber bei weitem nicht darin auf.

Dieses Bild wiederholt sich bei der Kennzeichnung: Demokratie sei "ein Vorwand, der die Tatsache verdeckt, dass die Reichen und Mächtigen in der Geschichte immer gewonnen haben". Energischen Widerstand gegen diese Formulierung gibt es nur im Ostmittelmeer (Griechenland, Türkei, Israel, auch Italien) (MNahost = 2.61) und in Tschechien und Litauen. Hier ist offenbar die Konnotation zu "Demokratie" am positivsten, da diese Länderkombination immer wieder auftaucht, obwohl es sich vermutlich nicht gerade um die wirklich basisdemokratischen Länder Europas handelt. Die höchsten (teilweise positiven) Werte werden in den britischen und iberischen Samples sowie in Ost- und Ostmitteleuropa erreicht (jedoch keinerlei Ost-West-Abstufung: MOst = 2.88, MOstmittel = 2.81 gegen MSüdwest = 2.75, MNordwest = 2.83). Auch das ist mittlerweile ein geläufiges Muster.

Aus den Items lassen sich zwei zuverlässige Konstrukte herstellen, nämlich "affirmative Konzepte von Demokratie" und "kritische Konzepte von Demokratie". Es überrascht nicht, daß Großbritannien, Iberien, Ost- und (teilweise) Ostmitteleuropa ziemlich hohe Werte an "Demokratiekritik" haben, die Ostmittelmeerländer sehr niedrige (MOst = 0.25, MNahost = -0.24, MSüdwest = -0.13). Zu diesen nicht-demokratiekritischen Gruppen gehören auch die tschechischen und (abgeschwächt) die litauischen Befragten.

Bei der "Demokratieaffirmation" stehen Bulgarien, Griechenland und Italien mit den höchsten Werten krass gegen Slowenien und Finnland, aber auch Russland, Palästina, Ungarn, Estland und Deutschland mit recht niedrigen. Hier handelt es sich nicht primär um ein Ost-West-Gefälle (MOst = -0.02, MOstmittel = -0.10 gegen MSüdwest = 0.30 MNordwest = -0.08), sondern eher um einen rhetorisch-pathetischen Demokratiebegriff des "heißen" Südens im Vergleich zum pragmatischeren und zurückhaltenderen "kühlen" Norden (MSüdwest = 0.30 und MNordwest = -0.08). Wahrscheinlich hat das mehr mit einem allgemeinen Phänomen "Enthusiasmus" versus "Reserviertheit" zu tun als mit dem besonderen Thema Demokratie.