Betrachtet man die Gesamtheit der Äußerungen über "Demokratie", so drängen sich eine Reihe von Schlussfolgerungen auf:

  • Das Konzept "Demokratie" ist insgesamt nicht sehr lebhaft im Bewusstsein der Jugendlichen verankert; das ist wahrscheinlich ebenso eine Folge ihres niedrigen Alters wie des geringen politischen und partizipatorischen Engagements auch von erwachsenen Bevölkerungen insgesamt. Die ziemlich geringe Wertigkeit wird übrigens mit den anderen abstrakten Orientierungen hoher Ebene (Staat, Nation, Europa, Glaube) mehr oder weniger geteilt; die Befragten scheinen durch so allgemeine, globale und lebensweltferne Konzepte weithin überfordert. Das Eintreten für "mein Land" ist zwar etwas lebhafter, aber ausgesprochen chauvinistische Statements werden im Mittel zurückgewiesen.
  • Das Konzept der "Demokratie" wird nicht (oder wenig) historisiert, d.h. kaum für eine Orientierung in erkennbaren Änderungsprozessen von der Vergangenheit her über die Gegenwart auf die Zukunft hin benutzt. Auch darin gleicht es anderen abstrakten und globalen Begriffen wie Nation, Europa und Religion. Das ist gewiss auch ein Problem der Fragetechnik [/S. 220:] in kulturvergleichenden Studien mit geschlossenen Items (in Papier-Bleistift-Verfahren). Es ist aber sicher auszuschließen, dass es sich nur um einen Methodeneffekt handelt.
  • Die Stellung zur "Demokratie" ist deutlich mehrdimensional. Relevanz und Interesse, Einsicht und Engagement, Begriff und Geschichte, Erinnerung und Erwartung haben etwas miteinander zu tun, sind aber nicht einfach identisch. Im Begriff selbst lassen sich wenigstens zwei unabhängige Gesichtspunkte herausarbeiten nämlich "affirmative Konzepte" und "kritische Konzepte" (14). Theoretisch ist bei "Affirmation" (wohl vorwiegend des Anspruchs) und"Kritik" (sicher besonders der Wirklichkeit) von Demokratie nicht von einer einfachen Polarität auszugehen, sondern von komplementären, erst zusammen ein Gesamtbild ergebenden Dimensionen. Die Studie hat eine solche zwei- bis dreidimensionale Struktur (die in fast allen Ländern stabil bleibt) regelmäßig für geschichtliche Epochenassoziationen und historische Allgemeinbegriffe gefunden.
  • Auch hinsichtlich der Demokratiebegriffe und -Wertungen gibt es nennenswerte kulturelle Unterschiede zwischen den beteiligten Ländern. Diese folgen jedoch keineswegs dem einfachen Schema, dass die "postsozialistischen" Länder des "Ostens" viel weniger demokratiebegeistert (stattdessen demokratieskeptischer) seien als die "alt-marktwirtschaftlichen" des "Westens". Vielmehr gibt es schon auf der Ebene von Ländergruppen mehrere miteinander verzahnte, sich durchgitternde Muster, z. B. auch den größeren rhetorisch-pathetischen Enthusiasmus im Süden Europas gegenüber der größeren vorsichtig-zurückhaltenden Reserve in der Mitte und im Norden.
  • Diese Differenzierung setzt sich auf der Ebene der einzelnen Länder erkennbar fort. So sind Litauen und Tschechien eindeutig Länder mit einer Jugend, die ein größeres Demokratievertrauen entwickelt als die der Nachbarländer. Auf der anderen Seite zeigt Großbritannien eine auffällige, kaum glaubliche Distanz, die durch die Parallelität in beiden unabhängig gezogenen Teilgruppen (England/Wales und Schottland) noch zusätzlich gesichert wird. Durch die Studie werden aber auch Vorurteile und Befürchtungen zerstört. So trifft es z. B. keineswegs zu, dass in Russland "Demokratie" nur noch ein Schimpfwort sei und inzwischen "Demokrat" mit "betrügerischem Geschäftemacher" gleichgesetzt werde. Jedenfalls war es 1995 noch nicht so.
  • Trotz der oben genannten Mehrdimensionalität kann den Jugendlichen nicht ohne weiteres ein konsistentes Denken bescheinigt werden. Die Widersprüche oder Spannungen zwischen Einstellungen sind (aus der Meinungsforschung) ebenso bekannt wie die zwischen Einstellungen einerseits und tatsächlichem Verhalten andererseits. Die überwiegend "edlen", d. h. Menschenrechte, Fremdenfreundlichkeit, Gewaltfreiheit und Umweltschonung ausdrücklich bejahenden Überzeugungen setzen sich nicht oder nur sehr teilweise in Alltagshandeln um. Das kann man schon an Angaben zu anderen Teilen unseres Fragebogens kontrollieren; vielfach treten Nullkorrelationen auf, wo hohe positive (gelegentlich auch negative) Zusammenhänge zu erwarten wären (15).

Methodisch sollte noch angemerkt werden dass die Studie mit großer Sicherheit nicht Maximal-, sondern Minimalunterschiede zwischen dem Geschichts- und Politikbewusstsein [/S. 221:] in den beteiligten Nationen bzw. Kulturen gemessen hat. Das liegt einerseits an der geschlossenen Form der Fragen (statt offener Anreize) und der Notwendigkeit generellgemeineuropäischer Themen (statt nationsspezifischer Lieblings- und Tabuzonen), andererseits am begrenzten Reifestand (vor-politisches Alter) und an gemeinsamen Vorlieben der Befragten (Tendenzen zu einer einheitlichen, mode- und konsumbestimmten europäischen "Jugendkultur").

Bei der Benutzung der Befunde muss davor gewarnt werden, allzu eilfertig und voreilig von der empirischen Beschreibung von kulturellen Unterschieden zu ihrer politisch-moralischen Bewertung überzugehen. Wenigstens aus Sicht des Empirikers gibt es nicht umstandslos "gutes" und "schlechtes", "angemessenes" und "verfehltes" Geschichtsbewusstsein. Selbstverständlich sollen die Befunde zu einer gründlichen didaktischen Diskussion in den beteiligten Ländern beitragen; sorgfältige Diagnose und abwägende Selbstreflexion sind im zuverlässigen Vergleich mit Nachbar- und Kontrastländern natürlich wesentlich einfacher als ohne solche Informationen. Auch Handlungsmaximen und Reformmaßnahmen sollen dabei gefunden werden. Misslich erscheint aber eine gewissermaßen "diktatorische" Beurteilung seitens einer zentralen Analyse, die notwendigerweise Traditionen, Randbedingungen und Zielsetzungen in den einzelnen Ländern nur höchst unvollkommen kennen kann.