Zur Wahrnehmung historisch-gesellschaftlicher Sachverhalte gehört auch die Wahrnehmung von sozial-ökonomischen Unterschieden. Die Kategorien arm - reich werden zwar durch die Kategorien "oben" und "unten" überlagert, sind mit ihnen aber noch nicht identisch. Die Wahrnehmung von sozialen Unterschieden in historischen Darstellungen sowie die Wahrnehmung sozialer Ungleichheit in der Gegenwart ist an die Erfahrung dieser Prädikate in der alltäglichen kindlichen Umwelt gebunden.

Kinder lernen schon sehr früh die Begriffe arm und reich zu gebrauchen und richtig anzuwenden. Ob die Begriffe arm und reich heute historisch veraltet sind (Wacker 1976: 62) und auf unsere Gegenwart nicht mehr passen, ist hier nicht so wichtig. Ein Bewusstsein von gesellschaftlicher Ungleichheit ist dennoch vorhanden, wie auch neuere Untersuchungen zeigen (Leahy 1981). Kinder haben aber bestimmte Schwierigkeiten, sich selbst und ihre Familie in diesem Bezugssystem unterzubringen: "Dieselben Kinder, die in der Mehrzahl angeben, in ihrem Bekanntenkreis seien mehr arme Leute zu finden, nehmen wiederum in der Mehrzahl ihre Eltern aus" (Wacker 1976: 70). Sie können wohl ihre Umwelt nach den Kategorien "arm" und "reich" einschätzen, haben aber offensichtlich Schwierigkeiten in der Selbstlokalisation.

Der gleiche Tatbestand wird aus der Berliner Kinderladenbewegung berichtet:

"Auch bei Gegenüberstellungen wie: reiche Kapitalisten, die immer reicher werden, arme Arbeiter, die relativ verarmen, stießen wir häufig auf den Widerstand der oder besser die Abwehr der Kinder: Sie wollten ihre Eltern keinesfalls als arm hingestellt sehen, sondern betonen wider allen Augenschein, wie gut sie doch verdienten und wohnten, wie zufrieden sie mit ihrem Leben sein könnten" (Autorenkollektiv am psychologischen Institut der Freien Universität Berlin 1971:124; zitiert nach Holzkamp 1973: 228)

Hier treten offensichtlich bewusstseinsinterne Konflikte auf, die zu Schwierigkeiten führen, die einzelnen Strukturmomente "ökonomisches" und "moralisches Bewusstsein" (11) in einem Gesamtkonzept zu integrieren.

Wacker berichtet, dass die Schüler mit einem "inkongruenten Erklärungsmodell" die Ursachen von arm und reich erklären wollten. "Während Armut überwiegend als durch unbeeinflussbare Gegebenheiten ... verursacht gesehen wird, soll Reichtum wesentlich die Frucht individueller Bemühungen sein" (Wacker 1976: 76). Arm ist eine Eigenschaft von Personen, die von außen kommt, Reichtum dagegen ist eine Eigenschaft, die die Person der eigenen Tüchtigkeit (Begabung, Fleiß...) verdankt (externe und interne Kausalattributation).

Daran scheint Geschichtsunterricht nicht ganz unbeteiligt zu sein. Unsere Schulbücher verstärken diese inkongruenten Erklärungsmuster:

Armut und Reichtum als gesellschaftliche Kategorien, die auch gesellschaftlichen Ursprungs sind, werden hier auf Persönlichkeitsmerkmale reduziert: auf Weitsicht und Tatkraft einerseits und auf Hilflosigkeit andererseits.

Die jüngste (mir bekannte) Untersuchung (Leahy 1981), an die eine Analyse des ökonomischen Bewusstseins anknüpfen könnte, versucht, die Entwicklung von Schichtungskonzepten in Begriffen der kognitiven Entwicklung zu beschreiben. Sie untersucht zwei allgemeine Trends der kognitiven Entwicklung und der sozialen Wahrnehmung: Zwischen Kindheit und Adoleszenz findet ein Wandel in der Betonung von beobachtbaren "peripheren" zu vermuteten psychologischen oder "inneren" Eigenschaften von Personen statt. Zweitens, die Betonung jüngerer Kinder von Verhalten und äußerer Erscheinung ist verbunden mit Berufs- und Geschlechtsrolle.