[/S. 32:] In der Berufsbildung hat sich ein Zielsystem etabliert, das aus der Diskussion um die Schlüsselqualifikationen hervorgegangen ist. An dieser Diskussion hat sich die universitäre Berufs- und Wirtschaftspädagogik zunächst nicht sonderlich intensiv beteiligt.

Die erste Diskussionsrunde erfolgte im Anschluss an Mertens' 1973/74 veröffentlichtes Plädoyer für ein Konzept von Schlüsselqualifikationen, dass das arbeitsmarktbezogene Argument der mangelnden Prognostizierbarkeit konkreter Arbeitsanforderungen im Betrieb zum Programm erhob. Wegen der Mängel einer auf Qualifikationsforschungen aufbauenden Prognostik und wegen der so genannten beschleunigten Zerfallszeit von Bildungsinhalten ("Obsoleszenztempo") wollte Mertens die Qualifikationen der Arbeitskräfte flexibilisieren anhand der bekannten vier Typen von Schlüsselqualifikationen:

Basisqualifikation: z. B. Denkschulung;
  Lehrstoffbeispiel: formale Logik
Horizontalqualifikationen: z. B. Informationsnutzung;
  Lehrstoffbeispiel: Bibliothekskunde
Breitenelemente: Spezialkenntnisse, die allgemein bedeutsam geworden sind;
  Lehrstoffbeispiel: Messtechnik
Vintagefaktoren: Inhalte, die die Bildungsdifferenz zwischen den Generationen aufheben sollen;
  Lehrstoffbeispiel: Programmiertechniken

Die damalige Kritik bezog sich vor allem auf Art und Form der vorgeschlagenen Inhalte, da die angestrebten Schlüsselqualifikationen offenbar nicht an komplexen Arbeitsaufgaben und ohne Bezug auf konkrete Arbeitsprozesse an abstrakten Lehrgegenständen wie formale Logik, Netzplantechnik usw. vermittelt werden sollten. Verwiesen wurde kritisch besonders auf die sich dadurch verschärfende Transferproblematik. Die nicht unproblematische These von der schnellen Entwertung konkreten Fachwissens schien einigermaßen plausibel, aber der bloße Austausch derartigen Fachwissens durch abstraktes Schlüsselwissen gab offenbar doch kein didaktisch befriedigendes Programm ab (Boehm et.al. 1974; Elbers et.al. 1975; Reetz 1976). [/S. 33:]

Die zweite Diskussionsrunde gegen Ende der 80er Jahre verschaffte dem Terminus der Schlüsselqualifikationen und dem dahinter sich verbergenden Ansatz mehr berufspädagogische Aufmerksamkeit, erbrachte Begründungsansätze und zeigte bildungspolitische Wirkungen. Gleichwohl verlief die Rezeption der "Schlüsselqualifikationen" in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik zunächst eher zurückhaltend:

"Bevor auf ausbildungspolitischer Ebene curriculare Entscheidungen über ein revidiertes Zielkonzept der Berufserziehung fallen, bevor "Schlüsselqualifikationen" zur verbindlichen Vorgabe für die Ausbildung in Betrieb und Schule erklärt werden, sollte eine gründliche und vorurteilslose Aufklärung des Sachverhaltes erfolgen, auf denen sich die Wortführer der didaktischen Reform beziehen" (Zabeck 1989).

Einer derartigen Aufklärung galten fortan meine Bemühungen, weil ich der Meinung war und bin, dass sich mit dem Konzept der Schlüsselqualifikationen die Chance eröffnet, Berufsbildung auf Basis der Fachbildung für eine fach- und berufsübergreifende Qualifizierung zu öffnen, die beruflichen Lernprozesse in Betrieb und Schule als Förderung der Persönlichkeitsentwicklung zu gestalten und damit auch an die berufspädagogische Tradition der Berufserziehung als "Bildungsprozess" anzuknüpfen.

Um einen solchen berufspädagogischen Anspruch der Persönlichkeitsbildung sichern zu helfen, wurde 1989 auf dem Symposium "Schlüsselqualifikationen - Fachwissen in der Krise?" ein Konzept entworfen, mit dem die Förderung von Schlüsselqualifikationen in den pädagogischen Zusammenhang von "Bildsamkeit und Bestimmung" bzw. von "Entwicklung und Erziehung" gestellt werden konnte:

Dies sind die Titel der beiden Bände der Pädagogischen Anthropologie von Heinrich Roth. Im ersten Band legt Roth die interdisziplinären Befunde über Bildsamkeit und Lernfähigkeit in Form einer pädagogischen Persönlichkeits- und Handlungstheorie vor; im zweiten Band stellt er die Entwicklungs-, Lern- und Erziehungsprozesse dar, die den Menschen im Zuge der Ausformung seiner Selbst-, Sach- und Sozialkompetenz "in die mündige Selbstbestimmung zu führen vermögen" (Roth 1971, S. 17, S. 388 f.). Insgesamt hat Roth hier eine umfassende Entwicklungspädagogik vorgelegt, welche die ihr gebührende Aufmerksamkeit in der Erziehungswissenschaft erst in jüngster Zeit zu finden scheint (Achtenhagen 1996, S. 24; Aufenanger 1992, S. 15 ff.; Bauer 1997, S. 102 f.).

Die ähnliche Verwendung des Kompetenzbegriffes in Roths pädagogischer Anthropologie wie in der Schlüsselqualifikationsdiskussion ist sicher nicht zufällig, [/S. 34:] vor allem wenn man sieht, dass Roth über den von ihm maßgeblich mitbeeinflussten zweiten Deutschen Bildungsrat zur Verbreitung des Kompetenzbegriffes in der Erziehungswissenschaft beigetragen hat (Achtenhagen 1996; Deutscher Bildungsrat 1974, S. 49).

Der Kompetenzbegriff hat in der Schlüsselqualifikationsdiskussion von Anfang an eine wichtige Rolle gespielt. So habe ich z. B. in meinen grundlegenden Aufsätzen zu diesem Thema (Reetz 1989, 1990, S. 17 f.) darauf aufmerksam gemacht, dass die Zielformel der Schlüsselqualifikationen nicht nur qualifikations- und arbeitsmarkttheoretisch oder curriculumtheoretisch, sondern vor allem kompetenztheoretisch zu interpretieren sei.

Inzwischen hat der Kompetenzbegriff Eingang in die Ordnungsmittel der Berufsbildung gefunden (vgl. Stiller 1998). Besonders aber angesichts der ausufernden Verwendung des Kompetenzbegriffes in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik, vornehmlich in der berufspädagogischen Weiterbildungsdiskussion stelle ich mit einiger Verwunderung fest, dass dieser Terminologie nicht annähernd so viel didaktische bzw. ideologiekritische Auseinandersetzung zuteil wird, wie dem Begriff der Schlüsselqualifikationen.

Ich möchte deshalb im Folgenden einige Anmerkungen zur Kompetenz-Thematik machen, die der Klärung des Verhältnisses von Schlüsselqualifikationen - Kompetenz und Bildung dienlich sein könnten (Abschnitt 3).

In Weiterführung dieser Gedanken geht es mir hier dann um die Frage, wie mit der Einbindung der Schlüsselqualifikationen in das Konzept einer Persönlichkeitsentwicklung (Reetz 1990) eine Rückbesinnung auf das pädagogische Grundprinzip der Bildung wirksam werden kann; und zwar in der Weise, dass Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen über die kurzfristigen Qualifizierungsergebnisse hinaus auf Persönlichkeitsförderung des einzelnen Menschen in Richtung beruflich-fachlicher, sozialer und humaner Mündigkeit angelegt sind oder sein sollten.

Dass dieses Postulat, nämlich "die individuelle Förderung der Persönlichkeit ins Zentrum von Lehr-Lernprozessen zu stellen", gegenwärtig Realisierungschancen hat, darauf verweist auch Frank Achtenhagen (Achtenhagen 1996, S. 27) im Kontext seiner Konzeptionierung von "ökonomischer Kompetenz":

"Diese genuin pädagogische Zielsetzung hat ihre eigene Berechtigung und darf nicht instrumentalisiert werden. Das ist deswegen besonders hervorzuheben, weil inzwischen auch die Betriebe immer deutlicher erkennen, dass die umfassende Persönlichkeitsentwicklung eine wichtige Vorbedingung für das Erbringen ausgezeichneter Arbeitsleistung darstellt, so dass man in dieser Perspektive [/S. 35:] von einer "Koinzidenz ökonomischer und pädagogischer Vernunft" sprechen kann" (Deutsche Forschungsgemeinschaft 1990, S. VII).

In diesem Zitat wird auf die sich verdichtende Annahme verwiesen, dass Veränderungen in dem Produktionsformen der großen Industrie wie auch im Dienstleistungssektor zu einer Konstellation geführt haben, in der Qualifikation und Bildung nicht von vornherein als unvereinbare Ansprüche auftreten, sondern eher als einander bedingende komplementäre Größen.

Demgegenüber war es in den 70er Jahren in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik eine der bevorzugten Thesen, dass Persönlichkeitsentwicklung unter restriktiven Bedingungen der betrieblichen Sozialisation kaum möglich sei, dass also der Mensch hinter seinen Werdemöglichkeiten (Bildung) zurückbleiben müsse zugunsten sozialer Anpassung und eng geführter betrieblicher Qualifizierung.

Diese Argumentationsfigur der Berufs- und Wirtschaftspädagogik reicht zurück in die bildungstheoretisch inspirierte langjährige Diskussion um Berufs- und Allgemeinbildung und hängt dadurch zusammen mit einem weiteren Argument bildungstheoretischer Tradition: dem Verweis darauf, dass das Schlüsselqualifikationskonzept formale Bildung bedeute, deshalb abzulehnen, zumindest skeptisch zu beurteilen sei.

Da ich dieser Frage an anderer Stelle ausführlich nachgegangen bin (Reetz 1999), werde ich hierauf nur kurz an entsprechender Stelle eingehen, wenn ich in Abschnitt 4 den Gedanken einer entwicklungspädagogischen Orientierung von Schlüsselqualifikationen und Kompetenzen am Bildungsbegriff skizziere. Zuvor jedoch möchte ich auf die Aktualität der Schlüsselqualifikationen aus der Perspektive der Qualifikationsforschung aufmerksam machen.