Der Hinweis auf den Begriff der Bildung ist vor allem auch deshalb plausibel, weil das deutsche Bildungsprinzip ja den Entwicklungsgedanken enthält, im Sinne der Entelechie des Menschen als die - mit Goethe zu sprechen - "geprägte Form, die lebend sich entwickelt".

Seit Sprangers und Kerschensteiners - eher auf Goethes Wilhelm Meister als auf W. v. Humboldt zurückgehender Deutung des Verhältnisses von Berufs- und Allgemeinbildung im Sinne einer Entwicklungssequenz hat der Entwicklungsgedanke in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik wenig Resonanz gefunden. Vielmehr beherrschte das Räsonnement um die "Dichotomie" von Beruf/ Qualifikation und Bildung die Diskussion (Arnold 1994; 1996; Reetz 1999).

Demgegenüber wird in der neueren bildungstheoretischen Diskussion (Koch/ Marotzki/ Schäfer 1997) wieder der prozessuale Charakter von Bildung hervorgehoben. Bildung wird dabei im Kontext, von neueren Lern- und Entwicklungstheorien als "gerichteter Transformationsprozess der Grundstrukturen im Umgang mit sich selbst und mit sozialer und natürlicher Welt" gesehen (a. a. O. S. 9). In diesem Zusammenhang wird eine bildungstheoretisch-prozessuale Lerntheorie skizziert, zu deren Fundierung explizit auf Heinrich Roths Pädagogische Anthropologie zurückgegriffen wird (Bauer 1997, S. 102 f.). Dies geschieht vor allem deshalb, weil Roth darin einen interdisziplinär angelegten entwicklungspädagogischen Ansatz formuliert hat, der auf den Begriffen der Persönlichkeit, des Lernens und der Entwicklung basiert (Aufenanger 1992, S. 18). Das bedeutet, dass hier - anders als in manchen Konzepten zur "Kompetenzentwicklung" - "Kompetenzen" in den Zusammenhang von Persönlichkeitsentwicklung als Persönlichkeitsbildung gestellt werden.

In der genannten Tradition des prozessualen Bildungsgedankens stehend entwirft Roth seine Theorie menschlichen Handelns als Entwicklung. Er sieht [/S. 45:] dabei die "entscheidenden Fortschrittsstufen der menschlichen Handlungsfähigkeit" (S. 446) in der Abfolge einer Entwicklung, die auf der Basis frühkindlicher Erfahrung, "sich Ziele setzen zu können und die Mittel dafür zu entdecken" vom

  • "Erlernen sacheinsichtigen Verhaltens (Entwicklung und Erziehung zu Sachkompetenz und intellektueller Mündigkeit)" - über

  • das "Erlernen sozialeinsichtigen Verhaltens und Handelns (Entwicklung und Erziehung zu sozialkompetenter und sozialer Mündigkeit)" - zum

  • "Erlernen werteinsichtigen Verhaltens und Handelns (Entwicklung und Erziehung zu Selbstkompetenz und moralischer Mündigkeit)" führt (S. 448).

Selbstkompetenz im Sinne moralischer Mündigkeit baut demzufolge auf sachkompetent-intellektueller und sozialer Mündigkeit auf (S. 382, S. 389). Um das Individuum auf den Weg dorthin in konstruktive Bahnen zu lenken, stellt sich zuerst die Aufgabe, in der Auseinandersetzung mit den Sachen "die Sachkompetenz des Kindes zu erhöhen, die ihm die Meisterung der Dinge in der äußeren Natur ermöglicht" (S. 456). Gleichwohl ist der intelligent-sacheinsichtig handlungsfähige Mensch "als solcher noch nicht sozial-handlungsfähig". Er muss auch lernen - und dies möglichst gleichzeitig - seine Handlungen nach Maßstäben zu beurteilen, die als den Mitmenschen "Schaden zufügend" oder "Schaden von ihm wendend" bezeichnet werden können (S. 482). Andererseits sei erforderlich, dass der Handelnde über Sacheinsicht und Sachkompetenz verfügen können muss, um überhaupt sozialeinsichtig handeln zu können (S. 482).

Damit gibt sich ein gegenseitiges Fundierungsverhältnis der Kompetenzen, in dem der Sachkompetenz eine lernsequenziell grundlegende Funktion zukommt. Diese grundlegende Funktion, die der Sachkompetenz und damit dem Sach- und Fachwissen in diesem Ansatz zuteil wird, widerspricht Ansätzen, die einer funktionalen formalen Bildung zu neigen (Lehmsick 1926), in denen die Bedeutung der Wissensinhalte auf "Lernanlässe" reduziert werden (Brater 1997, S. 162).

Sie zeigt aber auch deutlich, dass ein Schlüsselqualifikationskonzept auf kompetenz-theoretisch-entwicklungspädagogischer Basis der Vorwurf inhaltsbeliebiger formaler Bildung nicht treffen kann, wobei auf die Lehmensicksche Unterscheidung zwischen funktionaler, kategorialer und methodischer Formalbildung und ihre transfertheoretischen Bedingungen und Möglichkeiten verwiesen sei (vgl. Reetz 1999). [/S. 46:]

Die Konzeptionierung von Schlüsselqualifikationen respektive -Kompetenzen als Persönlichkeitsbildung legt es also nahe, dem Gedanken der Persönlichkeitsentwicklung mehr Raum zu geben. Dabei wäre ein Entwicklungsbegriff ins Auge zu fassen, der nicht nur an der Kindheits- und Jugendphase als Zusammenfassung von biologischer Reifung und Lernen orientiert ist, sondern der in analoger Beziehung zum "Lebenslangen Lernen" gesehen wird.

Hierbei gewinnen neuere entwicklungspädagogische Ansätze (Aufenanger 1992; Bauer 1997; Garz 1999; Gruschka/ Kutscha 1983; Oser/ Gmünder 1988; Peukert 1979) und entwicklungspsychologische Theorien besondere Bedeutung. Dies gilt vor allem für strukturgenetische Ansätze im Anschluss an Piaget. Flammer (1988, S. 318) stellt bei der Sichtung solcher Entwicklungstheorien bzw. -Ansätze heraus, dass Handeln (Brandstedter 1985) und Problemlösen (Case 1985) zu den wichtigsten Entwicklungsbedingungen beim Aufbau von Kompetenzen gehören. Weiterhin zeigen Ansätze, die struktur- und soziogenetische Betrachtung und Forschung miteinander verbinden, dass insbesondere soziale Interaktionen konstitutiven Charakter für Entwicklung und entwicklungsbezogenes Lernen haben (Aufenager 1992; Doise 1978).

Dabei hat sich erwiesen, dass die Teilnahme an Sozialinteraktionen mit soziokognitiven Konflikten wichtige Bedingungen für die Herausbildung von Kompetenzen darstellen.

Die didaktischen Konsequenzen der Theorien und Befunde liegen in der Öffnung didaktischen Denkens und Handelns für Entwicklungsprozesse, die im Kontext von Sozialisationsprozessen als Prozesse des Lernens und Lehrens zu erforschen und als Bildungsprozesse zu konzipieren sind. Dabei sprechen die Befunde im starken Maße für didaktische Konzepte mit sozial-interaktiven handlungs- und problemorientierten komplexen Lehr-Lern-Arrangements (vgl. z. B. Achtenhagen/ John 1992; Tramm/ Rebmann 1997).

Evaluationen zeigen, dass die kognitiven, emotionalen und sozialen Kompetenzen sich messbar positiv entwickeln in Richtung der angestrebten Förderung der Persönlichkeit (Achtenhagen 1995). Möglicherweise könnte die Etablierung von "Entwicklungssequenzen", die nach strukturgenetischen Vorbild gestuft sind, den didaktischen Bezug zur Bildung im Sinne von Persönlichkeitsentwicklung verstärken. Dabei können dann Lehr-/ Lern-Arrangements, die ein "Lernhandeln in komplexen Situationen" erlauben (Achtenhagen/John 1992), zunehmend "Entwicklungsaufgaben" (Havighurst 1948; Flammer 1988, S. 305 f.) integrieren, wie überhaupt Lehr-Lern-Prozesse über die Förderung beruflicher Handlungskompetenz hinaus "die personale Entwicklung der Individuen zu stützen und zu gewährleisten" haben (Achtenhagen 1994, S. 191). [/S. 47:]