Den so von Jeismann begonnenen, nicht aber konsequent weitergeführten Ansatz hat Jörn Rüsen 1989 (also sieben Jahre vor dem eingangs zitierten Diktum vom Abgrund) aufgegriffen. Bereits auf der Basis seiner grundlegenden Arbeiten zum historischen Denken begriff er Geschichte nicht mehr als ein auf eine vergangene Wirklichkeit bezogenes Denken, sondern erkannte es als ebenso fundamental in der Gegenwart wurzelnd und auf ein gegenwärtiges Interesse gerichtet an, wie das politische.

Für ihn bestand der Unterschied zwischen dem historischen und politischem Bewusstsein zwar auch in unterschiedlichen Erkenntnisinteressen und -richtungen, die jedoch nicht in einem äußeren Gegenstandsbereich vorgegeben waren. Vielmehr unterschied er zwischen zwei unterschiedlichen Aufgaben des historischen und des politischen Denkens als zweier Instrumente zur Bewältigung der Gegenwart: Während politisches Denken dazu diene, dass Menschen mit dem Phänomen der Macht bzw. der Herrschaft umgehen können, diene historisches Denken der Verarbeitung von Kontingenz (23). Beide koinzidierten "dort, wo politisches Handeln auf eine Orientierung angewiesen ist, die seine zeitliche Perspektive, die zeitliche Richtung politischer Absichten und den Zeitverlauf politischer Vorgänge" betreffe. Ein Geschichtsbewusstsein sei dann "historisch-politisch", wenn es "auf politisches Handeln als dessen Orientierung bezogen" sei (24).

Die praktische Umsetzung allerdings, wie Rüsen sie 1989 skizziert, erscheint demgegenüber wiederum eher klassisch: Er sieht zwei Möglichkeiten der "Koinzidenz" historischen und politischen Bewusstseins:

  1. Politisches Handeln selbst wird historisch thematisiert (übliche Variante) (25)
  2. Thematisierung anderer als politischer Inhalte im Geschichtsbewusstsein mit Verdeutlichung ihrer Bedeutung für Politik (26).

Wenn man die moderne, narrativistische Historik Rüsens ernst nimmt, hat sie jedoch noch weiter reichende Konsequenzen für das Verständnis von historischem Denken und Lernen. Das Problem des Zusammenhangs von historischem und politischem Denken und Lernen muss gerade wegen der Herausarbeitung und Betonung eines konstitutiven Gegenwartsbezugs des historischen Denkens neu gestellt werden. So kann historisches Denken und Lernen nicht mehr als ein Denken und Lernen über historische Gegenstände aufgefasst werden, über gewissermaßen als abgeschlossen geltende, in der Vergangenheit liegende Wissensbereiche, sondern muss als ein Denken und Lernen über den eigenen Bezug zu solchen zeitlich entfernten Gegebenheiten angesehen werden - kein Denken "in" Geschichte mehr, sondern ein Denken über Zeit. Geschichtswissenschaft hat es eben nicht mit der Vergangenheit zu tun, was sie von der Politikwissenschaft unterscheide, sondern ebenso mit Gegenwart und Zukunft (27).

Die letzte konzeptionelle Wendung dieser Historik, ihre kulturwissenschaftliche Orientierung, hat dann dieses historisches Denken als einen Bewusstseinsbereich eigener und spezifischer Logik herausgearbeitet, gleichzeitig aber betont, dass er in seiner Kontingenzbewältigungsfunktion - die Rüsen 1989 noch als das Spezifikum des Historischen definierte - nur eine von mehreren individuellen und kollektiven, bzw. kulturellen Formen von Kontingenzverarbeitung ist: nämlich Verarbeitung derjenigen Kontingenz, die durch Zeit entsteht. So hat Friedrich Jaeger auf dem Historikertag 2000 in Aachen herausgearbeitet, dass auch politisches Denken und politisches Bewusstsein eine Form von Kontingenzverarbeitung ist, nämlich der kontingenten Verteilung von Macht und Herrschaft bzw. von Institutionen und Verfahren der Willensbildung - denn das alles, insbesondere auch Machtverhältnisse, könnte anders sein, als es vorgefunden wird. Historisches und politisches Denken und Bewusstsein sind demnach zwei unterschiedliche Ausprägungen einer gemeinsamen mentalen Orientierungsfunktion (28). So formuliert schließlich auch Lange: "Historisch-politisches Lernen nimmt seinen Ausgang in politischen Deprivations- und zeitlichen Kontingenzerfahrungen der Gegenwart" (29).

"Politisch-historisch" wäre ein Denken und ein Bewusstsein demnach dann, wenn es zur Bewältigung aktueller politischer Kontingenz auch dessen zeitliche Veränderungskomponente mit bedenkt, also z.B. Entwicklungen und Veränderungen heranzieht, um Ungleichheiten, Machtverteilungen, Verfahren der Willensbildung und -beeinflussung etc. zu erklären und mit Sinn zu versehen, bzw. wenn historische Veränderungen jeweils auch mit Hilfe politischer Erklärungsmuster erklärt und auf ihre politische Bedeutung hin befragt werden.

Aber auch diese Definition ist nicht wirklich befriedigend. Letztlich bleibt das eine eher strukturzentrierte Definition eines politisch informierten historischen Denkens bzw. eines geschichtsbewussten politischen Denkens.

Ich schlage daher vor, sich auch im Hinblick auf historisch-politisches Lernen an eine neuere Wendung der Geschichtsdidaktik anzuschließen und noch stärker als bislang skizziert die jeweiligen Bewusstseinsformen in den Mittelpunkt zu rücken, indem als Kategorie und Ziel historischen und politischen Lernens jeweils die Reflexivität des eigenen denkenden Tuns gesetzt wird.

Bevor ich dies skizziere, muss ich mich aber noch mit zwei jüngeren Arbeiten zu diesem Thema auseinander setzen, nämlich mit dem bereits zitierten Aufsatz von Hans-Jürgen Pandel und der ebenfalls schon mehrfach angeführten Dissertation von Dirk Lange, denn beide haben die korrelative Form der Fächerverbindung weiter entwickelt.