Gerade weil die aktuelle Relevanz von "Sozialkompetenz" so hervortritt, dürfte eine Besinnung auf den Zusammenhang der Kompetenzen, ihren Systemcharakter, von Bedeutung sein.

Mein Versuch, Schlüsselqualifikationen mit Bezugnahme auf Roths Pädagogische Anthropologie als ein System von Kompetenzen zu konzeptionieren, geschah unter anderem in der Absicht, die bereits damals ausufernden Listen von "Schlüsselqualifikationen" überprüfbar zu machen und ggf. auf Persönlichkeitspotenziale, eben Kompetenzen, zurückzuführen, die für den Erwerb beruflicher Handlungsfähigkeit als grundlegend zu betrachten sind. Systemcharakter sollte dieses Konzept bekommen einerseits durch die Relationen der Kompetenzen/ Schlüsselqualifikationen zur Zielkategorie der Handlungskompetenz, andererseits durch die Relationen der Kompetenzen untereinander.

Bevor ich jedoch näher darauf eingehe, möchte ich einiges zur begrifflichen Klärung des Verhältnisses von "Schlüsselqualifikationen" und "Kompetenzen" voranstellen.

In pädagogischer Sicht zielt der Begriff der Kompetenz auf menschliche Fähigkeiten, die dem situationsgerechten Handeln zugrunde liegen und dieses erst ermöglichen. So wird mit beruflicher Handlungskompetenz das reife Potenzial beruflicher Fähigkeiten bezeichnet, das es dem Menschen erlaubt, entsprechend den Leistungsanforderungen, die in konkreten beruflichen Situationen gestellt werden, zu handeln. Aus der Sicht des Beschäftigungssystems werden die jeweils nachgefragten, aktuell verwertbaren Fähigkeiten, derartigen Leistungsanforderungen gerecht zu werden, als Qualifikationen bezeichnet. Aus der pädagogischen Perspektive einer Kompetenz bilden die abgeforderten Qualifikationen [/S. 39:] aber nur einen Teil des Potenzials, das mit beruflicher Handlungskompetenz umschrieben wird. Der Kompetenzbegriff ist also gegenüber dem Qualifikationsbegriff nicht nur umfassender, er bringt auch die jeweilige Fähigkeit zur Erzeugung von Verhalten auf Basis von individueller Selbstorganisation stärker zum Ausdruck (Bunk 1994, S. 10; Erpenbeck/ Heyse 1996, S. 38 f.). Dieser, dem pädagogischen Kompetenzbegriff zugehörige Grundgedanke, ist auf Einflüsse der linguistischen Kompetenztheorie Chomskys zurückführbar. Seine Unterscheidung von "Kompetenz" und "Performanz" geht von der Tatsache aus, dass dem Oberflächen-Verhalten (Performanz) des aktuellen Sprechens in der Tiefenstruktur der Person und seines Wissens ein Sprachpotenzial (Kompetenz) zugrunde liegt, aus dem heraus mehr Sätze erzeugt werden können, als jemals tatsächlich geäußert werden (vgl. Witt 1975).

Im Unterschied zu Chomsky geht man in der Pädagogik davon aus, dass auch die zugrunde liegende Tiefenstruktur der Kompetenz nicht angeboren, sondern erworben ist. Ihre Erforschung ist vor allem Piaget und den ihm verbundenen kognitiven Lern- und Entwicklungstheoretikern zu verdanken. Sie richten ihr Hauptaugenmerk auf den Erwerb von Kompetenzen als Folge von Entwicklungs- bzw. Lernprozessen. Wenn man den Sachverhalt der Erzeugung von Sprachhandeln auf berufliches Handeln schlechthin bezieht, kann man von Erschließungsfähigkeit oder - bildkräftiger - von Schlüsselfähigkeit sprechen. Da diese Fähigkeit auf die Generierung von verwertbaren Verhaltensweisen (Qualifikationen) gerichtet ist, liegt es nahe, von Schlüsselqualifikationen zu sprechen; und dies, obwohl in diesem Sprachmodell nicht die anforderungs- und situationsnahen Qualifikationen, sondern eher die personennahen gleichwohl auch in Relation zu Handlungssituationen befindlichen Kompetenzen das generierende und erschließende Potenzial darstellen. Kath hat aus ähnlichen Erwägungen heraus daher 1990 vorgeschlagen, von "Schlüsseldispositionen" zu sprechen (vgl. auch Erpenbeck/ Heyse 1996, S. 36). Mit anderen Worten: Der Terminus "Schlüsselqualifikationen" gibt zu Missverständnissen Anlass, weil er seiner Bedeutung nach nicht Qualifikationen sondern Kompetenzen intendiert. Er ist aber eine - wie sich gezeigt hat - recht wirksame Metapher, den dahinter stehenden Kompetenzgedanken transportieren zu helfen. Nun hat diese bereits eine sozialnormative Bedeutung erlangt, so dass man sie als Bestandteil einer "öffentlichen Semantik" ansehen kann (Jutzi 1997, S. 307). Die in dieser Semantik enthaltenen Bedeutungen weisen eine große Bandbreite auf: Einerseits erhalten recht enge Qualifikationen - wie z. B. im Siemens-Projekt PETRA (Boretti et.al. 1988) - den Status von "Schlüsselqualifikationen", andererseits werden auch Personeigenschaften, die von beruflichem Handeln losgelöst erscheinen, als Schlüsselqualifikationen bezeichnet (Jutzi 1997, S. 319 ff.). Auf diese Weise kommen dann ausgedehnte Schlüsselqualifikations-Listen zustande, deren Volumen gelegentlich kritisch gegen das Konzept überhaupt eingewandt wird. [/S. 40:]

Die öffentliche Semantik findet ihren Niederschlag in der Diktion der Ordnungsmittel der Berufsbildung. Hierzu heißt es pragmatisch eindeutig: "Der Begriff Schlüsselqualifikationen wird im Zusammenhang mit Neuordnungen von Ausbildungsberufen synonym für methodische, soziale und personale Kompetenzen thematisiert und operationalisiert" (Stiller 1998; Reisse 1997).

Nun darf die Kodifizierung der das Schlüsselqualifikationskonzept bestimmenden Kompetenztrias (Methoden-, Sozial-, humane Selbstkompetenz) in den Ordnungsmitteln nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Operationalisierung dieser Kompetenzen noch immer eine zu lösende Aufgabe bleibt. Dass es sich dabei nicht um die gleiche Art der Operationalisierung handeln kann, die die seinerzeit vorherrschende behavioristische, also performanzorientierte Lernzielprogrammatik bestimmte, liegt an der Komplexität des Kompetenzbegriffes, dessen Auftreten zu Beginn der 70er Jahre ja zugleich auch ein sich änderndes Lehr- und Lernziel-Verständnis mit sich brachte, nachdem der Deutsche Bildungsrat 1974 Kompetenzen als Ziele von Lernprozessen herausgestellt hatte. Vielfach geht es also eher um Konkretisierung, um "Kleinschreiben" der großen Ziele und um Sequenzierung der Lerninhalte und Teilziele in Form von Aufgabenstellungen, die Grundlage der Kompetenzen sind (Meyer 1975, S. 59).

Die von mir - in Anlehnung an Roth - bevorzugte Systematik von Sach-, Methoden-, Sozial- und Selbstkompetenz kann auch als Einstieg in eine "Operationalisierung" und Aufklärung über die "wechselseitige Bedingtheit" (Achtenhagen 1996, S. 24) der kompetenzbeschreibenden Kategorien gesehen werden.

Betrachtet man in diesem Zusammenhang z. B. die Schlüsselqualifikations-Systematik, die dem Hamburger Modellversuch "Schlüsselqualifikationen für Kaufleute im Einzelhandel" zugrunde gelegt wurde (Schopf 1992), so wird eine Komplexionshierarchie erkennbar, die vertikal auf die Zielkategorie der Handlungskompetenz bezogen ist und die horizontal die Relationen der Kompetenzen untereinander andeutet. [/S. 41:]

Abb. 1

Handlungs-Kompetenz
 
Selbst-

Sach-/ Methoden-

Kompetenz

Sozial-
 
Schlüsselqualifikationen
 

Persönlich-

charakterliche

Grundfähigkeiten

Allgemeine kognitive

Leistungsfähigkeit

Kommunikative

Fähigkeiten

 
  • Initiative
  • Verantwortung

  • Fähigkeit zur Erfassung komplexer Situationen (Denken in Zusammenhängen)
  • Problemlösungsfähigkeit

  • Kooperationsfähigkeit sozial-kommunikativ)
  • Verhandlungsfähigkeit (marktkommunikativ)

 

So erscheint plausibel, dass z. B. "Verhandlungsfähigkeit" als marktkommunikative Fähigkeit eine Spielart von Kommunikationsfähigkeit bzw. ein Indikator von Sozialkompetenz sein kann. Andererseits überlagert diese "vertikale" Zuordnung (gemäß einer eher nach Abstraktionsgraden gestuften Merkmalshierarchie) die "horizontalen" Relationen, etwa zwischen Sach- und Methodenkompetenz und zwischen den anderen Kompetenzvarianten.

Diese Beziehungen ließen sich etwa folgendermaßen skizzieren:

Sachkompetenz betrifft die allgemeine kognitive Leistungsfähigkeit des Individuums, d. h., die Fähigkeit zu sacheinsichtigem und problemlösendem Denken und Handeln.

Mit dem Begriff wird also auf die Fähigkeit verwiesen, sachstrukturelles und strategisches Handlungswissen so aufeinander zu beziehen, dass Problemlösungen in spezifischen Bereichen anforderungsgerecht gelingen.

Eine Erweiterung der Sachkompetenz ergibt sich durch Ausformung situativ erlernter, gleichwohl übergreifender Strategien und Heurismen (Findungs- und Lösungsverfahren). Ein breites und flexibles Inventar an Handlungsalgorithmen und Heurismen begründet Methodenkompetenz. Sie beruht im Wesentlichen darauf, dass jemand seine Sachkompetenz auf gut ausgebauter epistemischer und heuristischer Wissensstruktur gründen kann (Doerner 1987). Als Merkmal der Kreativität wird angesehen, wenn jemand über ein breites und gut ausgebautes [/S. 42:] Inventar von Heurismen verfügt und selbst ad hoc neue Heurismen erstellen kann. Damit haben wir auch den Kern dessen bloßgelegt, was wir (kreative) Methodenkompetenz nennen können. Von ihr ist zu sprechen, wenn das Anwenden können unterschiedlichster Verfahrensweisen auf der Fähigkeit basiert, über ein breites Repertoire von Heurismen zu verfügen und dies bei Bedarf durch Neukonstruktionen zu erweitern.

Das von Frank Achtenhagen vorgestellte Konzept zur "Entwicklung ökonomischer Kompetenz als Zielkategorien des Rechnungswesens" kann als Ausdruck von Sachkompetenz und von fachspezifischer Methodenkompetenz angesehen werden, wobei auch die Vernetzungen zu Sozial- und Selbstkompetenz deutlich erkennbar werden. Denn: Sach- und methodengerechtes Handeln allein entsprechen nicht schon mündiger Handlungskompetenz. Handeln muss auch sozial vertretbar und moralisch verantwortbar sein; d. h., Handlungskompetenz als Fähigkeit zu mündigem Handeln umschließt auch Sozialkompetenz und humane Selbstkompetenz (vgl. Erpenbeck/ Heyse 1996, S. 39).

Sozialkompetenz betrifft ebenso kooperatives und solidarisches, wie sozialkritisches und kommunikatives Handeln können. Kommunikative Kompetenz zielt auf Fähigkeiten zu diskursiver Verständigung möglichst unter den Bedingungen symmetrischer (chancengleicher) Kommunikation.

Selbstkompetenz betrifft die Fähigkeit zu moralisch selbstbestimmtem humanen Handeln. Dazu gehört neben der Behauptung eines positiven Selbstkonzeptes (Selbstbildes) vor allem die Entwicklung zu moralischer Urteilsfähigkeit.

Diese Zusammenhänge werden z. B. unter anderem thematisiert in den Untersuchungen zur kommunikativen Kompetenz bei Van Buer 1995, Van Buer/ Matthäus (1994) und Wittmann (1996; 1998). Mit Bezugnahme auf Habermas (1981) wird am Beispiel des "gelungenen" marktkommunikativen Verkäuferhandelns (bei Bank-/ und Einzelhandelskaufleuten) der konflikthafte Dualismus von strategischem und auf Konsensbildung und kommunikativem Handeln verdeutlicht (Van Buer/ Matthäus 1994, S. 74 f.; Wittmann 1998).

Wenn man diese beiden "Grundrichtungen" kommunikativen Handelns operationalisierend in die didaktische Ebene transformiert, so tritt der Zusammenhang von kommunikativer Sozialkompetenz und humaner Selbstkompetenz zutage: Ein Beispiel hierfür bieten die von dem St. Gallener Wirtschaftsethiker P. Ulrich herausgegebenen Lehreinheiten zum Thema "Ethik in Wirtschaft und Gesellschaft", die u. a. auch die Dilemma-Fallstudie zum Widerstreit zwischen ökonomisch-strategischem und human bestimmtem kommunikativem Handeln beim Verkaufen enthält (Ulrich 1996, S. 105 ff.). Es handelt sich bei diesem fallbasierten Lernarrangement um curriculare Inhalte und Anlässe, mit denen [/S. 43:] versucht werden kann, moralische Urteils- und Handlungsfähigkeit - etwa gemäß dem Kohlbergschen Stufenaufbau - durch reflexives "Sich-Bilden" höher zu entwickeln (Oser/ Althoff 1992, S. 41 ff.).

Das entspräche der Aufgabe, die z. B. Zabeck der wirtschaftsberuflichen Erziehung stellt, der zufolge der einzelne Mensch dazu befähigt werden soll, "den ökonomischen Aspekt zu beachten und ihn im Handeln in Verantwortung zu relativieren" (Zabeck 1991, S. 535). Eine solche - auch in der Geschichte der Pädagogik und ihrer Bildungstheorie tief verwurzelte - Aufgabenstellung, erhält allerdings in jüngst veröffentlichten wirtschaftspädagogischen Forschungen und Empfehlungen zur "Kompetenzentwicklung" eine Alternative: Beck (1996) und Beck et. al. (1998) haben in ihren Untersuchungen bei Versicherungslehrlingen herausgefunden, dass ihre Probanden in privaten Situationen anders, nämlich im Sinne Kohlbergs ethisch anspruchsvoller urteilen, als in marktbezogenen Situationen (Segmentierungsthese). Die Autoren nehmen ihre Befunde zum Anlass, zu fordern, "dass junge Auszubildende lernen sollen, moralisch zu differenzieren, sich etwa in marktbezogenen Kontexten am strategischen Prinzip der Stufe 2 zu orientieren, in teambezogenen Kontexten dagegen an den Prinzipien von Stufe 3 und 4" (Beck et. al. 1998, S. 208).

Logik und Konsequenzen einer solchen marktorientierten Moral können an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Hier geht es in erster Linie um die Verdeutlichung des Zusammenhanges von Ziel komplexen innerhalb einer Systematik von Schlüsselqualifikationen, in diesem Falle um den Zusammenhang von sachbezogen ökonomischer, sozialer und moralischer Kompetenz.

Mit der Feststellung, dass ein Zusammenhang zwischen Kompetenzen besteht und dass sich dieser in der konkreten lernenden Auseinandersetzung mit relevanten komplexen Lehr-Lern-Arrangements entfaltet, bleibt die Frage nach pädagogischen Aufbauprinzipien von Kompetenzentwicklung noch nicht beantwortet.

Auch die unter dem Etikett "Kompetenzentwicklung" vor allem in der betrieblichen Weiterbildung stark zunehmenden Veröffentlichungen lassen Auskünfte hierüber vielfach vermissen (Kompetenzentwicklung '96; '97). Die derzeitige kompetenzorientierte Wende stehe deutlich in der Tradition wirtschaftswissenschaftlicher und arbeitspsychologischer Konzeptionen, stellt Arnold kritisch fest. Der Kompetenzentwicklungsbegriff werde in diesem Sprachzusammenhang kaum als eine auf Identitätsentwicklung bezogene pädagogische Kategorie verwendet. So bleibe auch "die Frage einer erforderlichen bzw. möglichen Wertorientierung im Lernprozess" ungeklärt (Arnold 1997, S. 289 f.). [/S. 44:]

Ähnlich kritisch sehen Baethge/ Schiersmann das neue Weiterbildungs-Label "Kompetenzentwicklung": "Dieses Spiel mit Begriffen mag eine richtige Auswirkung der veränderten Anforderungen in Richtung stärkerer Selbstorganisation und Gestaltungsfähigkeiten beschreiben und es ist unbestritten, dass einer subjektbezogenen Gestaltung von Bildungsprozessen große Bedeutung ... zukommt. Es stellt sich dennoch die Frage, ob es klug ist, vorschnell den Begriff der Bildung über Bord zu werfen und ihn durch einen Begriff zu ersetzen, der eher einer (psychologischen, L. R.) Persönlichkeits- als einer Bildungstheorie zuzuordnen ist" (Baethge/ Schiersmann 1999, S. 19).